Zivilgesellschaft und Partizipationsdemokratie – ein Albtraum?

[präsentiert]: Soeben ist im Rowohlt-Verlag die Studie unseres Instituts zu den Bürgerprotesten erschienen. Franz Walter hat zudem in der neuen Ausgabe unserer Zeitschrift INDES über einige Probleme solcher zivilgesellschaftlichen Äußerungsformen reflektiert.

In den 1970er Jahren war in den Essays akademischer Neo-Marxisten viel und gern von den „Legitimationsproblemen des bürgerlichen Staates und der Demokratie“ die Rede. Dabei stand das Gros der Wahlbürger seinerzeit noch keineswegs im tiefen Groll den Institutionen der repräsentativen Demokratie gegenüber. In jüngerer Zeit indessen hat sich die Sichtweise der Deutschen weitreichend verschoben. Das Ansehen besonders der Parteien, Parlamentarier und Regenten ist mit Aplomb zurückgegangen. So existiert das Problem, das vor vierzig Jahren noch keines war, derzeit tatsächlich. Zumal: Moderne Demokratien sind, gleichsam in paradoxer Reaktion auf gesellschaftliche Vielfachdifferenzierung und partizipatorische Transparenz- und Beteiligungsverlangen, mehr und mehr zu Verhandlungsexekutiven in verschlossenen Räumen und informellen Strukturen minoritärer Runden von Entscheidungsträgern mutiert. Die Vereinbarungen der politischen Klassen mit anderen potenten Akteuren in Ökonomie und Gesellschaft vollziehen sich zunehmend jenseits parlamentarischer Foren und ihrer Einwirkungsmöglichkeiten.

Dies gilt erst recht für die Ebene der Europäischen Union.[1] Dort arrangieren sich die europäischen Eliten der Finanzmärkte und politischen Top-Etagen im Arkanum eine Politik, die sie hernach ultimativ – siehe Merkels apodiktisches Diktum „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“ – als nicht erörterungsfähig gegen Kritik immunisieren. Mit ihren für Nichteingeweihte kaum zu entschlüsselnden Fachkürzeln wie ESM oder EFSF halten diese Herrschaftszirkel das Volk schon semantisch auf Abstand. Selbst die Prämissen und Resultate der Aushandlungen werden hier kaum mehr in einer agonalen Debatte der parlamentarischen Arena ausgetragen und dem Säurebad kontroverser Diskussionen ausgesetzt. Die demokratische Souveränität ist fortdelegiert und damit teilsuspendiert, auch wenn das Bundesverfassungsgericht im Urteil über den Europäischen Stabilitätsmechanismus die Rechte des Bundestages hervorgehoben hat. Die „Nehmerländer“ im Eurodrama dieser Monate stehen fiskalisch und im Design der Sozialpolitik unter Kuratel von Kontrolleuren der EU-Kommissionen. Aber auch die legislativen Institute in den „Geberländern“ haben große Teile ihrer autonomen Entscheidungsräume abgeben müssen. Sie haben sanktionierend nachzuvollziehen, was transnationale Eliten – die mit immer größerer Raffinesse und mehr rhetorischen Nebelkerzen an institutionellen Strukturen und finanzpolitischen Mechanismen modellieren, welche sich der Prüfbarkeit durch die Wählerschaft entziehen – zuvor fixieren.

Die Parteien in Deutschland scheinen sich dem nicht zu widersetzen. Man kann seit Jahren Parteitage erleben, auf denen „Europa“ als eines unter mehreren Themen auf der Tagesordnung steht. Sobald der Punkt aufgerufen wird, erheben sich etliche Delegierte – nicht anders als die journalistischen Beobachter – von ihren Sitzen, um in der Lounge Kaffee und Brötchen zu sich zu nehmen. Das Gros der nationalen politischen Mandatsträger hält sich vom Terrain transnationaler Entscheidungen längst fern, akzeptiert nahezu fatalistisch die eigene Einflusslosigkeit auf diesem Gelände. Statt der derzeit in präsidialen Reden und Akademieansprachen viel belobigten Partizipation scheint vielmehr Depolitisierung das politische Stil- und Herrschaftsmittel der Gegenwart zu sein.

Erschöpfte Akteure und Blühdorns düsteres Orakel

Dabei: Bürgerbeteiligung, zivilgesellschaftliches Engagement, Mitsprache – all diese Begriffe und Losungen, die primär in der sozial-liberalen Reformära der frühen 1970er Jahre generationsprägend zirkulierten, erleben zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert eine Art Revival.[2] Aus alledem zieht das politische System schließlich auch Nutzen. Hinter dem Engagement von Bürgern stehen Wissen, Information, Ideen, Einfälle und beträchtliche Energien, derer sich der Staat bedienen kann.[3] Überdies: Das institutionalisierte Gemeinwesen kann sparen, wenn emsige Bürger die Löcher stopfen, die aufgrund von Streichungen bei den Haushaltsplänen durch die öffentliche Hand gerissen worden sind. Doch auch der dezidierte, oft bedrohlich erscheinende Bürgerprotest kann dem System, ob intendiert oder nicht, wertvolle Dienste leisten. Schon in den 1970er Jahren schauten akademische Marxisten misstrauisch auf die diversen Bürgeriniativen. Die radikale Linke wertete deren Treiben als „systemstabilisierend“, ordnete ihnen süffisant die Funktion eines „Frühwarnsignals“ für die ansonsten ahnungslos gebliebenen Herrschenden zu, welche dann den Unmut durch reformistische Palliativmittel pazifizieren und letztendlich unschädlich machen konnten. Rundum falsch war diese Interpretation nicht. Die von konservativen Professoren zeitgleich befürchtete „Unregierbarkeit“[4] der modernen, fragmentierten demokratischen Gesellschaften trat jedenfalls nicht ein, trotz zahlreicher Protestwellen mit sozialen und kulturellen Konflikten gerade in den Jahren des Sozialliberalismus nach der Ära von Willy Brandt. Die gesellschaftlichen Eruptionen dieser Zeit trugen vielmehr dazu bei, dass sich das Parteiensystem erweiterte und dadurch die neuen rebellischen Kohorten und Bewegungen integrativ domestizierte, auch dass sich die politische Elite ergänzte und somit Repräsentationslücken schloss, schließlich dass sich der westdeutsche Kapitalismus durch ökologische Anstöße modernisierte und Wettbewerbsvorteile in den Umwelttechnologien auf dem Weltmarkt errang. Insofern wirken Partizipationsströme wie Fermente für rechtzeitige systemimmanente Innovation, die andernfalls zu spät hätten kommen können.

Andererseits: Protest und Partizipation erfordern ihren physischen und psychischen Tribut. Man hält nur eine Zeitlang die eitlen Auseinandersetzungen und artifiziellen Aufgeregtheiten des aktiven Lebens aus, braucht dann die kontemplative Ruhe und das meditative Schweigen, wenngleich öffentlicher Aktivismus nicht ganz wenige, die ihn betreiben, in Sucht und Abhängigkeit geraten lassen.[5] In der Zeit, die dem Engagement folgt, sind die erschöpften Akteure froh über Institutionen und Repräsentativorgane, die entlasten. Das konnte man seit Mitte der 1980er Jahre gut beobachten. Die junge Partizipationsgeneration der sozialliberalen Jahre nahm während der Kohl-Ära eine Auszeit im kollektiven Engagement, da sie, in der Rushhour des Lebens angekommen, durch Beschleunigung und Multiplikation beruflich-privater Anforderungen keine freien Energien für zivilgesellschaftliche Intervention mehr besaß. Die viel beklagte Entpolitisierung der Kohl-Jahre war keineswegs allein eine gezielt politisch-kulturelle Restauration der regierenden Konservativen, sie wurde auch von denen, die sich weiterhin kritisch gaben, stillschweigend goutiert.[6]

Darauf hat in den vergangenen Jahren Ingolfur Blühdorn, Politologe an der englischen Universität Bath, wieder und wieder hingewiesen. Blühdorn sieht im Rückzug aus der politischen Partizipation allerdings keine temporäre Erscheinung einer im Lebenszyklus vorübergehend erschöpften Generation. Der Politologe aus Bath geht erheblich weiter, radikalisiert gewissermaßen das Paradigma der „Postdemokratie“. Blühdorn bezweifelt, dass die Demokratie jemals eine adäquate Ordnung für moderne Gesellschaften war; und er glaubt nicht daran, dass die Demokratie noch ein attraktives Modell für die Mehrheit der Bürger im 21. Jahrhundert bleiben wird. Schlachtrufe der Art von „¡Democracia real YA!“ oder Losungen nach „mehr Demokratie wagen“ erscheinen ihm entweder hohl oder gar abschreckend. Das Gros der Bürger habe in den hochkomplexen Gesellschaften genug mit dem Management der mittlerweile vielfältigsten Probleme und Aufgaben des Alltags zu tun, so dass zusätzliche Partizipationsanstrengungen im öffentlichen Raum für die überforderten Subjekte nicht mehr zu verkraften seien. Nicht zuletzt deshalb hätten die ehemaligen postmaterialistischen Mittelschichtsbürger so freudig die Metapher vom „politischen Konsum“ aufgegriffen, um damit ohne weitere Engagementleistungen das samstägliche Shopping zum zeitgemäßen Ausdruck weltverbessernder politischer Aktivität veredeln zu können.[7] Blühdorn sieht in einem solchen umdefinierten Partizipations- und Politikverständnis – von ihm als „simulative Demokratie“ bezeichnet – gerade auch unter ökologischen Gesichtspunkten eine ernsthafte Gefahr für die Zukunft der Gesellschaften. Würden Bürger in einer im Grunde „reaktionär gewordenen Demokratie“ von Konsumentengesellschaften zu zusätzlichen Beteiligungsansprüchen ermuntert werden, dann könne dies nur auf Kosten einer ressourcenschonenden Nachhaltigkeit gehen. Die innere Dynamik von Demokratie und Partizipation läuft Blühdorn zufolge auf Erweiterung hinaus, auf einen Zuwachs individueller (Konsumenten-)Autonomie und eine Anhebung des materiellen Lebensniveaus für organisations- und forderungsstarke Gruppen. Gerade diese Art von Emanzipation aber betrachtet er als besondere Gefahr. Denn dadurch steht zu befürchten, so Blühdorns düsteres Orakel, „dass gerade unter den Bedingungen fortgeschrittener Gesellschaften ‚mehr Demokratie‘ vor allem mehr Naturzerstörung und soziale Ausgrenzung bedeuten könnte“.[8] Jahrzehnte vor Blühdorn hatte bereits ein liberal-konservativer Intellektueller zu bedenken gegeben: „Demokratisierung bedeutet im Regelfall nicht Demokratie, sondern Oligarchie. Es sollen ein paar neue Gremien eingerichtet, ein paar neue Räte besetzt werden.“[9] Und Herfried Münkler, ein sozial-liberaler Denker und Politologe unserer Tage, urteilt gleichermaßen skeptisch, dass „das Demokratisierungsprojekt der Demokratie eher geschadet als genutzt“[10] hat. „Albtraum Partizipation“?[11]

Beteiligung verkompliziert, Selbstwirksamkeit aktiviert

Gleichviel. Der Partizipationsbedarf jedenfalls ist, auch wegen der gewachsenen Zahl an zeitreichen, gut qualifizierten „jungen Alten“, gewiss zuletzt eher gestiegen. Schon und gerade Bundeskanzler Gerhard Schröder und andere sozialdemokratische Regierungschefs des sogenannten „Dritten Weges“ reagierten darauf mit einer bewussten Strategie der Depolitisierung[12], gleichsam als Technik moderner Gouvernementalität, um durch den Imperativ der „Alternativlosigkeit“ Gegenpositionen zu delegitimieren. In der Tat: Der unzweifelhaft gestiegene Wunsch nach vielfachen Beteiligungen der Bürger an politischen Vorhaben verkompliziert den Entscheidungsprozess. Das wiederum erzürnt das Gros der Bürger, deren Ansprüche auf ein rasches, konzises und effektives Regierungshandeln ebenfalls angestiegen sind, was in der Vetogruppendemokratie, zu der der Partizipationsimpetus unweigerlich führt, schlechterdings nicht zu realisieren ist. Der Bürger, der es in seiner Rolle als Konsument gewohnt ist, dass sein je individuelles Bedürfnis prompt befriedigt wird, reagiert politisch verdrossen, da die Politik den Bürgern nicht geben kann, was diese als Konsumenten verlangen und als Partizipanten zugleich verunmöglichen. Auch dürfte schwer zu leugnen sein, dass sich durch partizipatorischen Impetus im Resultat die rechtlichen Regelungen ausweiten, was in der Folge zu jener Überregelung des öffentlichen Lebens führt, welche die Bürger dann gegen Staat und Politik in Wallung bringen.[13] Zusammen: Je heterogener die Bedürfnisstruktur von Gesellschaften ohne homogene sozialmoralische Vergemeinschaftung ausfällt, desto schwieriger gestaltet sich der Aushandlungsakt von Politik, die nur noch mühselig und inkohärent aggregieren kann, was die segmentierte Gesellschaft an unterschiedlichsten Begehrlichkeiten an sie heranträgt und ihr abverlangt.[14]

Aber das goldene Zeitalter fest strukturierter Weltanschauungslager ist nun mal passé. Doch was bedeutet das? Bietet das Grund zur Besorgnis oder vielmehr Anlass zur Erleichterung, da die früheren Lagerkulturen einen unzweifelhaft anti-individuellen Disziplinierungscharakter besaßen? Unter Interpreten überragt – und sicher nicht ohne Recht – die positive Interpretation des gesellschaftlichen Dekompositionsprozesses. Man goutiert die sonnigen Seiten der Individualisierung, lebt die Opulenz der Optionen, schätzt die Möglichkeit des Auszugs aus beengenden, kontrollierenden, einhegenden Kollektive. Das ist fraglos attraktiv – jedenfalls: für diejenigen, die über Bildung, Mobilität, Selbstbewusstsein und Kreativität verfügen.

Nur: In den vom gelungenen Fortschritt entkoppelten Teilen der Gesellschaft bedeutet der Abschied von den bergenden Lagern in der Regel nicht das glückliche Entree in ein Reich neuer Möglichkeiten und Chancen. Hier geht die Erosion der sozialmoralischen Vergemeinschaftungen einher mit der Wahrnehmung eigener Überflüssigkeit. Die gegenwärtig gepriesene Zivilgesellschaft bietet ihnen wenig Hoffnungen und Aussichten. Gerade die modernen Partizipationsinitiativen liefern keine Lösung des Ungleichheitsproblems, laufen vielmehr noch stärker auf eine Art Zensusdemokratie hinaus. Es behaupten sich im zivilgesellschaftlichen Engagement im Wesentlichen diejenigen, die über besonderes Kapital verfügen, die Interessen wirksam zu organisieren vermögen, die in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, die Bündnispartner aufgrund des eigenen gesellschaftlichen Gewichts gezielt mobilisieren können. Wer hingegen über dergleichen rhetorische, organisatorische, kommunikative, natürlich auch materielle Quellen nicht verfügt, steht außerhalb der Teilhabe- und Mitwirkungsgesellschaft.[15] Das Unbehagen darüber hält sich erkennbar in Grenzen, obwohl im Akt der Partizipation und des aktiven Protests gar ein Treibmittel der Ungleichheitsverschärfung steckt. Eine wesentliche Quelle für zivilgesellschaftliches Engagement ist die biografisch mehrfach gestützte Erfahrung von Selbstwirksamkeit.[16] Personen, die bereits von Kindheit an die Wirkmächtigkeit ihres Tuns erleben durften, Zuspruch fanden, Lob ernteten, verfügen über feste Polster an Selbstvertrauen. In den neuen Unterschichten dagegen muten die biographischen Schlüsselerlebnisse anders an: In der Bilanz überwiegen Abbrüche, Risse, Zurückweisungen, Verletzungen, nicht die psychisch stärkenden Augenblicke des Gelingens und des Erfolgs.

Allein deshalb bevölkern Mittelschichtzugehörige mit akademischen Titeln und Abschlüssen die Bürgerbegehren, aber kaum Personen aus dem Prekariat.[17] Und im kollektiven Engagement setzt sich Kompetenzerweiterung bei denjenigen, die bereits reichlich mit Wissen, Informationen, oratorischen Fähigkeiten versorgt sind, nochmals fort. Denn bei der Organisation von gemeinschaftlichem Engagement sammeln sich ebenfalls Fertigkeiten an. Die Aktiven müssen in der Lage sein, Organisationsstrukturen aufzubauen, Medienkontakte zu unterhalten, mit sattelfesten Begründungen ihres Anliegens bei Behörden Druck und Eindruck zu machen, in den Details der Rechtsprechung kundig zu wirken.

Man kann auf diese Weise zum Professionellen des gesellschaftlichen Aktivismus avancieren. Immerhin werden derzeit erste Stimmen auch im zivilgesellschaftlichen Spektrum selbst laut, die davor warnen, dass sich eine elitäre Binnengruppe von expert citizens herausschält, welche durch ihre hohe Professionalität im Umgang mit Bürokratien, Verbänden, Parteiapparaten und Medienrepräsentanten gewissermaßen einen Partizipationslobbyismus begründet, um zwischen den Wahltagen und trotz widriger parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse die exklusiven Interessen der sie tragenden, zuwendungsfähigen Bürgertummilieus durchzusetzen. In einer solchen Zivilgesellschaft geht es nicht anders zu als in Wettbewerbsgesellschaften generell: Diejenigen mit hohem Ressourcenpotenzial verknüpfen ihre Interessen, nutzen die so kumulierte Marktmacht, erweitern schließlich im Prozess und Ergebnis der zivilgesellschaftlichen Konflikte Zug um Zug ihre Positionen und Einflüsse. Die anderen, jene ohne dieses komfortable Depot an Kapital, Kompetenz und Kontakten, halten nicht mit, geraten noch stärker in die gesellschaftliche Defensive.

Etwas seltsam ist daher schon, dass gerade in Deutschland „Partizipation besonders hemmungslos verklärt“[18] wird. Denn gerade die neuere deutsche Gesellschaft gibt vor allem für die Jahre von 1925 bis 1932 einige Hinweise darauf, dass „Organisation und Aktivierung“[19] von Bürgervereinigungen jenseits von Staat und Parteienwesen keineswegs, wie es in der Tradition von Alexis de Tocqueville bis heute bevorzugt unterstellt wird, zur Stabilisierung von Demokratie und Zivilität beitragen müssen. Ein starkes und dynamisches Assoziationswesen im öffentlichen Raum kann, wie die zweite Phase der Weimarer Republik belegte, das genaue Gegenteil bewirken. Die Zivilgesellschaft, also der von Bürgern selbst organisierte Raum zwischen Staat und Individuen, ist nicht allein ein probater Dünger für die lobenswerten Tugenden der Liberalität, Toleranz und Humanität. In der Zivilgesellschaft nisten ebenso pathologische Ängste und Aggressionen, soziale und ethnische Ausgrenzung und Verdrängungsbemühungen, Zynismus und Verachtung gegenüber dem demokratischen Prozess.[20] Die Verbände der politisch extrem Rechten standen und stehen nicht außerhalb der Zivilgesellschaft, sondern füllen deren dunkle, dreckige Seiten. Die militante Polarisierung und dogmatische Entfesselung der zivilgesellschaftlichen Destruktionskräfte in den 1920er und frühen 1930er Jahren hat eins gezeigt: Eine in konfrontativen Weltanschauungen und Eigenwelten fragmentierte, überdies agitatorisch aufgeheizte Zivilgesellschaft, die schwachen staatlichen Institutionen und Repräsentativorganen gegenübersteht, kann parlamentarisch verfasste Demokratien nicht festigen, sondern nur unterminieren.[21]

Ruhepunkte, Oasen, Nischen, um auszuhalten

Nun sind die politischen Institutionen in der bundesdeutschen Gesellschaft natürlich weit stabiler als in jenen unglücklichen Jahren der Weimarer Republik. Auch hat sich gerade die politische Kultur des mittleren deutschen Bürgertums seit den 1960er Jahren kontinuierlich verändert. Eine reaktionäre Zivilgesellschaft lauert nicht. Da Mitwirkung und Selbstverantwortung seit Jahren von den Bürgern in allen möglichen Sektoren ihres Lebens gezielt abverlangt werden, ist ein Zuwachs an Partizipation in der Politik schwerlich zu desavouieren. Die Zahl der Bundesbürger, die über gefestigtes Selbstbewusstsein und beträchtliche Wissensbestände verfügen, ist so stark gewachsen, dass eine unhinterfragte Subordination gegenüber der Autorität von Politikern und Ministerialbeamten nicht mehr zu erwarten ist. Schließlich haben sich Umfang, Bedeutung und Dauer von Großprojekten in einem solchen Maß potenziert, dass ein einmaliges, durchaus ordnungsgemäß verlaufendes Verfahren nicht mehr reicht, um Legitimation dafür zu sichern.[22] Dehnt sich allein die Planungs- und Bauzeit auf zehn bis zwanzig Jahre aus, sind die Eingriffe gigantischer Bauunternehmen für die Lebensformen der Bürger tief, von Dauer, zumindest kaum zu korrigieren, dann haben nachgewachsene Alterskohorten, die wegen mangelnder Mündigkeit zu Beginn des Verfahrens als Wähler nicht einmal indirekt in die Willensbildung einbezogen waren, einiges Recht, vor neuen Hintergründen neue Einwände zu formulieren und sich dem Vollzug der Planungsschritte in den Weg zu stellen.

Die Reversibilität von Entscheidungen gehört bekanntlich zum innersten Kern demokratischer Legitimation, die sich im 21. Jahrhundert stärker als zuvor durch eine fortlaufende Begründung und Erörterung ihrer selbst ausweisen muss.[23]  Man mag das eine „doppelte Demokratie“[24] nennen, um auf die Ergänzung der parlamentarischen Methode durch direktdemokratische Elemente der Willensäußerung zu drängen; man kann auch für eine „zugleich responsive und partizipatorische Demokratie“[25] plädieren oder die „Demokratisierung der repräsentativen Demokratie“[26] postulieren. Vom basisdemokratischen Furor werden all diese Vorschläge nicht angefeuert. Aber ihre Autoren verschließen nicht die Augen davor, dass das erreichte Partizipationsniveau in der Gesellschaft mehr und mehr in eine Spannung mit der Beschränkung des Bürgers im parlamentarischen Feld auf den Wahlakt gerät, dass also eine neue Balance gefunden werden muss, für die im Entstehungsakt des Parlamentarismus in der Frühmoderne noch keine Notwendigkeit existierte. Bemerkenswert ist hier die Begründung, die der Politikwissenschaftler Herfried Münkler für eine neue Varianz demokratischer Artikulation gibt. Auch ihn beunruhigt, dass in der Gesellschaft neben den schon länger bekannten „Verdrossenen“ (meist der unteren Schichten) jetzt auch noch die „Empörten“ (überwiegend aus der Mitte) hinzugekommen sind. Deren „Problem ist, dass sie nicht wirklich wissen, was und wie etwas anders gemacht werden kann. Sie drücken Empörung aus, ohne konkrete Alternativen ins Spiel bringen zu können. Der Zerfall des Volkes in Verdrossene auf der einen und Empörte auf der anderen Seite ist für die Demokratie gefährlich. Hier können direktdemokratische Verfahren hilfreich sein, wenn sie die Verdrossenen aus ihrer Lethargie holen und die Empörten zwingen, Alternativen zu formulieren und dafür Mehrheiten zu gewinnen.“[27]

Der Mangel an überzeugenden Alternativkonzepten wird den Protestgruppen häufig vorgeworfen. Aber oft geht es den demonstrierenden Bürgern gar nicht um eine große umstürzlerische Alternative, um einen weiteren hochmodernen Zukunftsentwurf. Ihnen ist die Gegenwart schon viel zu sehr von Zukunft durchdrungen, da seit Jahren in immer kürzeren Abständen Innovationsbedarf angemeldet und Veränderungen in Permanenz apodiktisch – um der Zukunftsfähigkeit willen – ausgerufen werden. Die Normen dieser „Zukunftsfähigkeit“ der Erwerbsgesellschaft – jederzeit professionelles Verhalten, flexible Einpassungsbereitschaft, elastische Mobilitätsfähigkeit – haben die früher abgetrennte Sphäre des Berufs verlassen und den gesamten Alltag besonders der Mitte vereinnahmt. Gerade deshalb benötigen die Betroffenen Ruhepunkte, Oasen, Nischen, um auszuhalten und zu ertragen, was der Primat der Ökonomie täglich den bürgerlichen Einzelnen abverlangt. Die Moderne hat stets Räume des Nichtmodernen gebraucht, in denen sich sozialmoralische Mentalitäten, kulturelle Eigenarten, eigenwillige Zeitstrukturen konservierten, um Orte der Kompensation, auch Stätten des Widerstands gegenüber dem sonst ungehemmt wuchernden Destruktionstrieb des Kapitalismus zu besetzen. Diese vormodernen Räume, welche die kapitalistischen Marktgesellschaften durch Begrenzung stützten, die aber auch die Erinnerung an Lebensweisen und Sinnmuster jenseits davon bewahrten, Nester des Widerstands mit Tagträumen des „ganz Anderen“ bildeten, sind rar geworden.

Es kann gewiss kein Zufall sein, dass viele kluge Zeitgenossen derzeit resigniert über die „Ideenverlassenheit“, das „intellektuelle Vakuum“ klagen. Denn viele traditionelle Glaubenssysteme und Werteorientierungen, denen der Dünger der nunmehr kolonialisierten Biotope fehlt, wanken. Aber neue Baupläne für Sinn und Gesellschaft zirkulieren kaum in den öffentlichen Diskursen. Aus Studien wissen wir, dass Menschen in historischen Situationen, wie der gegenwärtigen, in denen sich gleich mehrere gesellschaftliche Basisprobleme von geschichtlicher Tragweite überlappen, darum bemüht sind, die neuen Fragen, die mit den alten Antworten nicht zu beantworten sind, zunächst zu ignorieren, um sich nicht dem Leidensdruck von Enttäuschungen und Orientierungserschütterung auszusetzen. Das gilt auch für die gegenwärtigen Partizipationsbewegungen, die bezeichnenderweise überwiegend einen betont reaktiven Zug aufweisen. Die Frustrationshäufung muss erst über ein verträgliches Limit hinausgegangen sein, bis neue Einsichten durchbrechen und zur Routine geronnene Verhaltensweisen sich ändern. Dann allerdings geschieht das nicht selten heftig und grundsätzlich. Dann wäre wohl auch nicht mehr lediglich von einer bloß simulativen Partizipation zu sprechen.

Prof. Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Er gibt die Zeitschrift INDES heraus.


[1] Hierzu Jens Beckert u. Wolfgang Streeck, Die Fiskalkrise und die Einheit Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 4/2012, S. 7–17.

[2] Hierzu im Folgenden zum Teil Überlegungen und Untersuchungsergebnisse, die im Februar 2013 von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Göttinger Instituts für Demokratieforschung ausführlich als BP-Gesellschaftsstudie in einer Publikation des Rowohlt-Verlages unter dem Titel „Die neue Macht der Bürger. Was motiviert Protestbewegungen?“ präsentiert werden.

[3] Vgl. Dieter Rucht, Bürgerschaftliches Engagement in sozialen Bewegungen und politischen Kampagnen, in: Christiane Toyka-Seid, Bürgergesellschaftliches Engagement in Parteien und Bewegungen, Opladen 2003, S. 17–155, hier S. 18.

[4] Siehe Ulrich Matz, Der überforderte Staat: Zur Problematik der heute wirksamen Staatszielvorstellungen, in: Wilhelm Hennis u.a.  (Hg.), Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung, Stuttgart 1977, S. 82–102.

[5] Vgl. Albert Hirschmann, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Allgemeinwohl, Frankfurt a. M. 1984, S. 110 f.

[6] Vgl. Ingolfur Blühdorn, The sustainability of democracy. On limits to growth, the post-democratic turn and reactionary democrats, online einsehbar unter http://people.bath.ac.uk/mlsib/public%20access/Bluehdorn_-_The_Sustainability_of_Democracy_-_Eurozine.pdf [zuletzt eingesehen am 15.10.2012].

[7] Siehe Ingolfur Blühdorn, Demokratie als Selbstillusion, in: Die Gazette, H. 30/2011, S. 26–30, hier S. 28.

[8] Ingolfur Blühdorn, Zur Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Nachdenken über die Grenzen des demokratischen Optimismus, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär, H. 14/2011, S. 19–28, hier S. 26.

[9] Johannes Gross, Wie das Wunder in die Jahre kam, Düsseldorf 1994, S. 17.

[10] Herfried Münkler, Wagnis Demokratisierung. Ob die Hoffnung zum Debakel wird?, in: Theaterheute, März 2010, S. 35–39, hier S. 38.

[11] Markus Miessen, Albtraum Partizipation, Berlin 2012.

[12] Vgl. Peter Burnham, New Labour and the politics of depoliticisation, in: British Journal of Politics and International Relations, Jg. 3 (2001) H. 2, 2001, S. 127–149, Jim Buller u. Mathew Flinders, The Domestic Origins of Depoliticisation in the Area of British Economic Policy, in: British Journal of Politics and International Relation, Jg. 7 (2005) H. 4, S. 526–543.

[13] Hierzu auch Christoph Möllers, Der vermisste Leviathan. Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2008, S. 69.

[14] Claudia Ritzi u. Gary S. Schaal, Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 2–3/2010, S. 9–15.

[15] Siehe hierzu Johanna Klatt, Individualisierte Zivilgesellschaft und die Beteiligung sozial Benachteiligter, in: betrifft: Bürgergesellschaft 37, Dezember 2011, online einsehbar unter http://www.fes.de/buergergesellschaft/documents/BB-37IndividualisierteZivilgesellschaft.pdf [zuletzt eingesehen am 15.10.2012].

[16] Hierzu Albert Bandura, Perceived Self-Efficacy in Cognitive Development and Functioning, in: Educational Psychologist, Jg. 28 (1993) H. 2, S. 117–148.

[17] Siehe Peter van Aelst u. Stefaan Walgrave, Who is that (wo)man in the street? From the normalization of protest to the normalization of the protester, in: European Journal of Political Research, Jg. 39 (2001) H. 4, S. 461–486, hier S. 462.

[18] Miessen, S. 7.

[19] Peter Fritzsche, Wie aus Deutschen Nazis wurde, Zürich/München 1999, S. 46.

[20] Hierzu sehr überzeugend Gian Enrico Rusconi, Berlusconismus ohne Ende?, in: Ders. u.a. (Hg.), Berlusconi an der Macht, München 2010, S. 151–161, hier S. 160.

[21] Vgl. sehr eindrücklich Sheri Berman, Civil Society of the Weimar Republic, in: World Politics: A Quarterly Journal of International Relations, Jg. 49 (1997) H. 3, S. 401–429, hier S. 419.

[22] Hierzu ebenfalls Frank Brettschneider, Kommunikation und Meinungsbildung bei Großprojekten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H.  44–45/2011, S. 40–47, hier S. 42.

[23] Siehe auch Horst Dreier, Integration durch Verfassung? Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: Friedrich Hufen (Hg.), Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, Baden-Baden 2008, S. 70–96, hier S. 94.

[24] Andreas Gross, Heilung durch direkte Demokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.12.2010.

[25] Hans Vorländer, Spiel ohne Bürger, in:  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.07.2011.

[26] François Miquet-Marty, „Les oubliés de la démocratie“, Paris 2011, S. 165 u. S. 168.

[27] Herfried Münkler, Die Verdrossenen und die Empörten, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.04.2012.