Krisen – reinigendes Gewitter oder verheerende Flut?

[präsentiert]: Matthias Micus und Katharina Rahlf stellen die neue Ausgabe der Zeitschrift INDES vor.

Wir leben in einer Zeit der Krise. Diese Diagnose dürfte weithin unumstritten sein. Zudem: Die Art und Weise, in welcher der Krisenbegriff aktuell verwendet wird, lässt durchaus verallgemeinerbare Rückschlüsse auf die Wortbedeutung zu. Zum einen ist der Kern des gegenwärtigen Krisendiskurses ökonomischer Natur, seinen Ausgangspunkt nahm er von der internationalen Finanzkrise, die wahlweise auch als Immobilien-, Banken-, Schulden- oder Währungskrise bezeichnet wird. Dass im Zuge der immensen Transferzahlungen zur Stützung von Banken, Staaten und nicht zuletzt der europäischen Gemeinschaftswährung absehbar die Geldentwertung beschleunigt wird, gilt in Expertenkreisen weitgehend als ausgemacht. Und dass Preisanstiege, Zinssenkungen und Wertminderungen bei den Sparguthaben negative Auswirkungen auf die subjektive Beurteilung der persönlichen und gesellschaftlichen Zukunft haben, die eine krisenhafte Zuspitzung der Verdrossenheitswerte nach sich ziehen können, erscheint durch den grundsätzlichen Gleichlauf von Konjunkturzyklen und demoskopisch erfragten Zufriedenheitswerten wahrscheinlich.

Zum anderen ist der Terminus der Krise durchweg negativ konnotiert. Er wird verwendet als Synonym und Chiffre für Niedergang, Verlusterfahrungen, Existenzgefährdungen. Krisen rufen Furcht und Besorgnis hervor, sie paralysieren, unterminieren das individuelle Selbstvertrauen, brechen den Mut, Risiken einzugehen und Neues zu wagen. Und schließlich sind Krisen in der öffentlichen Wahrnehmung immer dramatisch und nicht selten präzedenzlos, mithin: die jüngste Krise ist in der Regel die schwerste, tiefste und größte, die, wenn man so will, kritischste Krise.

Aber trifft das wirklich zu? Die neue Ausgabe von INDES über „Krisen – Crashs – Depressionen“ befasst sich in ihrem Schwerpunkt in einer Vielzahl von Beiträgen mit den verschiedenen Ursachen, Aspekten und Auswirkungen von Krisen. Um ein möglichst differenziertes Bild des Phänomens zu erhalten, betrachten die Texte es aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Deutlich wird dabei, dass Krisen keineswegs auf die Sphäre der Wirtschaft beschränkt sind, ja dass das Wesensmerkmal ernsthafter Krisen gerade darin zu bestehen scheint, Folgen in sämtlichen Daseinsbereichen und Lebenszusammenhängen zu zeitigen, wie Franz Walter eindrücklich in seiner Analyse „Ruhe im Sturm?“ zeigt. Kurzum: Natürlich haben Krisen vielfache ökonomische Implikationen, für gewöhnlich nehmen sie auch in wirtschaftlichen Entwicklungen ihren Ausgang. Doch streuen ihre Effekte weit über den Wirtschaftssektor hinaus und beeinflussen auf ihrem Höhepunkt nicht zuletzt die Alltagskultur, die Zukunftserwartungen und Mehrheitsmentalitäten.

Überhaupt, dies lehrt der historische Blick zurück, ist Krise überall und immerzu. Das Krisenwort ist ein Argumentations-Joker, der sich zu allen Zeiten mit ganz unterschiedlichen Themen in Beziehung bringen lässt. Jedenfalls gilt dies für die sogenannte Neuere und Neueste Geschichte, deren Beginn die Historiker mit der Französischen Revolution von 1789 datieren. „Wer heute eine Zeitung aufschlägt, stößt auf den Ausdruck Krise.“ Dieser aktuell anmutende Satz etwa entstammt einem französischen Lexikon des Jahres 1840. Das ist im Übrigen kein Zufall. Schließlich meint Krise ihrer ursprünglichen Wortbedeutung zufolge „auswählen“ und bezeichnet den Zwang zur – irreversiblen – Entscheidung zwischen zwei – konträren – Alternativen. Die typischen Krisensituationen sind daher Momente, in denen unter Zeitdruck gehandelt werden muss. Die Beschleunigung des sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels und mithin die Verknappung der Zeit sind aber grundlegende Phänomene der industriegesellschaftlichen Moderne, deren Beginn für gewöhnlich auf das ausgehende 18. Jahrhundert datiert wird. Auch daher erklärt sich die anhaltende Krisenkonjunktur der vergangenen gut 200 Jahre.

Nun enthalten Entscheidungen, die nicht zurückgenommen werden können, geradezu strukturell die Gefahr folgenreicher Fehlentschlüsse. Dem Ausdruck Krise haftet daher seit jeher etwas Bedrohliches an. „Er indiziert“, so fährt der mehr als 170 Jahre alte Lexikonartikel fort, „Unsicherheit, Leiden und Prüfung und verweist auf eine unbekannte Zukunft“. Dieser Aspekt, dieses Leiden unter und infolge einer Krise, kommt in mehreren Texten des vorliegenden Heftes zum Ausdruck, in der eher szientistisch-abstrakten Analyse „Über den Begriff der ‚Krise‘“ von Michael Makropoulos ebenso wie in den essayistischen Inspektionen von Daniela Kallinich, Laura Fernández de Mosteyrín und Eiríkur Bergmann zu Frankreich, Spanien und Island.

Einerseits. Andererseits sind Krisen in ihrer Wirkung durchaus ambivalent. „Jeder kleine oder große Fortschritt besitzt seine Krise“, wie der belgische Ökonom Gustave de Molinari ebenfalls noch im 19. Jahrhundert betonte. Auffällig ist in der Tat, dass insbesondere unter den bedeutenden Wirtschaftswissenschaftlern etliche den Segen oder zumindest die unspektakuläre Normalität von Krisen hervorhoben. Alfred Marshall zufolge bedeuteten Brüche und Umwälzungen bzw. „Revolutionen“ einen Sprung zu neuen Erkenntnissen. Und Joseph Schumpeter schätzte die krisenhaften Übergangsperioden als wünschenswerte „schöpferische Zerstörung“ und bewertete den Niedergang eines Teiles der Betriebe als Preis für den kapitalistischen Wachstumsprozess. Ebenso prägnant hat John Maynard Keynes im „Marktversagen“ ein „normales“ Nebenprodukt der Marktwirtschaft gesehen. Der Kapitalismus, heißt das, mag zu Krisen neigen. Umbringen aber können diese Krisen den Kapitalismus nicht.

Weitere Apercus von Nicht-Ökonomen deuten in dieselbe Richtung einer reinigenden und erneuernden Kraft, welche Krisen innewohnt. So diagnostizierte der Historiker Reinhart Koselleck schon vor längerer Zeit, „daß Geschichte kurzfristig von den Siegern gemacht, mittelfristig vielleicht durchgehalten, langfristig niemals beherrscht wird“. Wolfgang Schivelbusch hat ein ganzes Buch der „Kultur der Niederlage“ gewidmet, in dem er argumentiert, dass historische Erkenntnisgewinne langfristig von den Besiegten stammen würden, weil durch Niederlagen eine intensive Suche nach den mittel- oder langfristigen Gründen dafür in Gang gesetzt würde, weshalb alles anders kam als ursprünglich erhofft wurde. Die Beweisnot, wodurch sich die Abweichung vom Erwarteten und Erhofften erkläre, mobilisiere zusätzliche Energien und wirke als regelrechter „stimulus of blows“. Während der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer seine Lebenserfahrungen in dem Aphorismus „Wer nie am Abgrund gestanden hat, kann ein Großer nicht werden“ verdichtete, prägte der Schriftsteller Heinrich Mann die Formel vom „Fluch des Sieges“. Alles dies sind Beispiele für eine unter Umständen positive Wirkung von Krisen, denen sich in der vorliegenden Ausgabe von INDES Wolfgang Martynkewicz in seinem Beitrag über „Die Ursprünge außergewöhnlicher Kreativität“ sowie Sabine Maasen und Barabara Sutter in ihrer Analyse über Krisenbewältigungskompetenzen mit dem Titel „Spiel mir das Lied von der Krise“ widmen.

Diese Texte deuten darauf hin, dass die Frage, ob Krisen letzten Endes eher Chancen bieten oder aber die problematischen Seiten überwiegen, nicht ausschließlich – ja vielleicht nicht einmal zuvörderst – auf rein zahlenmäßige Verluste und dergleichen zurückführbar sein dürfte, sondern – wie Markus Pawelziks gedankenreiche Ausführungen zeigen – von individuellen Eigenschaften und Verarbeitungskompetenzen abhängt. So können Krisen zu Depressionen führen oder auch eine neue Stärke begründen. Auf dieses Potential von Krisen zur Charakterfestigung und Kräftigung der mentalen Problemresistenz baut Pawelzik sein zunächst paradox anmutendes Urteil auf, dass die nachvollziehbaren und unmittelbar einleuchtenden Versuche liebender Eltern, jegliche Probleme von ihrem Nachwuchs fernzuhalten, den eigenen Kindern auf lange Sicht eher schaden als nutzen, weil sie deren Widerstandsfähigkeit im Angesicht von Schwierigkeiten im weiteren Lebensverlauf beeinträchtigen.

Zu guter letzt, und auch das wird im Schwerpunkt der neuen INDES deutlich, ist die Rede von der Präzedenzlosigkeit gegenwärtiger Krisen geschichtsvergessen. Schauen wir uns beispielsweise die Finanzkrisen der letzten Jahrhunderte an, dann zeigt sich bei ihnen ein ganz typisches Muster. So sind Finanzkrisen für gewöhnlich die Folge von Spekulationsblasen, die auf zwei Ursachen gründen: einem weitgehend unbeschränkten Zugang zu billigem Geld in Verbindung mit einer erfolgversprechenden Investmentidee. Ebenso zeichnen sie sich auf Seiten der wesentlichen Akteure durch vergleichbare Haltungen und Gemütszustände aus. Rausch, Euphorie, Gier und ein blindgläubiger Herdentrieb, die durch exorbitantes Wachstum und den Wunsch, unbedingt mit dabei zu sein, stimuliert werden, gefolgt von einer kollapsartigen Ernüchterung infolge drastisch einbrechender Zahlen. Mithin: So üblich sein Gebrauch und so vermeintlich klar sein Bedeutungsgehalt auch sein mögen, so sehr lohnt sich auch und gerade jetzt eine gründliche Beschäftigung mit dem Krisenbegriff. Die aktuelle INDES leistet hierzu einen Beitrag.

Katharina Rahlf ist Chefredakteurin der Zeitschrift INDES, Dr. Matthias Micus ist Redaktionsmitglied. Beide arbeiten am Göttinger Institut für Demokratieforschung.