Göttinger Köpfe

[Göttinger Köpfe]: Stine Marg über unsere neue Blog-Serie „Göttinger Köpfe“

Diejenigen, die sich einmal mit Stadtgeschichte als solche beschäftigt haben, kennen die Problematik: Hier dominieren meist detailreiche Erzählungen oder überblicksartige Gesamtdarstellungen passionierter Hobbyhistoriker, die sich oft aus persönlichem Interesse auf Spurensuche begeben haben. Sei es, weil sie wissen möchten, wie ihre Vorfahren in dem Ort gelebt haben, oder weil ihre Neugierde durch die alltägliche Begegnung mit der Vergangenheit geweckt wurde. Auch in der politischen Wissenschaft hat Stadtgeschichte ihren Platz. Doch wie so oft stellt sich besonders hier die Frage: Für wen – außer für Archive oder den Wissenschaftler selbst – wird Stadtgeschichte betrieben? Für wen werden die in wissenschaftlichen Sprachjargon gehüllten teuren Sammelbände herausgegeben? Häufig schaffen sie es nämlich nicht, lebendig und anschaulich die Vergangenheit zu schildern, oder die prägenden Momente, Ereignisse und vor allem die historischen Persönlichkeiten ihres Wohnortes pointiert ins Gedächtnis zu rufen. Genau darum soll es in unserer neuen Blogreihe gehen – um Göttingen und seine „Köpfe“.

Die Stadt an der Leine ist in den letzten 250 Jahren vornehmlich von der Georg-August-Universität und den mehr oder weniger großen Berühmtheiten, die sie hervorgebracht hat, geprägt worden. Ohne Zweifel: Hier setzt sich Stadtgeschichte zu einem Großteil aus Erzählungen über gelehrte Männer und Frauen der Wissenschaft zusammen. Der Max-Born-Ring, die Felix-Klein-Straße, die Brüder-Grimm-Allee, das Minna-Specht-Eck oder der Platz der Göttinger Sieben sind charakteristische Namen für diese Stadt. Denn hier haben sie gelebt und gelehrt – Max Born, Felix Klein, Jacob und Wilhelm Grimm, Minna Specht, Wilhelm Albrecht, Friedrich Dahlmann, Heinrich Ewald, Georg Gottfried Gervinius, Wilhelm Eduard Weber und viele andere. Und es sind gerade die bekannten Namen der Nobelpreisträger oder Märchensammler, die auch dem historisch interessierten Laien einfallen, wenn er an die Persönlichkeiten Göttingens denkt. Wenn sich das historische Bewusstsein im Alltag gewöhnlich in Straßennamen und Gedenktafeln widerspiegelt, zu Ehren von Personen, die einen gewissen Ruhm erlangt haben und somit Raum für Identifikation und lokales Selbstbewusstsein schaffen, dann trifft dies ganz besonders auch auf Göttingen zu.

Als Institut, das sich mit politischer Kulturforschung befasst, sind wir natürlich vor allem an jenen Biographien interessiert, die mit der Herausbildung und Gestaltung der politischen Kultur im weiteren Sinne in Verbindung gebracht werden können. Mit anderen Worten: Wir möchten vor allem solche Göttinger Figuren in den Blick nehmen, die durch ihre meist herausragenden Forschungsleistungen nicht nur das eigene wissenschaftliche Fach bereichert, sondern auch Politik und Gesellschaft über die Grenzen Südniedersachsens hinaus nachhaltig beeinflusst haben. Aus diesem Grunde werden es vorwiegend – jedoch nicht ausschließlich – Staatsrechtler, Pädagogen, Philosophen, Sozialwissenschaftler und Historiker des 20. Jahrhunderts sein, die wir vorstellen möchten.

Die Naturwissenschaftler dürfen natürlich nicht fehlen, aus zwei Gründen: Erstens, weil der Weltruhm der Georgia-Augusta durch die ab 1933 größtenteils vertriebenen Mathematiker und Physiker erst begründet wurde. Zweitens spiegelt sich in vielen Biographien eine spannende Verflechtung von Wissenschaft und Politik wider. Die Atomwissenschaftler Otto Hahn, Werner Heisenberg oder Carl Friedrich v. Weizsäcker bieten die besten Beispiele. Es waren eben jene Gelehrte, die sich den potenziell verheerenden Folgen ihres wissenschaftlichen Fortschritts bewusst waren und durch ihre eindeutige Stellungnahme zur Atomwaffenpolitik der Bundesregierung das Denken und Handeln der Menschen beeinflussten. Ihre Wirkung auf die politische (Denk-)Kultur in Deutschland ist unbestritten.

Doch es geht nicht nur um die Nobelpreisträger, Berühmtheiten und Vorzeigefiguren dieser Stadt. Auch beinahe vergessene Persönlichkeiten sollen wieder ins Gedächtnis zurückgeholt werden und damit gleichzeitig – wie schon erwähnt – ein Stückweit städtische Identitätspolitik betrieben werden. Ziel ist nicht die Pflege lokaler Mythen, sondern die Präsentation engagierter, mutiger und ungewöhnlicher Menschen ebenso wie von Opportunisten und personellen Kontinuitäten über die Jahre 1933-1945 hinweg. Denn besonders in einer kleinen Stadt wie Göttingen überrascht es nicht nur, auf welch illustre Liste an „Stadtvätern“ und „Stadtkindern“ zurückgeblickt werden kann, sondern auch, wie Verwaltung und Politik auf der einen und Wissenschaft und Universität auf der anderen Seite durch vielfältige Symbiosen miteinander verwoben (gewesen) sind. Übrigens auch dies ein Grund, warum es spannend sein kann, sich mit der sozialen, geistigen und politischen Elite einer Kleinstadt zu beschäftigen.

Karl Barth, Edmund Husserl, Christian Graf von Krockow oder Max Planck werden nicht in ausführlichen Lebensdarstellungen präsentiert, sondern mittels biografischer Kleinformen. Es geht darum, anhand kurzer Charakteristiken, Porträtzeichnungen und persönlicher Kolorationen das wissenschaftliche und politische Wirken der Personen zu illustrieren und vor allem auch der Frage nachzugehen, welchen Stellenwert Göttingen für sie dabei besaß. Gewiss hat nicht jeder den Großteil seines Forscher- oder Dichterlebens in der Universitätsstadt verbracht; für manche war sie lediglich eine Station ihrer Karriere, die andernorts ihren mehr oder minder ruhmreichen Höhepunkt fand. Und dennoch: So sehr Göttingen einen Platz in ihrer Vita einnahm, so sehr gehören die porträtierten Figuren eben auch zur Geschichte dieser „Stadt der Wissenschaft“. Nicht zuletzt halten biographische Verläufe oft auch interessante Hinweise auf politische und stadtgeschichtliche Zusammenhänge bereit: Warum waren die einen, wie Rudolf Smend, angesehene Mitglieder der international anerkannten Akademie der Wissenschaft zu Göttingen, während andere, wie beispielsweise der Philosophieprofessor Leonard Nelson, für Stadt und Universität immer Außenseiter blieben? Was trieb einige Gelehrte dazu, sich 1933 öffentlich der Hetze des Göttinger Tageblattes gegen jüdische Hochschullehrer anzuschließen? Wie lebte es sich als Student nach 1945 in einer Zeit des Mangels und der Not?

Auch solche Fragen werden in unserer keineswegs vollständigen, freien Auswahl „Göttinger Köpfe“ des 19. und 20. Jahrhunderts exemplarisch aufgegriffen, womit wir versuchen wollen, einen bescheidenen Beitrag zur Geschichtsschreibung der Stadt Göttingen zu leisten.

Stine Marg ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

Alle Texte aus der Reihe „Göttinger Köpfe“ finden Sie hier.