Es ist ein ganz besonderer Frühling in Ostmitteleuropa. In den letzten Monaten fanden in Ungarn, Tschechien und der Slowakei Parlamentswahlen statt, am letzten Sonntag, dem 20. Juni, wurde der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Polen abgehalten. Die Reaktionen auf die bisherigen Wahlergebnisse sind in der westlichen Presse durchaus kritisch ausgefallen. Es wurden Sorgen über die rechtsextremen Tendenzen in Ungarn, die Unstabilität der Parteiensysteme und über mögliche Rückschritte im Demokratisierungsprozess der Region geäußert.
Und tatsächlich ist in diesen Ländern ein Rechtsruck zu verzeichnen, auch wenn das Rechts-Links-Verständnis Westeuropas nicht eins zu eins auf Ost-Mitteleuropa zu übertragen ist. Linke Ansichten verbinden sich in Osteuropa nämlich oft mit traditionalistischen und nationalistischen Werten, rechte Ideologie wird dagegen oftmals mit „liberal“, „alternativ“ oder „grün“ in Verbindung gebracht.
Dieses Mal konnten vor allem Mitte-Rechts-Parteien unter mehr oder weniger liberalen Vorzeichen von den Irrungen und Wirrungen der letzen Jahre profitieren. So kam es zu einem unerwarteten Regierungswechsel in der Slowakei: Die neue Regierung wird nun von vier Mitte-Rechts-Parteien gestellt. Die Fidesz-Partei in Ungarn konnte sich über einen spektakulären Wahlsieg über die Sozialdemokraten und über die absolute Mehrheit in Parlament freuen, die Bürgerdemokraten von der ODS in Tschechien konnten sich trotz pessimistischer Wahlprognosen an der Macht halten und die zwei Kandidaten der Mitte-Rechts-Parteien Bronisław Komorowski (PO) und Jarosław Kaczyński (PiS) in Polen haben ihre Mitstreiter weit hinter sich gelassen und stehen nun vor dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 4. Juli.
Was die Kommentatoren in Westen aufschrecken ließ, waren die beunruhigenden Begleiterscheinungen dieser Wahlen. Eine merkwürdig erhitzte Stimmung hatte sich breit gemacht. Die Wahlkämpfe, mit Zwischenfällen wie Morddrohungen an den Kaczynski-Kritiker und Holocaust-Überlebenden Władysław Bartoszewski oder mit öffentlichen körperlichen Angriffen auf Politiker in Tschechien, waren aggressiver als in den letzten Jahren.
Auch die Wahlergebnisse versetzten die Beobachter in Staunen. So gewann die als rechtsextrem geltende Jobbik-Partei fast 17 Prozent der Stimmen in Ungarn, die liberale SZDSZ, die über 20 Jahre hinweg die ungarische politische Landschaft der Zeit nach dem Systemwechsel prägte und die Auflösung des alten kommunistischen Regimes mittrug, errang keine Sitze im Parlament und verschwand faktisch von der politischen Bühne. In Tschechien hatten die Sozialdemokraten und Bürgerdemokraten immense Stimmverluste zu verzeichen, dafür zogen zwei neue Parteien ins Parlament, wovon die Bewegung „Věci Veřejné“ (Öffentliche Angelegenheiten), vom früheren populären TV-Moderator Radek John angeführt, mit einem populistischen Wahlkampf und einer negativen Kampagne fast zehn Prozent der Stimmen gewinnen konnte. Zudem zeichnet sich in Tschechien ein politisches Patt ab, da auf längere Sicht eine stabile Mehrheit der bürgerlichen Parteien mehr als unsicher ist. In Polen wirbt Jarosław Kaczyński für sich mit den Versprechen „die Mission des verstorbenen Präsidenten zu vollenden“ und mit Anspielungen auf die Besonderheiten der polnischen Volksgemeinschaft.
In all diesen Ländern fanden die Wahlen unter besonderen Umständen statt: in Anbetracht der weltweiten Wirtschaftskrise, einer „nationalen Katastrophe“ in Polen (wie man dort den Flugzeugabsturz des Staatspräsidenten und weiterer führender Vertreter des öffentlichen Lebens nennt), als Spätfolgen eines nationalen Skandals (der Lügenrede des Premierministers Ferenc Gyurcsány von 2006 in Ungarn, die zu tagelangen schweren Ausschreitungen auf den Straßen Budapests führte), der Zersplitterung der Regierungspartei (Tschechien) oder einer längeren Periode von Expertenregierungen (Tschechien, Ungarn). In Anbetracht dieser Umstände wundert es nicht, dass die Wahlkämpfe in all diesen Länder als die emotionalsten seit Jahren galten. Doch wenn man das politische Leben der Region in einer längerfristigen Perspektive betrachtet, erscheint diese Erklärung zu kurz geraten zu sein.
Die Lage ist weitaus komplizierter. Seit 1989 haben die genannten Länder eine rasante Entwicklung durchgemacht. Der neoliberale Zeitgeist schlug in Osteuropa stärker durch als in Westeuropa. Die wesentlichen Reformeliten hatten aus den Erfahrungen der Staatsplanwirtschaft die Lehre gezogen, dass der Staat zur Regulierung der Wirtschaft besser nicht herangezogen werden sollte. Jetzt gerät das Konzept der Ökonomisierung als Leitidee in die Kritik. Die Geschehnisse der letzten Monate können zum einem mit dem Frust über die Qualität und das Ideenvakuum der eigenen politischen Klasse und mit einem – für diese Region typischen – verkürztenDemokratieverständnis erklärt werden. Denn für viele war Demokratie zunächst identisch mit der Durchsetzung eines nicht näher definierten gemeinen Volkswillens. Somit wird die soziale Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die damit verbundene Entstehung von sozialen Schichten grundsätzlich abgelehnt.
Zum anderen zeichnet sich in den letzten Jahren in Ostmitteleuropa ein Mentalitätsumbruch ab. Er resultiert aus dem Konflikt zwischen dem sich neu herausbildenden Selbstbewusstsein und dem jahrhundertealten „Europa-Komplex“, der um das Bewusstsein des gleichen kulturellen aber nicht politischen Raumes wie der Länder Westeuropas oszilierte und der nach 1989 verstärkt aufgelebt ist. Seit dem Systemwechsel wurde viel über die Rückkehr dieser Staaten nach Europa geschrieben. Sie wurden meistens als die Sorgenkinder Europas betrachtet, die noch „nicht angekommen sind“ und einen langen Weg vor sich haben, bis sie den „alten Ländern“ der Europäischen Union wirtschaftlich und zivilisatorisch das Wasser reichen können.
Gerade mit der weltweiten Wirtschaftskrise seit Ende 2008 kam es zu einer Verschiebung in der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung des europäischen Umlands. Volkswirtschaften, die wie Irland und Spanien als Paradebeispiele für einen wirtschaftlichen Aufstieg galten, wurden viel stärker durch die Krise getroffen hat als die Vysehrad-Länder. Polen konnte zuletzt sogar als eines von wenigen Ländern ein Wirtschaftswachstum vorweisen. Es entsteht zurzeit ein neues Nord-Süd-Gefälle, welches das Ost-West-Gefälle, das lange Zeit eine identitätsstiftende Rolle gespielt hat, überschatten könnte.
Diese Entwicklung wird begleitet und verstärkt von einer immensen Beschleunigung und einer Revolution der Kommunikationskanäle im öffentlichen Diskurs. Es eröffnen sich rasch neue Konfliktlinien, Fronten verhärten sich und brechen in kurzer Zeit wieder auf. Dies spiegeln die Ergebnisse der Parlamentswahlen wieder. Es fallen starke Zugewinne von Parteien auf, die entweder erst seit kurzem existieren, oder die bisher in den Parlamenten nicht vertreten waren oder nur eine marginale Rolle gespielt haben. Andere Parteien, die über Jahre das politische Geschehen in Ostmitteleuropa geprägt haben, wie die Liberalen in Ungarn, die Grünen in Tschechien oder die nationalkonservative slowakische Partei ĽS–HZDS des ehemaligen Premierministers Vladimír Mečiar scheitern an der Sperrklausel und schaffen nicht den erneuten Einzug ins Parlament. Geringe Mitgliederzahlen und die schwache Verwurzelung der politischen Parteien in der Gesellschaft verstärken diesen Trend. So können sich die Parteien nicht auf stabile Stammwählerschaften stützen. Es wird auch immer wieder betont, dass die Parteien als neue politische Institutionen von der Bevölkerung als vom Westen importierte „Leerformen“ empfunden werden. Deswegen finden gerade Anti-Parteien-Parteien sehr verschiedener Ausrichtung wie etwa die LMP und Jobbik in Ungarn, oder Věci Veřejné in Tschechien viel Gehör.
Die Einsicht, dass der Politiktransfer aus Westen allein keine Prosperität garantiert, macht eine andere Art von Ideen- und Programm-Recycling immer populärer. Eine Rückbesinnung auf Werte und Vorbilder, die auf aus den Eigenarten der jeweiligen nationalen Geschichte gründen, ist zu beobachten. Die Parteiführer unterstreichen gerne den Sonderweg ihrer Heimatländer, beschwören nationale Mythen und driften dabei leicht in alte Stereotypen ab, die oft auf ein totales Unverständnis in Westen stoßen.
Klaudia Hanisch ist Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie beobachtet regelmäßig das politische Geschen in Ostmitteleuropa.