[kommentiert]: Jens Gmeiner kommentiert den Ausgang der Wahlen in Schweden: Vom Niedergang der sozialdemokratischen Staatspartei und dem Vormarsch der populistischen Schwedendemokraten.
Als die ersten Hochrechnungen um 20.00 Uhr im schwedischen Staatsfernsehen über den Bildschirm flimmerten, wurde es schlagartig ruhig im Sveavägen 68 in Stockholm, dem Hauptsitz der schwedischen Sozialdemokratie. Auf gerade einmal 30,8 Prozent kam die frühere Staatspartei der Schweden, die in den letzten 78 Jahren sage und schreibe 65 Jahre die Regierung stellte. Man muss schon in das Jahr 1914 zurückgehen, als die SAP auf 30,1 Prozent kam, um ein ähnlich schlechtes Ergebnis in der Parteihistorie zu finden. Damit hat die schwedische Sozialdemokratie ihre ehemalige Vormachtstellung endgültig eingebüßt.
Die Moderate Sammlungspartei, die bisher unter Führung von Ministerpräsident Reinfeldt den Ton in der bürgerlichen Vier-Parteien-Regierung angab, läuft den Sozialdemokraten (SAP) langsam aber sicher den Rang ab. Sie kam mit 30 Prozent der Stimmen nah an die SAP heran und wilderte nebenbei noch kräftig in der gewerkschaftlichen Kernwählerschaft der Sozialdemokratie. In allen drei Großstädten in Schweden ziehen die Moderaten an den schwedischen Sozialdemokraten vorbei. Selbst in der Herzkammer der SAP, in Malmö, lagen die Moderaten vier Prozentpunkte vor der SAP. In Stockholm kam die SAP noch auf 20 Prozent und kann sich im urbanen Zentrum Schwedens eigentlich nicht mehr als Volkspartei bezeichnen.
Für die Grünen in Schweden hat sich der Höhenflug der letzten Monate auch in der Wahl niedergeschlagen. Die Umweltpartei kam landesweit auf 7,2 Prozent und gewann zwei Prozentpunkte hinzu. Besonders große Unterstützung fanden die Grünen in den urbanen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren, die sich langsam als Diasporagebiet für die SAP herausstellen. Bei Jungwählern und jungen Frauen konnte die Partei überdurchschnittlich gut abschneiden. Man kann getrost sagen, dass ohne die Zugewinne der Grünen das rot-rot-grüne Bündnis der bürgerlichen Allianz hoffnungslos unterlegen gewesen wäre. Die Linkspartei blieb zwar relativ konstant, aber die Verluste der SAP fielen stark ins Gewicht.
Bis auf die Moderaten mussten jedoch alle anderen bürgerlichen Parteien Stimmenverluste verzeichnen. Die Liberalen sind nun zweitstärkste Kraft mit 7,1 Prozent und lösen damit die Zentrumspartei ab, die nur noch auf 6,6 Prozent kam. Die Christdemokraten kamen problemlos über die Vier-Prozent Hürde und werden mit 5,6 Prozent die kleinste bürgerliche Partei der Allianz. Insgesamt gewannen die bürgerlichen Parteien im Vergleich zur Wahl 2006 1,1 Prozentpunkte dazu und vereinen nun mit ihrem Bündnis 49,3 Prozent. Die Allianz besitzt jedoch keine eigene Mehrheit, weil die rechtspopulistischen Schwedendemokraten mit 5,7 Prozent erstmals in den Reichstag einziehen. Fredrik Reinfeldt will sich nach ersten Bekundungen im schwedischen Fernsehen nicht von den Rechtspopulisten abhängig machen und lehnt bisher jede Zusammenarbeit oder gar Duldung mit Hilfe der Schwedendemokraten entschieden ab.
Stattdessen will er zusammen mit den bürgerlichen Parteien Gespräche mit den Grünen aufnehmen. Möglich wäre somit eine Minderheitsregierung der Allianz, die sich bei Sachfragen punktuelle Unterstützung bei Grünen oder sogar Sozialdemokraten holen könnte. Eine Aufnahme der Grünen in die bürgerliche Regierung wollte Reinfeldt nicht kategorisch verneinen, dies scheint aber auch im Hinblick auf die anderen bürgerlichen Parteien unwahrscheinlich. Die Grünen wären im unwahrscheinlichen Falle einer Koalitionsbeteiligung zweitstärkste Partei in einer Regierung unter Reinfeldt und würden das Machtgefüge und die Balance der Allianz gefährden.
Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten sind neben den Moderaten und den Grünen die eigentlichen Gewinner dieser Wahl. Sie erzielten mit 5,7 Prozent ihr bestes Ergebnis seit dem Bestehen der Partei und sind nun das Zünglein an der Waage. Die bürgerlichen Parteien tun gut daran, die Schwedendemokraten auszuschließen und sich in einer Minderheitsregierung nicht abhängig von den Rechtspopulisten zu machen. Norwegen und Dänemark sind gute Beispiele dafür, wie weit eine solche Duldung führen kann und was dies für ein Parteiensystem bedeutet.
Der SAP hat das rot-rot-grüne Bündnis wohl mehr geschadet als genutzt. Am Wahlabend wurden bereits erste Stimmen laut, die andeuteten, dass die SAP wegen der frühen Koalitionsaussage ihre eigene Identität nicht nach außen tragen und zielgerichtet betonen konnte. Speziell die gewerkschaftsnahe Phalanx innerhalb der SAP hat die Zusammenarbeit mit den Grünen immer kritisch beäugt und kritisiert. Die Verluste auf Seiten der gewerkschaftlichen Kernwähler deuten darauf hin, dass die Umweltpolitik der Grünen das Profil der SAP als industrienahe Partei verwässert hat.
Gleichwohl lässt sich der herbe Stimmenverlust für die SAP nicht nur mit dem Rückgang innerhalb der gewerkschaftlichen Klientel begründen. Ganz oben auf der Liste der wichtigsten Themen der Wahl 2010 stand nämlich – noch vor Beschäftigungspolitik und wirtschaftlichen Fragen – die Schulpolitik. Die SAP hat sich bei dieser Frage in den letzten Jahren fast zerfleischt, weil Parteiführung und Basis uneins waren, ob nun früher Noten gegeben, nationale Schultests zugelassen und härtere Anforderungen an die Schüler gestellt werden sollten. Das Bild der SAP in dieser wahlentscheidenden Frage war, milde ausgedrückt, ambivalent und es fehlte ein parteiübergreifender Kompass. Somit hat die SAP auch bei den städtischen Mittelschichten verloren, den Familien mit Kindern, die sich eigentlich für einen starken Wohlfahrtsstaat aussprechen. Zudem sieht die Bevölkerung nicht mehr länger einen Widerspruch zwischen Wohlfahrt und niedrigen Steuern. Wer arbeitet, solle auch deutlich mehr entlastest werden als die, die nicht arbeiten. Das war das Credo der bürgerlichen Politik während der letzten vier Jahre. Es scheint so, wie es der schwedische Journalist Torbjörn Nilsson formulierte, dass dieser „arbeitsmoralische Zug vielleicht größer geworden ist als der solidarische Gleichheitsgedanke.“
Die SAP verlor also Wähler auf beiden Seiten, bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern und urbanen Mittelschichten. Der Kitt, der früher diese beiden Gruppen an die SAP gebunden hat, weicht seit Beginn der 1990er Jahre kräftig auf. Diese schwierige Integrationsaufgabe hat die SAP einst mit pragmatischer Politik- und Bündnisorientierung, einer engen Kooperation mit dem Gewerkschaftsverband LO, kompetenter Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie charismatischen und parteiverwurzelten Führungspersönlichkeiten gemeistert.
Bei der Wahl 2010 war alles anders. Sahlin, die Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten, galt als innerparteilich schwach und uncharismatisch, die LO hat viele Mitglieder und damit potentielle SAP-Wähler verloren, Wirtschaftskompetenz wird nicht mehr mit der SAP verknüpft, sondern mit den Moderaten, und das linke Bündnis schränkte die Bewegungsfreiheit und Profilbildung der SAP ein. Zudem spielten die Schwedendemokraten geschickt auf der Klaviatur der Islamophobie und bedienten Ängste einer verunsicherten Arbeiterschaft, die sich auch in Schweden langsam von der Sozialdemokratie entfremdet.
Die Katastrophenwahl von 2006 mit 35 Prozent für die schwedische Sozialdemokratie war ein Schock, die aktuelle Wahl war mehr als das, es war ein Rückschritt ins Jahr 1914. Vieles spricht dafür, dass die SAP im Jahre 2014 mit einem neuen Spitzenkandidaten ins Rennen geht. Und auch Koalitionsaussagen im Vorfeld werden spärlich ausfallen. Die SAP ist nicht mehr die Staatspartei Schwedens, sondern nur noch eine Partei unter vielen.
Jens Gmeiner ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.