Die unglaubliche Weisheit der Vernunft

[präsentiert]: Felix Butzlaff über Amartya Sens „Die Idee der Gerechtigkeit“.

Die Messlatte wird von der ersten Seite an geradezu in den Himmel gehängt: Nichts Geringeres als eine komplette Neubestimmung des Nachdenkens über Gerechtigkeit und ihre theoretische Fundierung, das Verwerfen der bekannten Theoreme hierzu und ein neues Urteil über „gerechte“ oder „ungerechte“ Zustände möchte Amartya Sen mit seinem Opus über „Die Idee der Gerechtigkeit“ ausarbeiten. Und in der Tat sind die Erwartungen kaum zu bändigen, wenn ein Nobelpreisträger der Ökonomie, berühmt und prämiert für seine Arbeiten über ökonomische Ungleichheiten und ihre gesellschaftlichen Implikationen, in einem Buch nun die Brücke zu einer mehr philosophischen Betrachtung des Themenfeldes schlägt und überdies betont, dieses Werk sei das Ergebnis und Kondensat einer über Jahrzehnte immer inniger gewordenen Beschäftigung mit dieser seine ökonomischen Schwerpunktbereiche ergänzenden Herangehensweise.

Bis ins Jahr 1968 reichen dann auch seine seitenlangen Danksagungen und Elogen an Diskussionspartner und Professorenkollegen zurück, die sich wie ein Who is Who der Politischen Theorie lesen. Kurz: Die Bedeutung, die Sen seinem Buch selbst zuweist, könnte größer kaum sein.

Die Ausgangslage von Sens Überlegungen bildet die kritische Betrachtung bisheriger Theorien über gesellschaftliche (Un-)Gerechtigkeit. Diese würden – angelegt als Erben der Aufklärung in der Tradition von Hobbes und Rousseau – im Kern an einer ganzen Reihe von Mängeln kranken, die sie für die tatsächliche Beurteilung gesellschaftlicher Zustände unbrauchbar machten. Darum geht es Sen in diesem Buch: Eine Theorie zu entwickeln, die sich für die Ableitung von Entscheidungen eigne, mit denen man eine tatsächliche Reduktion von Ungerechtigkeiten anvisieren könne.

Dies ist sein Hauptkritikpunkt in Bezug auf die „großen“ Theorien der Gerechtigkeit – dass sie eben in einer rein akademisch-theoretischen Perspektive verharrten. Die meisten Theorien kreisten laut Sen um zwei Schwerpunkte: Erstens um die Entwicklung eines Systems der perfekten Gerechtigkeit, d.h. eine Welt, die jeder als gerecht ansähe; und zweitens um die Konstruktion eines institutionellen Rahmens – Sen spricht vom „transzendentalen Institutionalismus“ (S. 33) –, der eine solche vollkommene Gesellschaft garantieren könne.

Neben der fehlenden Tauglichkeit für die politische Praxis moniert Sen, dass dies dazu führe, dass man gar nicht in der Lage sei, zwei halbwegs gerechte Gesellschaften miteinander zu vergleichen, um zu prüfen, welches Konzept etwa zu „gerechteren“ Zuständen führe. Und darüber hinaus, durchaus plausibel, dass Institutionen zwar in der Tat wichtige Rahmensetzer seien für soziale und gesellschaftliche Realitäten – dass aber die Ausblendung menschlichen Verhaltens gerade für die Betrachtung von Gerechtigkeit eine Nachlässigkeit sei, die diese Theorien – allen voran die viel gerühmte „Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls, den er das gesamte Buch hindurch als Freund und „wunderbaren Lehrer“ (S. 21) lobt – in ihrem Wert enorm schmälerten.

Hier möchte Sen Abhilfe schaffen. Er will Vergleiche ermöglichen, möchte Maßstäbe herausschälen, nach denen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit tatsächlich beurteilt werden können – ein „komparatives Bezugssystem“ (S. 44) schaffen – und möchte darüber hinaus noch die von ihm schon früher oftmals beklagte enge Perspektive der vorherrschenden Wissenschaftsstränge auf westliche Sichtweisen um östliche und indische Gerechtigkeitsphilosophien erweitern .

Im Grunde formuliert er hier in einer Mischung aus geisteswissenschaftlich-philosophischem und mathematisch-ökonomischem Duktus aber lediglich aus, wofür er vor dreizehn Jahren bereits den Ökonomie-Nobelpreis verliehen bekommen hat: Sen rekurriert auf seine Theorie der Capabilities, den Befähigungen. Dieses Konzept schlägt vor, sich auf die ganz realen Fähigkeiten zu konzentrieren, die ein jeder Mensch besitzt, um seine eigenen Lebenspräferenzen realisieren zu können; es möchte danach fragen, welche Freiheiten die Menschen in einer Gesellschaft haben, das Leben ihrer Wahl auch wirklich führen zu können.

Seine Theorie soll ganz explizit nicht eingedampft werden auf die Standardvariable des Utilitarismus, den „Nutzen“ oder den Glücksfaktor einer Lebenslage (um etwas einfacher quantitativ messen zu können), sondern offen sein für die Komplexität, die zwangsläufig entsteht, wenn Lebenspräferenzen und ihre Realisierungsperspektiven einander gegenübergestellt werden. Sen folgend müsse man nun beim Vergleich verschiedener nicht perfekter Gerechtigkeitszustände jeweils fragen: Inwiefern sind die Mitglieder der betrachteten Gruppen dazu in der Lage, ihre Präferenzen und Lebenswünsche zu realisieren? Und jede Maßnahme zur Forcierung einer besseren, gerechteren Gesellschaft müsste ebenso dieses Ziel zum Hintergrund haben.

Der Frage nach der praktischen Anwendung, die Sen selber am Anfang des Buches stark unterstreicht, weicht er aber in weiten Teilen aus. Er bedient sich vielmehr der von ihm in ihren Rahmenlinien noch fundamental kritisierten Denker, um hier eine verblüffend einfache Antwort zu geben: Adam Smith, Jürgen Habermas und John Rawls gelten ihm als Kronzeugen für die Bedeutung von „Objektivität“ und dem „öffentlichem Gebrauch von Vernunft“ (S.73, S.269). Dies seien die zentralen Kategorien für den Vergleich komplexer Sachverhalte und nur diese gewährleisteten, dass sich nicht isolierte, abgeschottete und einseitige Denkmuster durchsetzten. Eine überraschend simple und eindimensionale Antwort auf die Ankündigung, eine politiktaugliche Gerechtigkeitsperspektive zu entwerfen.

Überhaupt hält sich Sen, was die Substanz von Gerechtigkeit anbelangt, fern jedweder definitorischer Anwandlungen. Gerecht soll sein, was ein jeder als gerecht empfindet. Klar, in jeder Gesellschaft gebe es unzählige unterschiedliche Auffassungen von Gerechtigkeit – aber durch Vernunft und größtmögliche Öffentlichkeit und Objektivität seien diese dann in der Maximierung der „Befähigungen“ zum selbstbestimmten Leben zusammenzuführen.

Sen bewegt sich hier in sprachlich enger Verwandtschaft zu den Apologeten der liberalen Chancengerechtigkeit – dem Gedanken, allein für die Ausgangslagen eines jeden Individuums könne man Gerechtigkeitsmaßstäbe anlegen, was ein jeder daraus mache, dafür sei er dann selbst verantwortlich. Diese Sichtweise von politischer Verantwortung hat seit den 1980er Jahren einen bemerkenswerten Siegeszug vom politischen Neoliberalismus bis in sozialdemokratische Kreise angetreten. Doch aus der Nähe betrachtet und zu Ende gedacht geht Sens Gedanke weit über diese Grundversorgung an Startchancen hinaus. Denn die Realisierung von Lebenschancen meint natürlich weitaus mehr – es geht um die fortwährende Möglichkeit, seine eigenen Lebensvorstellungen in die Tat umzusetzen und nicht lediglich um eine Parität der Ausgangslagen.

Und weiter geriete etwa das Bild der gesellschaftlichen Funktionalität des Individuums – etwa beim Arbeitsbegriff im Neoliberalismus – in Konflikt mit dem Postulat der individuellen Präferenzen bei Sen, wenn er vom Prozess-Aspekt von Freiheit (S. 256) schreibt: Die Bevormundung von Arbeitslosen bei der Arbeitszuteilung würde diesem zuwider laufen. Denn selbst wenn diese arbeiten wollten (was aber ihren persönlichen Präferenzen überlassen bleibt), sei es etwas vollkommen anderes, wenn sie jemand dazu verpflichte, auch wenn das Endergebnis dasselbe sei.

Sen hat mit seinem Werk ein beeindruckend umfangreiches Buch vorgelegt, das sicherlich für die Nachbearbeitung der sozialdemokratischen Regierungsjahre bis 2009 und die Interpretation der „Chancengerechtigkeits“-Postulate der Hartz-Gesetzgebung etliche gedankliche Anregungen bietet. Den eigenen Ansprüchen an eine neue Welt der Betrachtung gesellschaftlicher Gerechtigkeit aber wird Sen über weite Strecken nicht gerecht. Der Autor verrennt sich über viele Seiten in der ausführlichen Diskussion logisch-mathematischer Probleme von Vergleichsperspektiven und in der eitlen Referenz an Genregrößen und Professorenkollegen.

Überhaupt gestaltet sich die Sprache des Buches gerade für ein Werk eines in den USA lehrenden Ökonomen, das darüber hinaus auch noch auf eine größere Öffentlichkeit zielt, erstaunlich umständlich und redundant. Und dass am Ende alles auf eine Referierung des eigenen, hinreichend bekannten Ansatzes der Capabilities hinausläuft, enttäuscht. Wer dies bis dato noch nicht kannte, und sich auf den entscheidenden dritten Teil über die „Materialien der Gerechtigkeit“ (S.253 – 343) konzentriert, für den bietet Sen durchaus Interessantes und Neues. Für alle anderen sind die knapp 500 Seiten eine harte und mühsame Übung.

Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. A. d. Engl. v. Christa Krüger. München, Verlag C.H. Beck 2010, 493 S., 29,95 Euro.

Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.