Braucht der Islam eine Reformation?

Beitrag verfasst von: Thorsten Hasche

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[kommentiert]: Thorsten Hasche plädiert für eine moderate Pflicht zur Reformation des Islams in westeuropäischen Einwanderungsländern

Angesichts des 500-jährigen Jubiläums der Reformation im Jahr 2017 kam es verständlicherweise zu einem Anstieg von Publikationen zur Person Martin Luthers und dessen Bedeutung für die Reformation. Viele dieser Analysen widmen sich v.a. Luthers Opposition gegenüber verkrusteten Strukturen und der damals überbordenden, weltlichen Machtfülle der Kirche Roms. Die Folgen von Luthers Revolte werden letztlich in einem Reformprozess gesehen, an dessen Ende eine erneuerte Kirche auf dem Weg zur Moderne stand.[1] Diese Darstellung von Luthers Einfluss bedarf jedoch mindestens zwei kritischer Anmerkungen. Und zugleich eröffnen sich interessante Hinweise für die Diskussion über eine Reformation des Islam.

Erstens kommt die Person Luthers häufig allzu positiv weg – werden doch Luthers negative Eigenschaften als polemischer Autor, seine schwierigen Aussagen über und Einflüsse auf den sogenannten Bauernkrieg 1524–1526 zu wenig beleuchtet. Auch sein damals vielleicht „zeitgemäßer“, dennoch aus Sicht gegenwärtiger Forschung deutlich zu kritisierender Antisemitismus wird nicht ausreichend berücksichtigt.

Zweitens – und dies liegt natürlich in der hiesigen Perspektive auf die Reformation als „deutsches“ Großereignis begründet – war Luther nicht der einzige Reformator. Vielmehr müsste er als ein wichtiger Autor und Reformator einer längeren Phase interner Querelen der res publica christiana der anbrechenden Frühen Neuzeit bzw. des ausgehenden Hochmittelalters betrachtet werden. Die angelsächsische Forschungslandschaft etwa hat mithilfe der Techniken der digital humanities die komplexen und transnationalen Diskursuniversen und Akteurskonstellationen des Reformationszeitalters wesentlich differenzierter aufgearbeitet.[2]

Wage ich im Folgenden also die Beantwortung der Frage: „Braucht der Islam eine Reformation?“, so steht auf christlicher Seite dieses durchaus schwierigen, weil interreligiösen Vergleichs deutlich mehr als nur Luther und der Thesenanschlag des Jahres 1517. Reformation kann aus historischer Perspektive auf die Genese des Christentums nur als ein langfristiger, multidimensionaler Prozess verstanden werden. An dessen Anfang stand eine zumeist rurale, ständisch geordnete und als einheitlich christliche Welt verstandene Gesellschaftsordnung, die über die Reformationsphase hinweg infolge konfessioneller und machtpolitischer Konflikte in ganz Europa eine moderne, konfessionell gebundene und sukzessive nationalstaatlich verfasste Staatenwelt hervorgebracht hat.

Die aktuelle und vergleichende Debatte um die Reformation des Islam und des Christentums fördert eine Vielzahl widerstreitender Positionen zutage, deren diametral gegenüberliegende Pole etwa wie folgt illustriert werden können:

Ausgangspunkt war in diesem Falle ein Essay von Frank Griffel, Islamwissenschaftler an der Yale University, der unter der Überschrift „Eine Reformation im Islam ist sinnlos“[3] auf die besonderen gesellschaftlichen und religiösen Konstellationen des nachklassischen Islam im Osmanischen Reich hinwies. Modernste islamwissenschaftliche Forschung zeige Griffels Meinung nach, dass die Sozialordnung im Osmanischen Reich mit einer starken Stellung des sunnitischen Islam mit führender Geistlichkeit sowie einer islamischen Rechtsprechung vielerlei sozialen Ausgleich zwischen den verschiedenen, ethnisch und konfessionell diversen Bevölkerungsgruppen zu leisten vermochte. In keiner Weise sei diese mit der krassen Ideologie eines dschihadistischen „Islamischen Staates“ der Gegenwart zu vergleichen. Deshalb benötige der Islam auch keine Reformation. Ohne den externen westlichen Modernisierungs- und kolonialen Eroberungsdruck, dem letztendlich das Osmanische Reich zum Opfer fiel, wäre die nachklassische Sozialwelt des sunnitischen Islam zwar traditionell, jedoch durchaus anpassungsfähig gewesen.

In direkter Reaktion darauf veröffentlichte der Göttinger Islamologe Bassam Tibi unter dem Titel „Die Erleuchteten“[4] eine Replik, die auf die Anschlussfähigkeit des westlichen Reformations- und Aufklärungsuniversalismus an humanistische Traditionen im sunnitischen Islam verwies und damit eine religionsübergreifende, universalistische Perspektive einnahm. Für Tibi seien Griffels Ausführungen mehr Konsequenzen eines wissenschaftstheoretischen Relativismus des Westens denn sinnvolle Erörterungen über die Möglichkeiten einer Reformation im Islam. Daher plädiert Tibi für ein Wiederaufleben des griechischen Erbes im Hochislam am Bagdader Hof der Abbasiden vom 10. bis zum 13. Jahrhundert: eine rationalistische Synthese aus hellenistischem Denken mit der präzisen Theologie einer führenden Weltreligion, die für ihn v.a. im Werk des 2010 verstorbenen marokkanischen Philosophen Mohammed Abd al-Jabri revitalisiert worden sei.

Insgesamt wird deutlich, dass meine Ausgangsfrage weder befriedigend mit „Ja“ noch mit „Nein“ beantwortet werden kann. Ein jedes „Nein“ zieht aufgrund der gegenwärtigen Diskursformation über das Verhältnis zwischen „Westen“ und „Islam“ sogleich die Kritik des Kulturrelativismus nach sich. Gleichsam gibt es natürlich gute Gründe, einer Reformation des Islam das Wort zu reden, die sogar in der arabo-islamischen Region selbst Widerhall finden.[5] Ein starkes, emphatisches „Ja“ dagegen gerät schnell unter den Verdacht eines paternalistischen „Orientalismus“, eines wohlmeinenden, eventuell besserwisserischen Blickes des „Okzidents“ auf den reformbedürftigen „Orient“.

Angesichts dieser Schwierigkeiten möchte ich auf die faktischen und normativen Möglichkeitsbedingungen einer Reformation im Islam eingehen. Diese sollen die geschichtlich bedingte Ungleichzeitigkeit zwischen „Westen“ und „Islam“ infolge europäisch-induzierter Modernisierungsprozesse und kolonialer Zerschlagung des Osmanischen Reiches gleichermaßen berücksichtigen. Dabei trenne ich zwischen zwei durch Diaspora und Migration zwar verbundenen, aber kulturell, religiös und politisch immer noch deutlich getrennten Sozialräumen: die westeuropäischen Staaten mit einem signifikanten muslimischen Bevölkerungsanteil einerseits sowie die hauptsächlich arabo-sunnitischen Staaten Nordafrikas und Westasiens andererseits.

Für eine Reformation des Islam in den nordafrikanischen und westasiatischen Gesellschaften gibt es nach dem fatalen Scheitern der transnationalen Protestwelle des Arabischen Frühlings faktisch kaum Spielraum. In den postkolonialen arabischen Republiken herrschte ein offizieller staatlicher Säkularismus, der stets eine aktive und starke islamistische Opposition mit sich führte. Nach dem Zusammenbruch des alten, autoritären Gesellschaftsvertrages liegen die Staaten Libyen, Irak, Syrien und der Jemen teilweise in Trümmern und in Ägypten herrscht nach einem kurzen Interludium der Muslimbruderschaft wieder das Militär. Jegliche Demokratisierungs- und Reformationspotenziale der religiösen Elite und islamischer Intellektueller werden nun wieder kritisch von den Machthabern beäugt, wenn die großen sunnitischen Universitäten nicht sogar direkt in die Pflicht der Herrschaftslegitimation in Abgrenzung zum islamistischen Untergrund genommen werden. Die türkisch-sunnitische Türkei ist unter Führung der AKP und Recep Tayyip Erdoğans geradezu auf einem Weg in eine autoritäre Präsidialdemokratie, in welcher der Glauben weniger eine Privatsache als vielmehr zu einer unerlässlichen Machtressource geworden ist. Über allem thront letztlich die saudische Monarchie, die zum Zwecke ihres Machterhalts seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert untrennbar mit dem erzkonservativen Wahhabismus verbunden ist, dessen inhärentes Islamverständnis jegliche Reformation dogmatisch ausschließt.

Im Lichte dieser freilich sehr drastisch gezeichneten Bestandsaufnahme des Potenzials religiöser Reformation in der arabo-islamischen Welt südlich und östlich des Mittelmeeres verkommt meines Erachtens eine jede intellektuelle, politische oder wissenschaftliche Forderung nach einer Reformation in dieser Weltregion zu einem Spielball machtpolitischer Auseinandersetzungen. Somit bleibt nicht nur logisch eine Auslotung des Reformationspotenzials der islamischen Gemeinden in den westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften übrig. Vielmehr kann hier eine Reformation von islamischen Glaubens- und Wertüberzeugungen in einem moderaten Sinne auch normativ eingefordert werden. Dies liegt an dem normativen Geltungsanspruch bzw. den Geltungsforderungen demokratischer Rechtsstaaten, die allen Diversitätsüberzeugungen zum Trotz für alle Bewohner*Innen und Staatsangehörige verbindliche Rechtsgrundsätze festschreiben, die stets säkular und positiv-rechtlich begründet und eingefordert werden.

Zusätzlich gilt: Jürgen Habermas hat in seiner postsäkularen Wende[6] im Lichte seiner diskurstheoretischen Überlegungen v.a. darauf hingewiesen, dass die westeuropäischen, oftmals säkularen, wenn nicht gar areligiösen Bürger*Innen ihre religiöse „Unmusikalität“ überwinden müssten, um mit religiösen Bürger*Innen in einen Dialog zu treten. Parallel dazu müsste sich auch die politische Sphäre stärker religiös konnotierten politischen Überzeugungen zuwenden, um die eigenen säkularen Rechts- und Legitimationsvorstellungen gewissermaßen zu übersetzen.

Nichtsdestotrotz ist diese wichtige politiktheoretische Figur symmetrisch zu verstehen: Wenn also deutlich stärker religiöse, muslimische Bürger*Innen oder Zuwander*Innen in immer noch deutlich säkular geprägten westeuropäischen Staaten auf zunehmendes Misstrauen und Unverständnis stoßen, können sie mit guter Begründung aufgefordert werden, ihre religiös geprägten Vorstellungen zu Moral, Recht, Familie und Staat gleichermaßen säkular zu übersetzen – was nicht mit einem „Ablegen“ der eigenen Wertvorstellungen gleichzusetzen ist. Ein verständigungsorientiertes Modell demokratischer Praxis à la Habermas benötigt eine aktive Übersetzungsleistung beider Seiten.

Deutlich wird dies etwa an den öffentlichen Kontroversen um die vielfältigen islamischen Kleidungsvorschriften für Frauen. Weder die strikt säkulare Perspektive einer größtmöglichen Zurückdrängung dieser Kleidungsvorschriften noch der Verweis von Muslimen auf ihre enorme religiöse Bedeutsamkeit führt aus dem Dilemma. Benötigt würde stattdessen eine offene Debatte um die Stellung der Frau mit muslimischen Wurzeln in einem westeuropäischen Einwanderungsland.

So schließe ich bezüglich einer Reformation von Muslimen in den westeuropäischen Einwanderungsländern mit einem moderaten „Ja“. Auch wenn Rechtspluralismus, Diversität und Multikulturalismus als rechtlich-politische Programmatiken die sozialintegrative Aufnahmefähigkeit westeuropäischer Staaten signifikant erhöht haben, ist es normativ angebracht, von Muslimen und von muslimischen Religionseinrichtungen bzw. Religionsverbänden eine moderate Reformation ihrer Glaubensüberzeugungen einzufordern, um eine Anpassung an die bestehenden Rechts- und Kulturvorstellungen in pluralistischen und demokratischen Verfassungsstaaten zu gewährleisten. Für die Aufnahmegesellschaft geht dies jedoch gleichermaßen mit der Pflicht einher, jegliche Rassismen und Xenophobien zu bekämpfen und umfangreiche Integrationsmaßnahmen bereitzustellen.

Dr. Thorsten Hasche ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Dort forscht und lehrt er im Schnittfeld der Internationalen Politischen Theorie.

[1] Vgl. Bendikowski, Tillmann: Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen, München, 2016 und Reinhardt, Volker: Luther, der Ketzer: Rom und die Reformation, München, 2016.
[2] Vgl. Cameron, Euan: Nearly 500 years and still Counting: The Reformation in Recent Scholarship and Debates, in: The Expository Times, Jg. 126 (2014), H. 1, S. 1–14.
[3] Griffel, Frank: Eine Reformation im Islam ist sinnlos, in: Süddeutsche Zeitung, 28.05.2016.
[4] Tibi, Bassam: Die Erleuchteten, in: Süddeutsche Zeitung, 09.08.2016.
[5] Vgl. El-Affendi, Abdelwahab: The Elusive Reformation, in: Journal of Democracy, Jg. 14 (2003), H. 2, S. 34–39.
[6] Vgl. die Informationen zur Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vom 14.10.2001, URL: http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/445722/?aid=460636 [eingesehen am 07.12.2016].