[analysiert]: Julia Kiegeland und Florian Schuck über die Weberʼschen Idealtypen
Es ist abstrakt, denkbar willkürlich und dennoch von großem methodischen Nutzen. Es findet sich in den Bereichen der Betriebswirtschaftslehre[1], der Politikwissenschaft[2] und in phänomenologischen Untersuchungen zur Landschaftsplanung[3]. Kaum ein Student, eine Studentin und schon gar nicht die Professoren und Professorinnen der Sozialwissenschaften kommen an ihm vorbei: dem Weberʼschen Konzept des Idealtypus. Trotz ihrer heutigen starken Verbreitung erfahren das Konzept und die Logik des „Idealtypus“ Kritik, selbst innerhalb der Sozialwissenschaften.[4] Denn Max Webers methodisches Vermächtnis erscheint auf den ersten Blick zweifelsohne als wenig wissenschaftlich. Scheinbar willkürlich gewählte Variablen kombinieren und letzten Endes als Idealtyp deklarieren – kann so Wissenschaft funktionieren? Kann die Realität mit etwas gemessen werden, was es in ihr gar nicht gibt?
Um dieser Frage nachzugehen, lohnt sich ein beispielgebundener Blick auf Webers Idee hinter dem Konstrukt des Idealtyps. Jedoch nicht mittels der klassischen von Weber selbst gewählten Idealtypen, wie Herrschaftsformen und Handlungstypen, sondern anhand eines neuzeitlich medial verbreiteten Phänomens, das alsbald sozialwissenschaftliche Beachtung erfahren hat. Dazu eine kleine gedankliche Zeitreise: Der Protest im Spätsommer 2010 ist hitzig, der Widerstand gegen den geplanten und bereits beschlossenen Bahnhof Stuttgart 21 groß. Bundesweit hält die Berichterstattung an und eine findige Wortneuschöpfung verbreitet sich in den journalistischen Schilderungen: Der ‚Wutbürger‘ sei auf den Straßen Stuttgarts unterwegs.
Aber was oder wer genau ist der ‚Wutbürger‘? Der polemisch und negativ konnotierte Neologismus entsteht ausschließlich aus der Fremdzuschreibung des Spiegel-Journalisten Dirk Kurbjuweit.[5] Weder existiert ein verbindliches Gruppenselbstverständnis, noch ist der Status des ‚Wutbürger‘ über eine formale Mitgliedschaft zu erwerben. Kurbjuweits ‚Wutbürger‘ stellen also genau das dar, was der Journalist selbst in den Protestierenden zu erkennen glaubt. Folgt man seinen Beobachtungen, so gestaltet sich der Protest dieser durchweg gut situierten Demonstrierenden egoistisch und ist auf rein ökonomische Partikularinteressen zurückzuführen. Dieses Protestverhalten aber ist unvereinbar mit Kurbjuweits Verständnis eines gesitteten Bürgerverhaltens und daher mindestens skeptisch zu betrachten, im Grunde sogar abzulehnen.
Kurzum: Es macht sich eine neue Gestalt in der deutschen Gesellschaft wichtig: der ‚Wutbürger‘.[6] Diese polemische Einordnung erfährt binnen kürzester Zeit breite mediale Aufmerksamkeit – und erzeugt ebenso zügig einen starken Widerspruch. Insbesondere seitens der Bewegungsforschung wird die Existenz einer völlig neuen Spezies von Protestierenden oder gar das Entstehen einer neuen Protestkultur mehrfach hinterfragt. Mehrere Studien haben infolgedessen das Ziel, die Besonderheit der dort Protestierenden zu erfassen.[7]
Nutzen wir das Konzept des Idealtypus und wenden es auf den ‚Wutbürger‘ an. Grundsätzlich gilt, dass die Beschreibung des Journalisten an seine subjektive Wahrnehmung der Situation in Stuttgart gebunden ist, er fasst zusammen was ihm auffällt, und überzeichnet, kollektiviert und „schablonisiert“ seine Idee des ‚Wutbürgers‘. Weber zufolge wird der Idealtyp „gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus oder diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“[8] Kurbjuweits Beschreibung fügt demnach die für ihn relevanten Merkmale des ‚Wutbürgers‘ zusammen.
Verwenden wir diese kombinierten Eigenschaften als Idealtyp, erhalten wir ein wissenschaftlich nutzbringendes Werkzeug. Dieses Werkzeug entstammt in seiner grundlegenden Wahrnehmung der Realität, wird jedoch so weit abstrahiert, dass es in der Realität nicht mehr deckungsgleich anzutreffen ist. Denn klar ist, die einzelnen Menschen, die dort protestieren, sind keinesfalls alle gleich und genau das, was Kurbjuweit unter dem ‚Wutbürger‘ versteht. Aber wenn etwas an ihnen als Protestierenden neu ist, so lässt sich dies nun im Kontrast zu der Beschreibung des ‚Wutbürgers’ hervorheben. Somit erfüllt der Idealtyp des ‚Wutbürgers‘ ein weiteres Kriterium der Weberʼschen Idealtypen: Sie sind „nicht-falsifizierbare, idealisierte theoretische Modelle“[9] und ermöglichen – gerade weil sie nicht falsifizierbar und nicht in der Realität anzutreffen sind – daher das Generieren neuer Forschungshypothesen –welche indes durchaus falsifizierbar sind.
Und diese Hypothese prüfen nun die Sozialwissenschaftler: Sind die Protestierenden, die ‚Wutbürger‘ von Stuttgart 21, wirklich so ungewöhnlich? Ihre Ergebnisse sind eindeutig: Eine völlig neue Art der Protestierenden, den Wutbürger, gibt es nicht. „Der despektierliche Wutbürger ist ein mediales Leuchtfeuer, der mit der Stuttgarter Realität wenig gemein hatte“[10]. Dennoch erlaubt der Idealtypus ‚Wutbürger‘ den Forschern, die soziale Wirklichkeit zu betrachten und ihre Ausprägungen an den Extremen des Idealtypus zu messen; die Forscher stoßen dabei in ihren Ergebnissen auf Realtypen. Realtypen beschreiben wirkliche Situationen, Vorkommnisse oder Abläufe und beinhalten stets Elemente des Idealtypen, wenngleich zu wechselnden Anteilen und in schwankender Intensität.
Im Kontrast zu den Realtypen wird sichtbar, was die Verwendung eines Idealtypus als Methode so exquisit macht. Während der Realtyp von wirklich existierenden Vorgaben oder historischen Momenten abgeleitet wird, also greif- bzw. nachweisbar ist, entspringt der Idealtypus der Idee der Realität und vereinfacht und überzeichnet sie. Er erlaubt eine Skalierung, eine Messung des Alltäglichen, des unfassbar Komplexen, und schafft so einen Rahmen. Dieses Prinzip findet sich in der Wissenschaft nicht erst seit Webers Idealtypen wieder, denn jedes Maßsystem, das konstruiert worden ist, folgt der gleichen Idee: Ein Zentimeter existiert als solcher nicht, aber die Idee von ihm misst etwas sehr Reales – beispielsweise die Länge eines neugeplanten Bahnhofes.
So dient der Idealtypus allein der Ordnung im Geiste, die nötig ist, um die gegenwärtige und vergangene Wirklichkeit und ihre individuellen, kulturellen und sozialen Momente, die keinerlei wissenschaftlichen Gesetzen folgen, zu erfassen, methodisch zu ordnen und zu vergleichen. Denn in der Sozialwissenschaft ist und bleibt der Vergleich das Werkzeug a priori.
Julia Kiegeland arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung und ist Redaktionsmitglied von INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft. Ihre Schwerpunkte sind die politische Kommunikation und die politische Idee Hannah Arendts. Florian Schuck studiert Politikwissenschaft im Master an der Universität Kassel. Seine Schwerpunkte liegen in der politische Kommunikation und der politische Theorie.
[1] Homo Oeconomicus; siehe dazu Pareto, Vilfredo: Manuale déconomia politica, Mailand 1906.
[2] Weber, Max: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1973, S. 146-214.
[3] Siehe dazu URL: http://www.wzw.tum.de/loek/forschung/download/wildnis_wald_berg_schwarzer.pdf [eingesehen am 18.08.2014].
[4] Schmid, Michael: Kultur und Erkenntnis. Kritische Bemerkungen zu Max Webers Wissenschaftslehre, in: Berliner Journal für Soziologie, H. 4/2004, S. 545-560.
[5] Kurbjuweit, Dirk: Der Wutbürger, in: Der Spiegel, 11.10.2010, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-74184564.html [eingesehen am 25.11.2014].
[6] Ebd.
[7] Siehe dazu Baumgarten, Britta/Rucht, Dieter: Die Protestierenden gegen „Stuttgart 21“ – einzigartig oder typisch?, in: Brettschneider, Frank/Schuster, Wolfgang (Hrsg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz, Wiesbaden 2013,; Göttinger Institut für Demokratieforschung: Bürgerproteste in Deutschland Ergebnisse der BP-Gesellschaftsstudie, URL: https://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2013/01/Gesellschaftsstudie.pdf [eingesehen am 24.11.2014].
[8] Weber:, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, S. 191.
[9] Albert, Gert: Idealtypen und das Ziel der Soziologie, in: Berliner Journal für Soziologie, H. 17/2007, S. 51.
[10] Bebnowski, David: Der trügerische Glanz des Neuen: Formiert sich im Protest gegen „Stuttgart 21“ eine soziale Bewegung?, in: Brettschneider/Schuster (Hrsg.): Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz,, S. 145.