[kommentiert]: Franz Walter kommentiert die Kandidatenaufstellung für den Präsidentenwahl
Natürlich haben die Sozialdemokraten in den letzten Wochen genüsslich gefeixt. In den vergangenen Jahren waren stets sie die Getriebenen. Nun endlich durften sie die Rolle wechseln, durften als Jäger die Union und FDP vor sich herschubsen. Genial, so frohlocken in diesen Tage die Genossen durchaus selbstgefällig, wie sie mit dem Vorschlag Gauck einen vergiften Knochen ins bürgerliche Gehege geworfen haben.
Fast möchte man mit Blick von außen allerdings verzweifeln. Denn natürlich wird das scheinheilige Plädoyer der SPD für einen über die Parteien stehenden Kandidaten irgendwann demnächst gegen sie selbst wieder zurückschlagen. Für einen dreiwöchigen Vorteil zuungunsten von Schwarz-Gelb rüttelt die SPD an den sowieso schon porösen Grundlagen parteidemokratischer Legitimation, auf denen sie ja selbst steht und stehen muss. Und geradezu haarsträubend ist, dass selbst ihre Führungsleute den Affen in der Sprache der extremistischen, antisemitischen Rechten der 1920/30er Jahre Zucker geben und vom „Geschacher“ der – natürlich gegnerischen – Parteien schwadronieren.
Ein paar Fragen jedenfalls möchte man den Sozialdemokraten zu ihrem Kandidaten schon gern stellen: Interessiert es sie heute gar nicht mehr, wie der frühere Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR mit einen immerhin hochgeachteten Ministerpräsidenten und Bundesminister aus ihren Reihen, Manfred Stolpe, umzuspringen versuchte? Hatten Sie nicht selber in der Vergangenheit oft genug und mit einigem Recht Bedenken geäußert, wenn sich Gauck zum Ermittler, Staatsanwalt, Richter, Hohepriester und Mediensouffleur in einer Person selbst ermächtigte? Forderten Sozialdemokraten seinerzeit nicht gar die Schließung der „Inquisitionsbehörde“ des „Sonderbeauftragen“ mit seinem Egogebaren? Ist es ihnen gleichgültig, wenn von einem Bundespräsidenten auch fürderhin autoritativ vorgetragene Tadel über vermeintlich fehlgeleitete 68er, angebliche linksliberale Diktaturapologeten und Phantasten der Ostpolitik, über den axiomatisch vorausgesetzten Frevel jeglicher Sozialismusvorstellungen und das Sündhafte jeder Koalitionen mit „Linken“ anzuhören sind?
Es sind dies die Botschaften des alten, mittlerweile fast verschwundenen konservativen Bürgertums der 1950er bis 1970er Jahre, die Gauck im Gestus des exklusiv auserwählten Freiheitskünders repetiert. Und das soll das Elixier für die bundespräsidiale Ansprache der Jahre 2010 bis 2015 sein? Es ist schon interessant: In dem Moment, da die neumittigen Parvenüs des Westerwelle-Liberalismus sich auf ganzer Linie blamieren und politisch rundum zu scheitern drohen, in dem Moment versammeln sich die Reste distinkter Altbürgerlichkeit, die sich von den Parteiungen längst abgewandt haben, noch einmal geschlossen um den Freiheitsbürger und protestantischen Pastor aus Mecklenburg. Es herrscht eine Art postmoderne Hindenburg-Stimmung im überkommenen deutschen Bürgertum. „Für das Vaterland beide Hände, aber nichts für die Parteien“, hieß es 1925, als zu Ehren der Hindenburg-Wahl eine Münze geprägt wurde, welche eben diese Aufschrift verpasst bekam. 2010 gilt der Schwur nicht mehr – man ist nunmehr europäisch, wenn nicht gar weltbürgerlich – dem Vaterland, aber an der elitären Verachtung von Parteien, Interessengruppen, vom „Kuhhandel“ in jeder Kompromissbildung hat sich bei den „Gebildeten“ in Deutschland nichts geändert. Und die SPD, doch eigentlich Mutter der Parteiendemokratie, macht keck dabei mit, natürlich in bauernschlauer Absicht, unterminiert indessen ungerührt, was doch die eigene Voraussetzung bildet.
Es hat seinen Grund, dass Gauck in seinen öffentlichen Kundgebungen keine Partei von kritischen Äußerungen so sehr ausnimmt wie die FDP. Und bei den Pro-Gauck-Initiativen im Netz tummeln sich bezeichnenderweise tonangebend Multiplikatorenprofis des „Liberalismus“. Interessant zumindest ist – und zu dieser Geschichte würde man dann doch gerne etwas von Gauck hören -, dass der Weg der Freien Demokraten nach 1945 ganz und gar „ungauckig“ verlaufen ist.
Die Partei hatte bis in die 1950er Jahren nichts von Entnazifizierung oder historischer Aufarbeitung der Diktaturerfahrungen wissen wollen. Keine Partei öffnete ihre Tore vielmehr derart bewusst und großzügig für ehemalige Nationalsozialisten wie diese. Und doch hat sich die FDP im Weiteren so entwickelt, dass Gauck mit ihr nach 1990 offenkundig am besten zurechtkam. Ob die große Lebensleistung Gaucks, das „Stasi-Unterlagen-Gesetz“ wirklich ein historisch zwingender Akt zur gesellschaftlichen Befriedung war, müsste angesichts dieser historischen ganz anders gearteten Methode (und angesichts einiger höchst umstrittener Verfahrensweisen der Gauck-Behörde) auch aus seiner eigenen Perspektive mindest zweifelhaft erscheinen.
Doch was bleibt dann, was für Gauck als Bundespräsident des Jahres 2010 sprechen mag? Zu allen Themen, die in der nächsten Dekade anstehen, hat man von Gauck bislang keinen einzigen auch nur ansatzweise bemerkenswerten Satz gehört. Das wird man unzweifelhaft ebenso kritisch über Christian Wulff, den zweiten Kandidaten, sagen müssen. Dennoch: Gauck ist sicher nicht der Erlöser aus der Malaise der gegenwärtigen Partiendemokratie, zu dem ihn eine Einheitsfront bedeutsamer Kommentatoren zuletzt hochstilisiert hat.
Franz Walter leitet das Göttinger Institut für Demokratieforschung.
Zu diesem Thema äußerste sich auch Karl D. Bredthauer in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“: „Yes, we Gauck.“