Rudolf StichHochschullehrer, Chirurg, Göttinger Bürger und Nationalsozialist. Personelle Kontinuitäten von Weimar bis in die 1960er Jahre in der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität und deren Folgen

„Villa Stich“: das ist der seit Jahrzehnten geläufige Begriff für das frisch renovierte Gebäude, in welches das Institut für Demokratieforschung im Oktober 2010 einzog. Benannt wurde es nach Rudolf Stich, dem Meister der Chirurgie, einem der wenigen Könner auf dem Gebiet der Gefäßnaht und Lehrer einer ganzen Chirurgengeneration. Stich war Ehrenbürger der Stadt Göttingen, Träger der Albrecht-von-Haller-Medaille und des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland. Diese Lebensgeschichte eines erfolgreichen Operateurs und geschätzten Hochschullehrers drängt sich einem oberflächlichen Betrachter auf, vor allem auch deshalb, weil sie seit 1945 systematisch so erzählt worden ist. Doch das Leben von Rudolf Stich, dem am 19. Juli 1875 geborenen Arztsohn, lässt sich auch anders referieren: Förderndes Mitglied“ der SS seit 1933, Mitglied der SA seit 1933, Mitglied der NSV seit 1934, Mitglied der NSDAP seit 1937, daher: ein „überzeugter Nationalsozialist“?
Rudolf Stich leitete von 1911 bis 1945 die Chirurgische Klinik, deren Mitarbeiter unter seiner Verantwortung auf Grundlage der nationalsozialistischen Gesetzgebung zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Zwangssterilisationen an Jungen und Männern durchführten. Und: Stich war, obwohl er die Altersgrenze längst überschritten hatte, von 1939 bis 1945 Dekan der Medizinischen Fakultät.
Allein diese Aufzählung wirft viele Fragen auf und es wurde bereits im frühen Stadium der Nachforschungen deutlich: Eine Plakette zum Lobe von Rudolf Stich an den Mauern eines Instituts zur wissenschaftlichen Erforschung demokratischer Gesellschaftlichkeit – das konnte nicht ernsthaft in gleichgültiger Harmonie koexistieren. Deswegen wird nun genauer hingeschaut: Gemeinsam mit dem Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte (Prof. Dr. Dirk Schumann) und der Abteilung Ethik und Geschichte der Medizin (Prof. Dr. Claudia Wiesemann) sollen unter Berücksichtigung bisher unerschlossener Quellen die Biographie von Rudolf Stich, ebenso wie die personellen Kontinuitäten und Netzwerke an der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität untersucht werden.

Mitarbeiter:innen:

  • Dr. Stine Marg, Institut für Demokratieforschung
  • Dr. Katharina Trittel, Institut für Demokratieforschung
  • Bonnie Pülm, Institut für Demokratieforschung
  • Nils Hansson, Institut für Ethik und Geschichte der Universitätsmedizin
  • Christian Wachter, Institut für Mittlere und Neuere Geschichte