[Göttinger Köpfe]: Franz Walter über den Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz.
Es war idyllisch. Als Gerhard Leibholz 1931 einen Ruf an die Georg-August-Universität Göttingen erhielt und im Oktober mit seiner Familie das neue Haus bezog, schien die Welt noch ganz in Ordnung. Leibholz wohnte, wie so viele andere Professoren der Georgia Augusta, in der Herzberger Landstraße (Nr. 57), im Villenviertel der Universitätsstadt. Das Haus lag ein ordentliches Stück von der Straße entfernt und hatte einen wunderschönen Obstgarten. Der Wein rankte sich ein farbig schimmernd den Mauern hoch. Auf der südlich gelegenen Veranda pflegten sich der Hausherr und sein Schwager, Dietrich Bonhoeffer, gern zu sonnen.
Aber im Grunde war nichts in Ordnung. Allein die Umstände der neuen Professur zeigten das an. Auf der offiziellen Berufungsliste der Fakultätsmehrheit war Leibholz nicht platziert. Leibholz, hernach einer der großen Staatsrechtler in Deutschland, schaffte es an die Göttinger Universität allein, weil der sozialdemokratische Kultusminister in Preußen, Adolf Grimme, in die Autonomie der Universität eingegriffen und ihn berufen hatte. Das war eines der vielen Beispiele dafür, dass in der (auch gegenwärtig wieder so hoch gepriesenen) Universitätsautonomie keineswegs einzig Segen und Vernunft lag. Die Mehrheit der Professoren – nicht nur, aber vor allem auch in Göttingen – war rechtskonservativ und deutschnational eingestellt; die Majorität der Studierenden – nicht allein, aber besonders in Göttingen – neigte längst vor 1933 den Nationalsozialisten zu. Im autonomen Bereich der Universität war nicht viel Republikanismus zu finden. Leibholz war Protestant, doch jüdischer Herkunft. Das allein reichte, dass ihn in Göttingen das Gros der Exzellenzen in der Rechtswissenschaft nicht wollte.
Dabei war Leibholz keineswegs ein Mann der Linken. Seine 1933 erschienene Schrift „Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild“ war sogar in das nationalsozialistische Schriftenverzeichnis aufgenommen worden. Schon seine Antrittsvorlesung im Jahr 1928 handelte vom italienischen Faschismus, dem er positiv die Vitalisierung des Staates attestierte und trotz dessen autoritärer Repräsentation demokratisch-volksgebundene Züge gutschrieb. So wenig ihn dies zu einem rechten Extremisten machte: Ein Liberaler war er, 1901 als Sohn eines jüdischen Tuchfabrikanten geboren, auch und erst recht nicht. Seine prononcierte Distanz zum Liberalismus – hier zeigten sich einige, auch sprachlich deutlich zu identifizierende Parallelen zum dreizehn Jahre älteren Carl Schmitt, den er schätzte – bildete gewissermaßen den Ausgangspunkt seiner eigenen Lehre zum modernen Staatswesen im massendemokratischen Zeitalter. Leibholz hielt die liberal-parlamentarische Ära für abgelaufen; die Philosophie, die sie getragen hatte, für historisch überholt. In der Massendemokratie sah Leibholz keinen Platz mehr für die liberalen Honoratioren, die allein Kraft ihrer Persönlichkeit und Qualifikation ihre parlamentarische Stellung erlangt hatten und mittels ergebnisoffener Debatten diskursiv zu politischen Entscheidungen kamen.
Mittlerweile hatte sich das Volk in all seinen Teilen emanzipiert und in das politische Feld begeben. Dort allerdings konnte es nur in Gestalt der Parteien Wirkung auf die Politik und damit auf den Staat ausüben, so Leibholz. Allein die Parteien waren in der Lage, die Aktivbürger zu aktionsfähigen Gruppen zu bündeln und ihren Willen gleichsam in rational plebiszitärer Form in den Staat zu transferieren. Parteien waren dabei mehr als nur Zwischenglieder. Sie waren die Repräsentanten des Volkswillens schlechthin, die Vollzugsinstanz des volonté général, über die sich die Identität von Volk und Staat herstellte. Im Parteienstaat erfüllte sich Leibholz zufolge die moderne Demokratie. Parteien wirkten demnach nicht nur am politischen Willensakt mit; in ihrem Binnenraum allein konnte er sich vollziehen. Im Grunde kam es in letzter Konsequenz, wie Leibholz ausführte, auf Wahlen gar nicht mehr an. Denn die Demokratie entfaltete sich eben in den Parteien oder, und auch das war denkbar, vielleicht sogar wünschenswert: in der einen und einzigen großen Volkspartei. Die Demokratie Leibholzscher Denkart sah zumindest keineswegs zwingend ein Mehrparteiensystem vor. Vor allem verabschiedete sie sich ganz vom Repräsentativmodell des liberalen Parlamentarismus. Die Partei ersetzte das Parlament. Die Volksvertreter durften sich im Parteienstaat nicht mehr als freie, dem ganzen Volk verpflichtete und dem eigenen Gewissen unterworfene Parlamentarier fühlen. Die Abgeordneten waren nur noch Beauftragte ihrer Parteien, hatten deren Willen im parlamentarischen Plenum lediglich zu artikulieren. Das Fundament dieser ausgefeilten Parteienstaatsdoktrin war bereits in den späten 1920er Jahren gelegt.
1938 war Gerhard Leibholz schließlich zur Emigration nach England gezwungen. Aufgrund der Bemühungen des ersten Nachkriegsrektors Rudolf Smend hielt er im Wintersemester 1945 wieder Gastvorträge an der Göttinger Universität. Doch wagte Leibholz den Sprung von Oxford, wo er ein Domizil gefunden hatte, zurück nach Deutschland erst, als er ein Richteramt am neu konstituierten Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in Aussicht gestellt bekam. Dort amtierte er von 1951 bis 1971. Zugleich lehrte er als Ordinarius in Göttingen „Politische Wissenschaften und allgemeine Staatslehre“.
Leibholz wurde in diesen Jahren zum einflussreichsten Ausdeuter des Parteienrechts. Er verfügte dafür über ein in sich konsistentes, logisch scharf deduziertes Interpretationsmodell, das er bereits als junger Hochschullehrer vor 1933 entworfen hatte. Wissenschaftlich substanziell war beim Göttinger Staatsrechtler und Politikwissenschaftler auf diesem Gebiet nach 1945 nichts Neues hinzugekommen. Aber die konstituierende Wirksamkeit der Leibholzschen Lehre entfaltete sich in den 1950er Jahren, im ersten Jahrzehnt seiner Tätigkeit am Bundesverfassungsgericht. 1952 konstatierte das von ihm geprägte Gericht in Karlsruhe: „Heute ist jede Demokratie zwangsläufig ein Parteienstaat“. Und in Anlehnung an Leibholz’ grundsätzlichen Überlegungen stellten die Richter ebenfalls fest, dass die Parteien aus dem Bereich der Gesellschaft nun auch in den „Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben“ worden seien, ja als integraler „Bestandteil des Verfassungsaufbaus“ zu gelten haben. Erst in den 1960er Jahren ging der dominierende Einfluss von Leibholz auf die Parteienrechtsanalyse zurück.
Für viele, auch wissenschaftliche Kommentatoren personifizierte Leibholz gleichsam die Fehlentwicklung der deutschen Politik in Richtung eines verfestigten Parteienstaats. Verfassungsrichter wie Ernst Böckenförde, Konrad Hesse, Dieter Grimm u.a. beharrten auf einer zurückhaltenderen Auslegung des Artikels 21 GG, auf der Stellung der Parteien als „Hilfsorgane des Staates“ und „Vermittlungsinstanzen“ (Dieter Grimm). Sie mahnten, den Parteienstaat zurückzubilden, und reduzierten die zentrale Aufgabe der Parteien auf die Rekrutierung der politischen Eliten und die Legitimationsherstellung durch Wahlen. Kurzum: Von der großen phänomenologischen Konstruktion des dezidierten Antipositivisten Leibholz ist in der Staatsrechtswissenschaft nicht viel übrig geblieben. Auf dem elementaren Gebiet der Parteienfinanzierung allerdings, von der die gesellschaftlich zunehmend erschlafften Parteien sich nähren, sind die Leibholz-Axiome durchaus zur Entfaltung gekommen, wie insbesondere die Karlsruher Parteifinanzierungsurteile von 1977 und 1992 zeigten.
Indes: Die Konsequenzen, die daraus entstanden, haben dem Leibholzschen Parteienstaatsmodell die Basis entzogen. Leibholz ist damit sozusagen an Leibholz gescheitert. Denn seine ganzen Überlegungen beruhten auf der gedanklich vorausgesetzten, wurzeltiefen Einbindung der Parteien in den Lebenswelten der Bevölkerung. Nur deshalb konnten und durften Parteien als Ausdruck des Volkswillens gelten, konnten ihre Willensbildung im Staat als plebiszitäres Mandat des Souveräns beanspruchen. Man wird es wohl auf die tiefe Orientierungslosigkeit und politische Verunsicherung nicht weniger akademischer Staatsrechtsexperten in der Nachkriegszeit zurückführen müssen, dass Leibholz das geistige Vakuum mit seinen gegenüber jeder Empirie ganz gleichgültigen Identitätsspekulationen von Volk-Partei-Staat füllen konnte. Jedenfalls: Im gleichen Maße, wie sich die Parteien als verfassungsrechtlich legitimierte Teile der Staatlichkeit etatisierten und öffentliche Gelder bezogen, lösten sie sich vom Wurzelgrund der gesellschaftlichen Basis, auf deren Ressourcen an Beiträgen und Loyalitäten sie durch die staatlichen Zuwendungen nicht mehr angewiesen waren. Die parteistaatlichen Erfolge, deren Vater Gerhard Leibholz war, unterminierten den Legitimationskern seines gesamten Konzepts: die identitäre Vitalbeziehung zwischen Parteien und Volk. Aus der Leibholzschen Dreieinigkeit Volk-Partei-Staat fiel die Ursprungsquelle demokratischer Parteienstaatlichkeit mehr und mehr heraus. Das Volk sah sich in den Parteien nicht verwirklicht, sondern Zug um Zug von ihnen entfremdet und abgekoppelt.
Für den früheren Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, Hans Herbert von Armin, ist der Erfolg von Leibholz ein „Faszinosum“. Ihm will nicht in den Kopf gehen, wie eine „derart abwegige Doktrin“ eine zeitweise beherrschende Rolle in der staatsrechtlichen Debatte einnehmen konnte. Auch der Politikwissenschaftler Peter Haungs geißelte die Lehren Leibholz’ einst als „verstiegene“, „primitive dogmatische Konstruktionen“. Doch Leibholz blieb ein viel geehrter Staatsrechtler. Im Protestjahr 1968 erhielt er vom Bundespräsidenten das Große Bundesverdienstkreuz. 1981, einige Monate vor seinem Tod, veranstaltete die Göttinger Universität ein großes Symposium für ihn. Seine Kollegen feierten Leibholz minutenlang mit „standing ovation“.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.
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