[analysiert]: Behrouz Khosrozadeh über den Ausgang der Doppelwahl im Iran
Am 26. Februar 2016 haben im Iran die Parlaments- und Expertenratswahlen stattgefunden. Von den etwa 55 Millionen stimmberechtigten Iranern haben daran 62 Prozent teilgenommen. Die Wahlen standen ganz im Zeichen einer rigorosen Verweigerung der Zulassung reformorientierter Kandidaten. Dennoch sind den Reformern einige beachtliche Wahlerfolge gegenüber den islamistischen Kräften gelungen, die Ausgangspunkte für weitere konstruktive Entwicklungen im Iran eröffnen.
Dem nunmehr neu gewählten Expertenrat obliegt im politischen System Irans die Aufgabe der Wahl und Abwahl des obersten Revolutionsführers, als welcher seit 1989 Ayatollah Khamenei fungiert. Von den 166 zugelassenen Kandidaten (nur männlichen Geistlichen) sind 88 in den Rat eingezogen. Die Reformer, die sich bei dem Zulassungsverfahren immens benachteiligt fühlten, hatten den Plan verfolgt, wenigstens die Khamenei sehr nahestehenden Kandidaten der Islamisten zu schwächen. Damit die prominenten Ayatollahs verlieren, sollten die Wähler für weniger radikale und weniger bekannte Konkurrenten votieren.
Diese Strategie ist zumindest in der Hauptstadt Teheran voll aufgegangen. Hier ist den Reformern gelungen, aus der staatlich gelenkten Wahl eine Protestwahl zu machen und Hardliner wie Konservative aus dem Rat zu verdrängen. Da es sich dabei um Khamenei-Getreue handelte, drückte diese Wahlentscheidung auch Protest gegen Khamenei aus. Von der 16-köpfigen Teheraner Reformerliste gelang 15 Kandidaten der Einzug. Rafsandschani und Präsident Rohani belegten die Plätze eins und drei. Die Niederlage der zwei Hardliner Ayatollah Mohammad Yazdi (gegenwärtig Vorsitzender des Expertenrates) und Ayatollah Mesbah Yazdi (geistiger Vaters der radikalen Parlamentsfraktion Dschebheje Pajdarije Enqelab/Front des Fortbestands der Revolution) war eine sensationelle Überraschung.
Bei der Wahl zum Parlament hat die Reformer-Liste in Teheran die Wahlen gewonnen. Völlig wider Erwarten schaffte Gholam-Ali Hadad-Adel, der Ex-Parlamentspräsident und Vater von Khameneis Schwiegertochter, der die Liste der Konservativen anführte, den Einzug nicht. Allerdings sind weniger als ein Drittel der Kandidaten auf der Reformerliste tatsächliche Reformer, von denen wiederum die meisten Hinterbänkler sind. Die übrigen Zweidrittel bestehen aus unabhängigen Kandidaten und kritisch-moderaten Konservativen wie einige dem Parlamentspräsidenten Ali Laridschani nahestehende Politiker von der Vereinigten Front der Prinzipientreuen oder Ali Motahari von Sedaje Mellat (Stimme des Volks). Eine Tatsache, die dem Umstand geschuldet ist, dass der Wächterrat die Zulassung von Reformkandidaten abgelehnt hat.
Im 285 Sitze umfassenden Parlament (die übrigen fünf der insgesamt 290 gingen an die religiösen Minderheiten) erlangten die Reformer 83, die Konservativen 78 und die unabhängigen Kandidaten sechzig Sitze. Die übrigen 64 Sitze werden im zweiten Wahlgang ermittelt. Noch ist unklar, wie sich die unabhängigen Kandidaten im Parlament verhalten. Einiges deutet darauf hin, dass das künftige Parlament regierungsfreundlich sein wird.
Was heißt das alles nun für die künftigen politischen Verhältnisse des Landes? Der Expertenrat wird wohl auch weiterhin Khamenei loyal gesonnen sein. Doch die angeschlagene Gesundheit des 76-järigen, der möglicherweise die volle achtjährige Legislaturperiode des Expertenrates nicht überleben wird, könnte Veränderungen ermöglichen. Rafsandschanis aufsehenerregender Vorstoß, den jungen moderaten Geistlichen Hassan Khomeini – den Enkel von Ayatollah Khomeini – als möglichen Nachfolger von Khamenei in den Rat zu hieven, ist aufgrund der Zurückweisung durch den Wächterrat – u.a. zuständig für die Überprüfung der Zulassung von Kandidaten – gescheitert. Dem grandiosen Erfolg in Teheran steht der Wahlgewinn vieler konservativer Islamisten in den Städten gegenüber.
Rafsandschani und Rohani könnten jedoch durch ihren Einfluss und ihr Charisma eine starke Minderheitsfraktion im Expertenrat bilden, mit der sie auf den gesamten Expertenrat Einfluss nehmen könnten, sobald über die Nachfolge Khameneis verhandelt werden muss. Der 81-jährige Rafsandschani selbst scheint für eine Nachfolge mittlerweile jedoch zu alt. Der 67-jährige Rohani, der gegenwärtig auf einer Popularitätswolke schwebt, hätte hingegen Chancen. Das wird aber davon abhängen, wie stark die Gegenseite, das konservative Klerus-Netz mit seinen zahlreichen Sicherheitsapparaten, den zivilen Schlägertruppen und v.a. den militärisch und ökonomisch mächtigen und furchteinflößenden Revolutionswächtern, bleibt.
Das Iranische Parlament (Madschlis) hat für die Außen- und Innenpolitik de facto eine geringe Bedeutung. Entscheidungsträger ist Ayatollah Khamenei, dem laut Verfassung obliegt, die Richtlinien der Außenpolitik zu bestimmen. Er kann Parlamentsbeschlüsse mit dem sogenannten „Hokm-e Hukumati“ („Khamenei-Erlass“) annullieren. Dennoch würde ein Madschlis, das mehrheitlich regierungsfreundlich ist, Rohanis Kabinett zumindest vergleichsweise wenig Ärger bereiten und ihm nicht durch sinnlose Debatten und die Androhung eines Misstrauensvotums die Zeit stehlen oder sein positives Vorhaben, die hysterische Feindschaft zu den USA und die komplizierte Beziehung zum gesamten Westen zu verbessern, sabotieren – zumal etliche sehr prominente Hardliner mit Abwahl bestraft worden sind. Ein regierungskonformes Parlament wäre notwendig für die Lösung zahlreicher Probleme im Iran: eine immens niedrige Wachstumsrate, hohe Inflation und Arbeitslosigkeit, grassierende Korruption, Drogensucht, massive Umwelt- und Luftverschmutzung, Wasserkrise, Austrocknung der Flüsse etc.
Trotz des offiziellen Aktivitätsverbots der Reformparteien sind die jüngsten Wahlen auch als ein Sieg des rationalen parlamentarischen und parteipolitischen Verhaltens seitens der Wähler und Gewählten zu bewerten. Der amerikanische Politologe Myron Weiner hatte bereits in den 1970er Jahren konstatiert, dass Parteien in Entwicklungsländern nichts anderes seien als „beschränkte Cliquen oder Oligarchie“. Irans Parteienlandschaft hatte sich aufgrund des Mangels an Tradition und des eingeschränkten Aktivitätsradius kaum weiterentwickelt.
Insgesamt ist der Ausgang der Wahlen ambivalent zu bewerten: Trotz der beschriebenen Wahlerfolge der Reformer ändert sich an der Machtkonstellation innerhalb des Regimes kaum etwas. Die mächtigsten Kräfte im politischen System Irans bleiben Ayatollah Khamenei und die Revolutionswächter. Zugleich bedeutet das Wahlergebnis allerdings einen deutlichen Gesichtsverlust Khameneis; insofern ist die Botschaft der Wähler dennoch als grandioser Sieg der Reformer zu bewerten. Der Hass auf zahlreiche korrupte Vetternwirtschaftler und Hintermänner der Unterdrückung, allen voran Khamenei selbst, sowie Rohanis Erfolg in der Außenpolitik haben die Iraner an die Wahlurne gelockt. Sie trotzten den Manipulationen im Vorfeld mit der Zurückweisung von Kandidaten und haben den Spieß umgedreht.
Damit haben die Iraner ihren Wunsch nach Veränderungen bekräftigt. Darauf aufbauend müssen zivilgesellschaftliche Kräfte Druck auf Rohani ausüben, seine innenpolitischen Versprechungen einzulösen. Die Menschenrechtslage im Land gehört auch zur Achillesferse des Regimes. Mit Bürger- und Menschenrechten sowie Frauen- und Minderheitenrechten (laut „Global Gender Gap Index 2015“ vom Weltwirtschaftsforum nimmt der Iran Platz 141 von 145 Staaten ein) wie auch der Pressefreiheit (laut der Rangliste der Pressefreiheit 2015 von Reporter ohne Grenzen belegt der Iran unter 180 Staaten Platz 173) ist es teilweise schlechter bestellt als zu Zeiten Ahmadinedschads. Rohanis Informationsministerium und das Ministerium für Kultur und religiöse Führung sind stark in die Unterdrückung der Zivilgesellschaft involviert.
Das Spiel auf dem Feld von Wahlen und Gremien ist nicht entscheidend, wenn man die Kräfte, Zünfte und Assoziationen der Zivilgesellschaft als Druckmittel von unten nicht aufbaut und mobilisiert. Die „Grüne Bewegung“ von 2009 war auch deshalb gescheitert, weil sie eine Bewegung der Mitte und Intelligenzija war. Bislang ist man Zeuge etlicher friedlicher Proteste gewesen, der potenziell starken Lehrerzunft und der Arbeiterschaft, insbesondere der Minenarbeiter, die ob der sehr schlechten materiellen Lage laut wurden. Das zivilgesellschaftliche Potenzial ist als effektives Druckmittel durchaus vorhanden. Es bedarf lediglich der Gestaltung, der Organisation und Möglichkeiten zur Vernetzung. Das haben die Reformer (auch aus den Reihen der Zivilgesellschaft) bisher ignoriert. Weder Khatami noch Rafsandschani noch andere prominente, jedoch weniger bekannte Reformer haben bislang solche Proteste unterstützt oder sich für ihre Belange eingesetzt. Diese Strategie muss nun überdacht werden.
Dr. Behrouz Khosrozadeh ist Politikwissenschaftler und stammt aus dem Iran. Er ist u.a. Lehrbeauftragter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.