Der Niedergang der FDP (3/4)

Beitrag verfasst von: Franz Walter

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[analysiert]: Franz Walter analysiert Etappen von Niedergang und Aufschwung der Liberalen in Deutschland.

Die Freien Demokraten im unaufhaltsamen Niedergang? Diese Frage wird seit den Landtagswahlen in Sachsen wieder vermehrt öffentlich diskutiert. Die FDP stellt – erstmals – keine Minister mehr, weder im Bund noch in den Ländern. In Umfragen liegt sie nun schon seit Monaten konstant unter fünf Prozent. Doch hat die Erosion des parteipolitischen Liberalismus einen langen Vorlauf. Franz Walter hat darüber bereits Ende 1995 in einem Kolloquium der sozialwissenschaftlichen Fakultät referiert, das Drama der FDP früh – aber eben auch zu früh – antizipiert. Wir dokumentieren den damaligen Vortrag aus Gründen anhaltender Aktualität. In den kommenden Tagen folgen die weiteren Teile. Teil 1 können Sie hier lesen, Teil 2 finden Sie hier.

Anders steht es mit einer zweiten Funktion, die die FDP ausübte: die der Korrektivpartei innerhalb einer Koalition, innerhalb eines politischen Lagers.

Was ich damit meine, möchte ich im Folgenden begründen und illustrieren.

1) Nach dem Desaster der nordrhein-westfälischen Jungtürkenstrategie siedelte sich die FDP unter ihrem neuen Bundesvorsitzenden Erich Mende wieder ganz dezidiert im bürgerlichen Lager, wie es die Liberalen zeitgenössisch nannten, an. Sie suchte die Nähe zur Union und wollte die Koalition mit der CDU/CSU. Allerdings wollten die Liberalen nicht das Schicksal der anderen protestantischen Kleinparteien teilen und von der Union in der Koalition vereinnahmt und absorbiert werden. Daher empfahlen sie sich als eine Korrektivpartei in einer Koalition mit den Christdemokraten. Sie reaktivierten dafür den Antikonfessionalismus, kritisierten die Sozialpolitiker der Union. Am prononciertesten aber kam das Prinzip der unmissverständlichen Koalitionsentscheidung mit dem gleichzeitigen Signal des Korrektivs in der Wahlkampfparole 1961 zum Ausdruck: „Mit der CDU/CSU aber ohne Adenauer“. Das brachte den bundesdeutschen Liberalen den größten Wahlerfolg in ihrer Geschichte [Stand 1995].

2) Nach dem gleichen Rezept kam die FDP auch nach 1970 wieder auf die Beine. Eine Rückkehr zur Union war zu diesem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen und wurde damals auch von niemandem in der neuen Parteiführung, mit der bezeichnenden Ausnahme von Hans Dietrich Genscher, erwogen. Die FDP musste sich in der Koalition stabilisieren. Und das gelang ihr, wieder als Partei des Korrektivs, diesmal gegenüber den Sozialdemokraten, genauer: gegenüber Juso-Parolen zur Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien; gegenüber Mitbestimmungsforderungen der Gewerkschaften; gegenüber den sozialpolitischen Plänen der sozialdemokratischen Partei und Bundestagsfraktion insgesamt. Das brachte die Partei wieder in die Landtage, 1972 sicher in den Bundestag. Die FDP hatte als Korrektivpartei zwischen 1972 und 1976 eine glänzende Periode.

3) Das alles wiederholte sich, drittens, nun in einer neuen Konstellation, in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. 1984 galt die FDP noch als Dame ohne Unterleib, da sie nur noch in fünf von elf Landtagen vertreten war. Die Totenglocken läuteten wieder einmal. Dann aber, ab 1985, kehrte sie in die Länderparlamente zurück. Die FDP war wieder Korrektivpartei, jetzt erneut im bürgerlichen Koalitionslager. Sie gab sich marktwirtschaftlicher als die Union; in der Innenpolitik liberaler als die CSU-Repräsentanten im Innenministerium, und mit Genschers Fortsetzung der sozialliberalen Entspannungs- und Ostpolitik hob sie sich von der sogenannten „Stahlhelmfraktion“ in der Union ab. Die FDP wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gleichsam zur Ventilpartei, zum Medium für unzufriedene Unionswähler. Als Wanderer zwischen den Lagern hätte die FDP den Ärger früherer Unionswähler nicht kanalisieren und für sich nutzen können. Als Korrektivpartei im bürgerlichen Lager aber gelang ihr das vorzüglich.

Aber auch diese Strategie hatte ihre Tücken; auch sie trug zum Niedergang der FDP bei. Denn die FDP profilierte sich als Korrektivpartei vorwiegend negativ, in erster Linie aus der Abgrenzung vom großen Koalitionspartner. Dadurch aber vernachlässigten die Freien Demokraten die Konstruktion einer selbsttragenden liberalen Identität und Programmatik. Der Liberalismus reduzierte sich so allein auf eine taktische Funktion. Als Partei mit eigene Substanz erschien die FDP nicht mehr. Sie warb hauptsächlich um die taktischen Wähler, diejenigen vor allem des großen Koalitionspartners. Das raubte der FDP zunehmend die Eigenständigkeit. Feste Wählerbindungen entstanden so nicht.

Aber gab es für solche Wählerbindungen, für ein liberales Stammwählerpotential überhaupt Chancen? Die klassischen Wählerfundamente der FDP zumindest waren in den 1960er Jahren im früheren Umfang nicht mehr zu halten gewesen. Der alte Mittelstand war stark zusammengeschrumpft. Vor allem der Rückgang der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft war in den 1950er Jahren eklatant. Insgesamt nahm der Anteil der Selbständigen und ihrer mithelfenden Familienangehörigen zwischen 1950 und 1991 von 28 Prozent auf neun Prozent ab. So brachen den Freien Demokraten die früheren Grundlagen weg. Auch die überlieferten Feindbilder gingen den Liberalen allmählich verloren. Die CDU war in den 1960er Jahren weniger katholisch; die Sozialdemokraten hatten sich in Godesberg von den Restbeständen des Marxismus getrennt. Die Schwarzen waren also nicht mehr richtig schwarz, die Roten nicht mehr richtig rot. Das nahm den Liberalen ihre Abgrenzungsidentität, die lange die liberalen Anhänger verbunden hatte. Die altliberale Honoratiorenwelt ging in diesem Jahrzehnt unter. Die bundesdeutschen Parteien entideologisierten sich in den 1960ern, die Gesellschaft entkonfessionalisierte sich, enttraditionalisierte sich allmählich.

Aber darin lagen zugleich auch beträchtliche Chancen für die Freien Demokraten. Denn im Grunde wurde die Gesellschaft dadurch auch aufgeschlossener für liberale Einstellungs- und Verhaltensmuster. Ein Teil des frühliberalen Normenkatalogs, aus den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, erfuhr jetzt gewissermaßen eine Renaissance, auf neuer, gesellschaftlich sehr viel breiterer Basis: Autonomie etwa, Mündigkeit, Bildung, Individualität. Eine neue Mittelschicht bildete sich heraus, die diese Werte transportierte, infolge der Tertiärisierung der Gesellschaft, durch die Bildungsexpansion, die in diesem Jahrzehnt einsetzte. Dagegen verloren die großen Kollektivorganisationen und industriellen Organisationsformen, mit denen die Liberalen historisch so viele Probleme hatten, sukzessive an Bedeutung.

Insbesondere die beiden Bundesgeschäftsführer der FDP in den 1960er Jahren, Karl Hermann Flach und Hans Friderichs, wollten diesen Trend nutzen und den Liberalismus auf neue soziologische und normative Fundamente stellen, wollten ihn für die neuen, eher linkslibertären Schichten öffnen, wollten die FDP bürgerrechtlich-radikaldemokratisch ausrichten. Besonders massiv trieb Hans Friderichs diese Entwicklung zwischen 1966 und 1968 voran. Aber er wurde im Sommer 1968 abgebremst von Walter Scheel und Hans Dietrich Genscher, die an einen bedeutsamen Wandel der Gesellschaft und der Werte nicht glaubten, das alles für akademische Soziologie, für Feuilleton hielten. Nach Bildung der sozialliberalen Koalition ging der Trend in der FDP dann sowieso nach rechts, trotz der in Öffentlichkeit und Wissenschaft maßlos, wie ich meine, überschätzten Freiburger Thesen. Die FDP positionierte sich als Korrektiv zur SPD und verzichtete darauf, ein linksliberales oder radikaldemokratisches Image herzustellen. 1978 schließlich verpasste sie wohl endgültig die letzte Chance, noch auf die linkslibertären, nun besonders ökologisch disponierten Teile der neuen Mittelschichten einzuwirken. Parteitage beschlossen distanzierende Resolutionen zur Kernenergie, aber die Bundesminister setzten sich darüber hinweg. Im Ganzen hat die FDP zwischen 1968 und 1978 wohl die Gelegenheit versäumt, sich ein neues, vergleichsweise festes Wählerpotential zu erschließen, das eher bürgerrechtlich-linksliberal orientiert war. Auch deshalb konstituierten sich die Grünen und ersetzten am Ende die FDP.

Den vollständigen Vortrag  gibt es hier zum Download.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.