Tücken der Demokratisierung der Demokratie

[analysiert]: Franz Walter über Widersprüche zwischen Partizipation und parlamentarischer Demokratie

An den Wahlsonntagen fungieren die Wahlbürger zwischen 8:00 und 18:00 Uhr als Souverän. Aber unmittelbar danach fällt die Souveränität fast vollständig in die Hände der Politikeliten. Gerade weil die Wähler im demokratischen Akt komplexe Vielfalt produzieren, verlieren sie die Möglichkeit, die machtpolitischen Folgen ihrer Entscheidung zu beeinflussen. Denn die Koalitionsbildung ergibt sich nicht mehr direkt aus dem Wahlergebnis, sondern erst als Resultat mühseliger, windungsreicher, mit List und Tücke zu führender Koalitionsbildungsprozesse durch die Parteiführer. Die Pluralität und Modernität demokratischer Artikulation im Zuge der Entuniformierung von Politik bewirkt paradoxerweise eine Oligarchisierung der anschließenden Entscheidungsprozeduren.

Und das setzt sich unmittelbar fort, wenn komplexe, lagerübergreifende Kabinette gebildet werden. Denn dort liegen die Normen und traditionsgestützten Zuordnungen der Binnengruppierungen oft weit auseinander, sind Herkunft und Interessenlagen der Anhängerschaften häufig widersprüchlich, ist der Argwohn gegeneinander auf Grund überlieferter Fremdheit groß. Um in einem solchen Bündnis abschreckenden Streit zu vermeiden, um Beschluss- und Handlungsfähigkeit herzustellen, werden die Parteiführer die von Emotionen durchwirkten Arenen der Öffentlichkeit meiden und die Absprachen in der Regierungsallianz auf kleinste Zirkel in abgeschlossenen Räumen verlegen. Kurzum: Eine neue demokratische Kultur bringt Vielfalt hervor, aber das Arrangement dieser Vielfalt drängt, wie europaweit markant zu verfolgen ist, wieder und wieder zur Oligarchisierung, zur Intransparenz, zur Minimalisierung von Demokratie.

Doch bedeutet Oligarchisierung keineswegs Omnipotenz. Im Gegenteil. Die Führungsqualitäten der Parteieliten in kooperativen Bündnissen definieren sich durch Moderation, Abstimmung, Anpassungsfähigkeit, geschmeidigen Opportunismus, Prinzipienindifferenz. Anders ausgedrückt: Die parlamentarischen Anführer in Breitbandregierungsbündnissen müssen geradezu farblos sein. Das nährt aber zugleich das Wählerverlangen nach dem besonderen Typus, der sich von der „politischen Klasse“ abhebt, sei es charismatisch oder – habituell – „aristokratisch“. Figuren dieses Auftritts, die sich herablassend über die Parteiendemokratie stellen, werden künftig in verlässlichen Zyklen das Publikum in politisch letztlich unrealistische und ziellose Wallungen bringen.

Fürchtet man den sonst chronischen Verdruss der Wahlbürger, dann wird man in den Zeiten der Oligarchisierung in Vielparteienbündnissen plebiszitäre Einflussfilter einbauen müssen. Es ist kein Zufall, dass gerade klassische und bewährte Konkordanzdemokratien über solche Ventile und Äquivalente zur institutionalisierten Verhandlungsdemokratie verfügen. Denn sonst könnte die paradoxe Spannung aus eigenwilliger Bürgerdemokratie im Wahlakt und Zentralisierung der Entscheidung im Regierungshandeln zu ernsten Legitimationsproblemen führen. Kurzum: Die Option für plebiszitär-demokratische Äußerungsmomente erfolgt nicht aus Gründen basisdemokratischer Schwärmereien – denn schließlich sind gerade bei Volkentscheiden die „Unkundigen“ noch stärker exkludiert als bei Parlamentswahlen, fallen die Ergebnisse oft weit sozialkonservativer aus, und hinter den ressourcenaufwendigen Referenden stehen eben in erster Linie ressourcenstarke Schichten bzw. Organisationen.[1] Vielmehr ergeben sie sich aus dem Zugzwang, den Widerstreit von moderner Demokratie und beteiligungsentzogener Effizienzsorge nicht zu einem zerstörerischen Antagonismus auswachsen zu lassen.

Sonst wird die skeptische Frage nach Ort und Wirksamkeit der parlamentarischen Demokratie in naher Zukunft noch viel lauter und ungeduldiger gestellt werden. Denn schließlich haben in den beiden letzten Jahrzehnten die zentralen Orte der repräsentativen Demokratie, die nationalen Parlamente, in einem atemberaubenden Tempo an Macht und Durchschlagskraft verloren. Die entscheidenden Weichenstellungen für das ökonomische, ökologische und soziale Leben der Völker erfolgen in der Tat in fast klandestinen Netzwerken, die weder demokratisch gewählt wurden, noch demokratisch abgewählt werden können und daher durch keinerlei demokratische Institutionen kontrollierbar sind. Eben das aber geht fraglos an die Legitimationswurzeln der Demokratie.

Denn von den Grundgedanken des Parlamentarismus – Öffentlichkeit, Kontrolle, der Widerstreit großer Ideen in den die Nation prägenden Debatten – ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Politiker wie Politologen pflegen eine solche Diagnose zwar zumeist lässig mit dem Hinweis zu kontern, dass mit derartig naiven Vorstellungen frühliberaler Demokratietheoretiker und Honoratioren des 19. Jahrhunderts die Komplexitäten von Gesellschaften des 21. Jahrhunderts eben nicht zu steuern seien. Doch warum kleiden sich die Politiker dann auf der politischen Bühne der Gegenwart noch in den Kostümen des 19. Jahrhunderts, um eine Rolle zu simulieren, die offensichtlich längst nicht mehr zeitgemäß ist? Hierdurch wird letztlich beides diskreditiert: der klassische Parlamentarismus ebenso wie die neuartige, der parlamentarischen Kontrolle entzogene, nachgerade apolitisch aufgezogene Vermittlungsanstrengung gesellschaftlicher Interdependenzen – wie es im Jargon sozialwissenschaftlicher Analytiker des Staatshandelns zumeist ausgedrückt wird.

Und so kam zuletzt die Forderung nach vermehrter „Partizipation“, um die es zuvor rund ein Vierteljahrhundert lang in der deutschen Republik eher still geworden war, wieder zu größeren Ehren. Bürgerbeteiligung, zivilgesellschaftliches Engagement, Mitsprache – all diese Begriffe und Losungen, die primär in der sozialliberalen Reformära der frühen 1970er Jahre generationsprägend zirkulierten, erleben zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhunderts eine Art Revival. Auf Symposien von Stiftungen und Akademien gehört es nachgerade zum guten Ton, das hohe Lied erweiterter demokratischer Teilhabe zu singen. Andererseits waren und sind es auffälligerweise eher linksliberale Autoren, die einige Fragezeichen zu setzen wagen. Schon Ralf Dahrendorf hatte zu Lebzeiten darauf aufmerksam gemacht, dass ein Zuwachs an plebiszitären Möglichkeiten eher dem Populismus zuarbeitet, eher autoritativen Bewegungen nutzt und aufgeklärten Demokratien schadet.[2] Auch Herfried Münkler denkt seit einiger Zeit über die Frage nach, ob mit einem Zuwachs an Demokratie die Gefährdung von Demokratien einhergehe.[3]

Am radikalsten zweifelt wohl Ingolfur Blühdorn, Politologe an der englischen Universität Bath, an der heilenden Wirkung der Partizipationsrezeptur. Auch er geht von einer Entdemokratisierungswelle der modernen Gesellschaften seit den 1980er Jahren aus, verortet diese Entwicklung aber nicht allein im intentionalen Bereich der Eliten, sondern auch in der Selbstentscheidung der Bürger. Diese hätten Entpolitisierung als Entlastung empfunden und im Zuge komplexer gewordener Alltagsanforderungen geradezu goutiert. Würden solche Bürger in einer „reaktionär gewordenen Demokratie“ von Konsumentengesellschaften zu zusätzlichen Partizipationsansprüchen ermuntert werden, dann könne diese nur auf Kosten der ökologischen Nachhaltigkeit gehen. Die innere Dynamik von Demokratie und Partizipation laufe tatsächlich auf Emanzipation hinaus, auf einen Zuwachs individueller (Konsumenten-) Autonomie und einer Anhebung des materiellen Lebensniveaus für organisations- und forderungsstarke Gruppen. Gerade diese Art von Emanzipation aber sieht Blühdorn als besondere Gefahr. Denn durch sie stehe zu befürchten, so sein düsteres Orakel, „dass gerade unter den Bedingungen fortgeschrittener Gesellschaften ‚mehr Demokratie‘ vor allem mehr Naturzerstörung und soziale Ausgrenzung bedeuten könnte“.[4]

Die Diskussion über Vorzüge und Tücken vermehrter Partizipation in der Krise parlamentarischer Repräsentanzordnungen scheint erst am Anfang zu stehen. Doch ist sie elementar, und daher kraftvoll und mit dem geboten Ernst voranzutreiben.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.


[1] Hierzu Wolfgang Merkel, Volksentscheide – wer ist das Volk?, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 12/2010, S. 11-15.

[2] Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch, München 2002.

[3] Herfried Münkler, Wagnis Demokratisierung. Wenn die Hoffnung zum Debakel wird?, in: Theaterheute, März 2010, S. 35-39, hier: S. 36.

[4] Ingolfur Blühdorn, Zur Zukunftsfähigkeit der Demokratie. Nachdenken über die Grenzen des demokratischen Optimismus, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär, 14/2011, S. 19-28, hier S. 26.