[präsentiert:] Teresa Nentwig über die beiden Literaturnobelpreisträger Jean-Paul Sartre und Patrick Modiano.
Ein schüchtern wirkender älterer Herr, bekleidet mit einem Polohemd und einem Sakko, betritt zögerlich den Raum. Sofort branden Applaus und Begeisterungsrufe auf. Der ältere Herr versucht immer wieder, sich ein Lächeln zu entlocken. Mehrfach ergreift er den für ihn bereitgestellten Stuhl – so, als suche er Halt. Ganz wohl scheint er sich jedenfalls nicht zu fühlen angesichts der Aufmerksamkeit, die er in diesen Minuten erhält.
Diese Szene spielte sich am 9. Oktober 2014 in Paris ab. Der ältere Herr ist der diesjährige Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano, geehrt „für die Kunst der Erinnerung, mit der er die unbegreiflichsten menschlichen Schicksale wachgerufen und die Lebenswelt der Besatzungszeit durchschaubar gemacht hat“. Nachdem der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie bekanntgegeben hatte, dass der 69-jährige Franzose dieses Jahr den höchsten literarischen Preis der Welt erhält, beraumte dessen Verleger noch für den gleichen Tag eine Pressekonferenz in den Verlagsräumen an. Doch Modiano, der seit 1968 fast jedes Jahr ein neues Buch veröffentlicht, war nun, vor rund 15 Fernsehmikrofonen sitzend, beinahe sprachlos – er stockte immer wieder, suchte nach Wörtern. Für ihn war die Situation sichtlich ungewohnt, äußert er sich doch normalerweise kaum in der Öffentlichkeit und verbringt die Zeit lieber in seiner geräumigen Pariser Wohnung.
Seine Zurückgezogenheit, die so sehr in Kontrast zu der Medienpräsenz vieler anderer Schriftsteller steht, kam besonders prägnant zum Ausdruck, als Modiano bei der Pressekonferenz auf die Frage antwortete, wie er von der Preisverleihung an ihn Kenntnis erhalten habe: „Als ich es erfuhr, ging ich gerade spazieren. Ich war ein wenig überrascht. Das war unerwartet.Also ging ich weiter, um mich mit der neuen Situation vertraut zu machen. Natürlich ist das ein wenig schwierig für mich. Wenn man schreibt, dann ist man eine gewisse Form von Einsamkeit gewöhnt. Es war, als ob ich mich auflöse. Wie die Verdoppelung von jemandem, der so heißt wie ich. Ich wusste, dass mein Name auf einigen Favoritenlisten stand, aber all das war ein bisschen realitätsfern.“ Doch letztlich, so Modiano weiter, sei er „umso gerührter“, weil er einen Enkelsohn habe, der Schwede sei. „Ihm widme ich diesen Preis.“
* * *
Paris, fast exakt fünfzig Jahre zuvor. „Jean-Paul Sartre Favorit für den Literaturnobelpreis“, schrieb die französische Tageszeitung Le Monde am 20. Oktober 1964 – zwei Tage bevor die Schwedische Akademie ihre Entscheidung bekanntgab. Zu diesem Zeitpunkt befand sich bereits ein Brief auf dem Weg nach Schweden. Seinen Bestimmungsort – die Schwedische Akademie in Stockholm – hatte er allerdings noch nicht erreicht. Der Absender lebte in Paris. Es war Jean-Paul Sartre. Im Figaro littéraire, der wöchentlichen Literaturbeilage der Tageszeitung Le Figaro, hatte er schon am 15. Oktober 1964 gelesen, „daß die Wahl der Schwedischen Akademie auf mich fallen könnte, aber noch nicht gefallen war“. Sartre hatte daraufhin zur Feder gegriffen und der Schwedischen Akademie mitgeteilt, dass er nicht auf der Liste möglicher Preisträger stehen wolle und er die Auszeichnung weder 1964 noch später akzeptieren werde. Er war nämlich der Überzeugung, „daß ich durch einen Brief an die Akademie […] die Sache klarstellen könnte und man weiter kein Wort darüber verlieren würde“.
Doch es kam bekanntlich anders. „Die Sache“ ließ sich nicht einfach „klarstellen“, wie Sartre es sich gewünscht hatte. Er wollte den Literaturnobelpreis nicht erhalten; und die Schwedische Akademie wollte von ihrer Entscheidung, Sartre die Auszeichnung des Jahres 1964 zu verleihen, nicht abrücken. Zunächst, am 20. Oktober 1964, ließen der Ständige Sekretär der Schwedischen Akademie und der Präsident des Nobelkomitees zwar verlautbaren, dass sie keinen Brief Sartres bekommen hätten; doch zwei Tage später gab die Akademie nicht nur bekannt, dass Sartre den Nobelpreis für Literatur bekomme; darüber hinaus bestätigte ihr Ständiger Sekretär den Erhalt eines vertraulichen Briefes des französischen Schriftstellers. Über den Inhalt hüllte er sich jedoch in Schweigen. Mit dieser Bestätigung des Briefes war klar, dass die Schwedische Akademie, die über die Verleihung des Literaturnobelpreises entschied, sich nicht von dem Brief Sartres hatte beeinflussen lassen. Der Franzose wurde so zum „Preisträger wider Willen“[1].
Nachdem bekannt war, dass der Nobelpreis an Sartre ging, dieser die Entgegennahme aber ablehnte, wurde Sartre 48 Stunden lang von Journalisten verfolgt – sie wollten von ihm wissen, warum er den Preis zurückweise. Doch Sartre lehnte jeglichen Kommentar ab. Mehrere Journalisten gingen sogar so weit, die Türen der Taxis aufzureißen, in die er vor der Meute flüchtete. Am Ende sah sich der so Bedrängte gezwungen, über seine Beweggründe zu sprechen. Er tat dies in aller Ausführlichkeit, wobei er allerdings, um Missverständnisse zu vermeiden, eine Pressekonferenz ablehnte. Stattdessen übermittelte Sartre dem Repräsentanten seines schwedischen Verlegers in Frankreich eine Erklärung, die anschließend schwedischen Journalisten übergeben und daraufhin in der Presse veröffentlicht wurde.
Der damals 59-Jährige unterschied in seiner Erklärung „zwei Arten von Gründen“: „persönliche und sachliche“. Zu den persönlichen Gründen führte Sartre an, dass er offizielle Ehrungen schon immer abgelehnt habe. „Diese Haltung“, so Sartre, „beruht auf meiner Vorstellung von der Arbeit eines Schriftstellers. Ein Autor, der politisch, gesellschaftlich und literarisch Stellung bezieht, sollte nur mit seinen eigenen Mitteln handeln, d. h. mit dem geschriebenen Wort. Alle Ehrungen, die er annimmt, setzen seine Leser einem Druck aus, den ich nicht für wünschenswert halte. Es ist nicht das gleiche, ob ich mit ‚Jean-Paul Sartre‘ unterschreibe oder mit ‚Jean-Paul Sartre, Nobelpreisträger‘. […] Der Schriftsteller sollte sich also weigern, sich in eine Institution verwandeln zu lassen, selbst wenn es – wie hier – unter den ehrenvollsten Bedingungen geschieht.“
Die „sachlichen Gründe“, die Sartre für die Ablehnung des Literaturnobelpreises vorbrachte, waren weitaus umfangreicher. Unter anderem führte er an, dass der Nobelpreis angesichts des herrschenden „Kalten Krieges“ als eine Auszeichnung erscheine, „die den Schriftstellern des Westens und den Rebellen des Ostens vorbehalten ist“. „Bedrückt“ habe ihn, so Sartre schließlich am Ende seiner Erklärung, dass „die Ehrung mit einer enormen Geldsumme“ verbunden sei, mit der man „Organisationen oder Bewegungen unterstützen“ könne, „die man für wichtig hält“. Er „selber habe an das Londoner Apartheid-Komitee gedacht“. Doch am Ende habe er sich entschieden, auf die 250.000 Kronen (damals 220.000 Mark) zu verzichten, „weil ich weder im Osten noch im Westen institutionalisiert werden möchte“, so Sartre.
Rund anderthalb Monate nach dieser Stellungnahme, am 10. Dezember 1964, wurden die Nobelpreise in Stockholm feierlich verliehen. Und auch wenn Sartre der Veranstaltung fernblieb – sein Name war doch präsent. Denn in seiner Festrede sprach der Mediziner Sten Friberg in überschwänglichen Worten von Sartre. Alfred Nobel habe davon geträumt, die Welt zu verbessern. Danach strebe auch Sartre. Als Schriftsteller und Philosoph, so Friberg weiter, sei Sartre eine zentrale Figur der literarischen und intellektuellen Nachkriegswelt gewesen. Er sei bewundert, diskutiert, auch kritisiert worden. Sein gesamtes Werk habe den Charakter einer Botschaft.
Fünfzig Jahre später wird mit Patrick Modiano ein Schriftsteller mit dem Literaturnobelpreis geehrt, der – ganz anders als Jean-Paul Sartre – das Licht der Öffentlichkeit meidet und nicht viel von sich preisgibt. Bereits bei der Pressekonferenz vom 9. Oktober 2014 offenbarte er, dass seine Rede am 10. Dezember 2014 in Stockholm auch „ein bloßer Text“ werden könnte, denn es mache ihm „Angst“, wenn etwas Persönlich-Intimes durchscheine. „Einfacher“ sei es dagegen, „über die anderen zu sprechen“.
Dr. Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] Piatier, Jacqueline: Un lauréat malgré lui, in: Le Monde, 23.10.1964.