[analysiert:] Benjamin Wochnik analysiert das Verfassungsreferendum in der Türkei.
Die Sieger könnten unterschiedlicher nicht sein. Am 12. September 1980 hieß der Sieger Kenan Evren, kemalistischer General und Putschist. Genau dreißig Jahre später heißt der Sieger Recep Tayyip Erdoğan, Führer der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und Ministerpräsident der Türkei.
Was beide gemein haben: Sie brachten Verfassungsreformen auf den Weg, welche das Land eher spalten als vereinen.
Ende der 1970er Jahre erschütterte eine Wirtschaftskrise die Türkei und politisch motivierte Gewalttaten destabilisierten die öffentliche Sicherheit. Traurige Gewaltexzesse von „rechten“ und „linken“ Gruppierungen erschütterten jahrelang die Bevölkerung. Zudem legte eine Lebensmittel- sowie Ölknappheit das öffentliche Leben lahm. In den Straßen der Städte herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Regierung bekam die Situation nicht in den Griff, das Militär sah sich genötigt zu handeln.
Der Putsch von 1980 stellt einen der größten Eingriffe in die türkische Politik und den türkischen Rechtsstaat dar. Für drei Jahre übernahm das Militär, welches sich als Hüter des Kemalismus sieht, unter General Evren die Regierungsgeschäfte. Bis 1982 erarbeitete eine vom Militär handverlesene Kommission eine neue Verfassung, welche die Freiheiten und Rechte der Bevölkerung erheblich beschnitt. Zudem stellte die neue Verfassung den Staat als fortan zu sicherndes Objekt dar, welches vor den Bürgern zu schützen sei. Diese drakonische Zäsur der Freiheitsrechte warf die Türkei auf ihrem Weg in die Demokratie um Jahrzehnte zurück. Die militärischen Machthaber legten somit die Demokratie an die Leine und handelten aus ihrer autoritären Sicht nach dem Sprichwort: „Lieber Vorsicht als Nachsicht“.
Ein Referendum sollte über die neue Verfassung entscheiden, welches jedoch an die Wahl Evrens zum Präsidenten gekoppelt war. Dieses Junktim war ein taktischer Schachzug Evrens. Die Militärs hätten bei seiner Niederlage in der Wahl um das Präsidentenamt wahrscheinlich die Ergebnisse der demokratischen Neuwahl rückgängig gemacht. Schließlich legitimierte das Referendum die neue Verfassung. 1983 gab der Putschist Evren die Macht nach Neuwahlen in zivile Hände und ließ sich zum Staatspräsidenten wählen. Dies tat er aus machtpolitischem Kalkül, denn der Staatspräsident besaß Kompetenzen, die ihn berechtigten, an gewichtigen politischen Schnittstellen direkten Einfluss zu nehmen. Mit diesen präsidialen Kompetenzen ausgestattet, konnte Evren somit für die nächsten sieben Jahre entsprechend seiner ideologischen Couleur intervenieren. So erlangten die Türken 1982 durch demokratische Wahlen die „Demokratie“ zurück, mit der Bürde einer aufoktroyierten repressiven Verfassung.
Den dreißigsten Jahrestag des Putsches nutzte die religiös-konservative AKP als symbolischen Zeitpunkt, per Referendum die Verfassung zu demokratisieren und nebenbei mit den ehemaligen Putschisten abzurechnen. Die modifizierte Verfassung, so die AKP, werde die Republik demokratisieren und den hinkenden EU-Beitrittsprozess revitalisieren.
Am 12. September 2010 wurde die Verfassungsreform per Referendum mit 58 zu 42 Prozent angenommen und gleichzeitig wuchs Erdoğans Machtbasis. Führende Politiker verschiedener Länder und große Teile der (inter-)nationalen Presse begrüßten die Reform als einen wichtigen demokratischen Schritt. Die AKP und Reformbefürworter jubelten, die Opposition und Reformkritiker akzeptierten den Volkswillen – zähneknirschend.
In der Tat haben die Verfassungsmodifikationen demokratisierende Wirkungen – jedenfalls auf dem Papier. Beispiele dafür sind z.B. Artikel 10, er fördert die „positive Diskriminierung“ von Kindern, Frauen und Menschen mit Behinderungen. Oder Artikel 15, welcher den ehemaligen Putschisten Immunität gewährte, wurde für nichtig erklärt und Artikel 145 schränkt die Militärgerichtsbarkeit ein.
Dennoch spaltet dieses Verfassungsreferendum, wie jenes von 1980, die Republik. Die Initiatoren des Referendums, die AKP, konnten oder wollten keine parteiübergreifenden progressiven Diskussionen zulassen. Ganz so „klar und einvernehmlich“ hat das „Volk“ demnach wohl doch nicht gesprochen.
Nach offiziellen Angaben haben sich 23 % der Wahlberechtigten enthalten, mit erheblichen regionalen Unterschieden. Besonders in der kurdisch geprägten Region um Diyarbakır, welche gleichzeitig die Hochburg der kurdischen BDP (Partei für Frieden und Demokratie) ist, gingen laut Hürriyet Daily News nur 33 % zur Wahl. Dieser Zustand erklärt auch die überwältigende Zustimmung von 90 % der abgegebenen Voten. Viele Kurden boykottierten das Referendum, da die AKP sämtliche Kompromissvorschläge seitens der kurdischen BDP im Vorfeld der Volksabstimmung abgeschmettert hatte. Vorschläge wie die Senkung der unverhältnismäßigen Zehn-Prozent-Hürde bei Parlamentswahlen, Duldung eines muttersprachlichen Unterrichts oder Entschärfung des Anti-Terrorismus-Gesetzes stießen bei der AKP auf taube Ohren.
Auch die kemalistische CHP versuchte, wenn auch halbherzig, eine Brücke zur AKP zu schlagen, um ein Arrangement zu erzielen. Die CHP verlangte, das Referendum in Teile zu separieren und nicht „en bloc“ über die Reform abzustimmen. Viele Kemalisten befanden sich aufgrund der „en bloc“-Abstimmung in einer Zwickmühle. Gegen eine Demokratisierung hatten sich nichts einzuwenden – solange ihre Machtbastionen, wie das Militär und die Justiz, nicht angetastet würden. Deshalb stimmten sie mit „nein“, aus Angst vor der endgültigen Machterosion. Parallel zum Referendum ging es demnach auch um unterschiedliche Ideologien und Lebenseinstellungen, welche die Parteien verkörpern. Viele Wähler folgten unkritisch ihrem favorisierten politischen Lager.
Die Verfassungsreform wird die Türkei demokratisieren, aber vereinen wird sie die Menschen nicht. Für den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft wäre es vorteilhafter gewesen, die Reform wäre durch eine parteiübergreifende und breite zivilgesellschaftliche Diskussion zustande gekommen. So hätte die AKP ihren Kritikern den Wind aus den Segeln genommen und Ängste abbauen können. Das jedoch hat Erdoğan nicht zugelassen, er agierte wie ein absolutistischer Regent, der keine Kompromisse kennt.
Nach dem Referendum kann sich die AKP als Sieger, die CHP wiederum muss sich als Verlierer fühlen – aber die Möglichkeit, den zementierten gesellschaftlichen Graben zu überbrücken, haben beide Parteien verstreichen lassen.
Benjamin Wochnik ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sein Buch „Atatürks islamische Erben. Wer regiert die Türkei?“ erschien 2010 im Tectum-Verlag.