Von den Piraten lernen?

[debattiert]: Wolfgang Gründinger antwortet auf die Rezension von Stephan Klecha

In seiner Rezension meines Buches „Meine kleine Volkspartei – Von einem Sozi, der absichtlich Pirat wurde“, die in diesem Blog erschien, kritisiert Stephan Klecha, ich verfalle „einer überaus populären, aber nicht gerade ungefährlichen Kritik moderner Demokratien“. Dem ist zu widersprechen: Die Piraten sind angetreten, Selbstverständlichkeiten unseres parlamentarischen Betriebssystems zu hinterfragen – und dürfen nicht als Feind der Demokratie diskreditiert werden. Wir müssen uns vielmehr streiten, ob unsere Demokratie immer genauso bleiben muss, wie sie heute ist.

Unsere Demokratie, unsere Parteien und ihre Politiker haben in der Tat einen miserablen Ruf. Jeder vierte Bürger möchte mit der Demokratie, wie sie heute ist, nichts zu tun haben, und jeder dritte glaubt, unsere Demokratie sei nicht in der Lage, gesellschaftliche Probleme zu lösen, wie eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab. Zwei Drittel der Bürger durchschauen die Politik nicht, halten sie für bürgerfern. Mehr als die Hälfte findet die Politik unverständlich, kompliziert, verlogen und unaufrichtig, so eine Allensbach-Umfrage 2012.

Das populäre Parteien-Bashing lässt leider kein gutes Haar an der Politik und das Vertrauen in unsere Demokratie ist fragil geworden. Viele Bürger glauben, dass „die da oben“ ohnehin machen, was sie wollen – getrieben und ohnmächtig inmitten von Fraktionszwang, ökonomischen Verstrickungen und Lobbyisten in Hinterzimmern.

Selbst viele Parteimitglieder waren frustriert vom Politikbetrieb – so wie auch ich, der als 16-Jähriger mit großen Träumen in die SPD eintrat und angesichts schwerfälliger und hierarchisierter Willensbildungsmechanismen viel Frust in sich hineinfraß. Wenn beispielsweise bei parteiinternen Mitgliederbegehren nicht einmal Online-Unterschriften möglich sind, fragt man sich schon, ob diese Partei sich noch als modern bezeichnen darf. Gerade jüngere Mitglieder sind frustriert ob der Bewegungsunfähigkeit der Partei.

Dann kamen die Piraten: Sie wollen alles anders machen. Freilich kamen sie mit einem naiven Politikverständnis daher – so auch ihre anfängliche Generalkritik an der Fraktionsdisziplin. Diese ist ja in der Tat problembehaftet. Beispielsweise war im Bundestag nie eine Mehrheit vom Betreuungsgeld überzeugt, und dennoch haben die Abgeordneten der Regierungskoalition aus Fraktionsdisziplin dafür gestimmt – als koalitionsinterner Kuhhandel, nicht aufgrund des deliberativen Streits der Argumente. Dass sich auch eine gewisse Fraktionsdisziplin mit der Zeit von selbst entwickelt, ohne „von oben“ erzwungen zu werden, als natürlicher Prozess der Kompromissbildung und Arbeitsteilung, haben aber auch die Piraten schnell gemerkt – was ich in meinem Buch auch ausführlich diskutiere. Kritik an der Fraktionsdisziplin als „Negation der parlamentarischen Demokratie“ (Klecha) zu bezeichnen, ist indes nicht hilfreich, ebenso wenig die Suche der Piraten nach anderen Modellen der Entscheidungsfindung wie etwa durch teilöffentliche Kommunikations- und Abstimmungsplattformen.

Ebenso verhält es sich mit dem Schutz von Verhandlungen und Beratungen vor der Öffentlichkeit, den ich laut Klecha ablehne, da ich mir mehr Transparenz in der Politik wünsche. Allerdings halte ich absolute Transparenz für ein Trugbild. Nicht jedes Gespräch und jede Sitzung müssen per Livestream ins Netz gestellt werden. Stattdessen heißt Transparenz, die Politik nachvollziehbar zu machen: Es muss verständlich gemacht werden, wer was und warum beschlossen hat. Dass man gewisse Beratungen auch ohne Öffentlichkeit führen kann und muss, beispielsweise weil sonst unfertige Ideen schnell zerredet werden oder Verhandlungsstrategien nicht mehr funktionieren würden, steht dabei außer Frage.

Die piratige Basisdemokratie hat ihre Defizite. So führt der Verzicht auf ein Delegiertensystem bei den Parteitagen dazu, dass die einzelnen Bundesländer extrem ungleich vertreten sind – beispielsweise kamen beim Parteitag in Bochum die Hälfte der Teilnehmenden aus nur zwei Bundesländern; für die anderen war die Anreise zu langwierig, aufwendig und teuer. Ist das noch echte Basisdemokratie, an der alle gleichermaßen teilhaben können? Oder die Idee, per Demokratie-Software Liquid Feedback die Entscheidungen im Internet per Schwarmintelligenz der Basis zu treffen und dann von den Funktions- und Mandatsträgern nur noch ausführen zu lassen: Ist dies dann nicht auch wieder eine Form des Fraktionszwangs, den die Piraten bis dahin doch kritisiert hatten? Wie verhält es sich dann mit dem freien Gewissen der Abgeordneten? Und wenn das Wohl und Wehe eines Gesetzes davon abhängen soll, dass im Internet 400 Parteimitglieder dafür stimmen und 300 dagegen – ist dies dann die Form der Basisdemokratie, wie wir uns das vorstellen? Auch die Piraten müssen reflektieren, ob ihre Mechanismen der innerparteilichen Willensbildung wirklich das erreichen, was sie an Idealen und Zielen formulieren.

Angesichts des Vertrauensverlusts in die Demokratie, ihrer Parteien und Politiker müssen wir darüber reden und streiten, wie wir die Regeln unseres Zusammenlebens gestalten wollen. Dazu gehört auch: Wie können wir die Parteien modernisieren, sodass sie auch für junge, mobile und zeitarme Menschen attraktiv sind – etwa durch Liquid Feedback oder andere Onlineformate? Wie können wir den unter Bürgern verbreiteten diffusen Wunsch nach mehr Beteiligung und Mitsprache in praktikable Mitsprache- und Mitbestimmungsinstrumente kanalisieren – außerhalb wie innerhalb von Parteien, etwa auch durch eine Stärkung von Mitgliederentscheiden? Wie können wir durch mehr Transparenz mehr Vertrauen schaffen – beispielsweise durch Offenlegung von Nebentätigkeiten von Politikern oder ein Lobbyistenregister wie in den USA?

Mit einer „überaus populären, aber nicht gerade ungefährlichen Kritik moderner Demokratien“, wie mir von Klecha unterstellt wird, haben diese Fragen nichts zu tun – sondern mit einem Nachdenken und Ausprobieren, wie wir mehr Demokratie wagen können. Dazu will ich mit meinem Buch einen Anstoß liefern. Die SPD kann viel von den Piraten lernen – aber genauso anders herum. Denn auch die Piraten brauchen ein Update ihres Betriebssystems.

tl;dr: Don’t silence the critic just because he doesn’t know the answer.

Wolfgang Gründinger, geb. 1984, ist Politikwissenschaftler und Autor des Buches „Meine kleine Volkspartei – Von einem Sozi, der absichtlich Pirat wurde“ (Eichborn Verlag, 2013)