„Red Tory“

Auswege aus der Gegenwart

[präsentiert]: Severin Caspari liest Phillip Blond

Phillip Blond analysiert in seinem Buch „Red Tory“ die Verfehlungen linker und rechter Regierungspolitik der letzten 30 Jahre in Großbritannien und zeichnet einen Weg aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise des Landes. Er wäre nicht der erste Brite, der als Prophet eines Projekts politischen Neuanfangs zu Berühmtheit gelangen würde.

Der 1. Mai 1997 veränderte die britische Politik grundlegend. New Labour beendete mit ihrem Wahlsieg die fast zwei Jahrzehnte währende Herrschaft der Konservativen und Tony Blair verkündete im Rahmen des „Dritten Wegs“ eine Politik „jenseits von links und rechts“ – so der Titel eines Buchs des Soziologen Anthony Giddens, welcher seinerzeit von den Spin-Doktoren Labours als Guru des „Dritten Weges“ lanciert wurde. Ein gelungener Coup, gelangte man damit doch in den Genuss wissenschaftlicher Weihen.

Im Mai des Jahres 2010 zieht mit David Cameron wieder ein konservativer Premierminister in Downing Street 10 ein. Die Herausforderungen an ihn sind groß. Die Finanzkrise hatte die britische Wirtschaft, die ihr jahrelanges Wachstum zu großen Teilen dem Aufstieg Londons zum wichtigsten Finanzumschlagplatz der Welt zu verdanken hat, hart getroffen. Die Arbeitslosigkeit schnellte nach oben und die Schulden erreichten neue Rekordmarken. Am Ende der Ära New Labour, so die weit verbreitete Diagnose, haben sich die Ungleichheiten verschärft und soziale Probleme an Brisanz gewonnen. Die Rede von der „broken society“ geht um.

Die Auswüchse dieser zu bekämpfen, hat sich Cameron schon seit längerem auf die Fahnen geschrieben. Intellektuelle Schützenhilfe erhielt er dabei stets vom Theologen und Philosophen Phillip Blond. Bereits kurz vor den Unterhauswahlen erschien dessen Buch „Red Tory“, in dem er einen Weg aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise Großbritanniens vorzeichnet. Die Parallelen zu Blair und Giddens regen durchaus die Fantasie an. Wird der „Red Toryism“ das Erbe des „Dritten Wegs“ antreten? Der Titel des Buches verweist zunächst auf die Grundhaltung des von Blond entworfenen politischen Projekts: Red, da es sich den Sorgen der Bedürftigen und der sozialen Gerechtigkeit verschrieben hat. Tory, da es geprägt ist vom Glauben an Tugend, Tradition und den Vorrang des Guten.

Blond untersucht die Politik der letzten Jahrzehnte und gelangt zu der Einsicht, dass sowohl die politische Rechte als auch die politische Linke für die heutige Misere verantwortlich zu machen seien. Aus diesem Grund verwirft er Thatcherismus und Blairismus gleichermaßen. Zusammen schufen beide, was Blond als „Market State“ bezeichnet.

Sowohl Staat als auch Markt hätten Macht akkumuliert und so die Dominanz über die gesamte Gesellschaft gewonnen. Zurück blieben politisch und ökonomisch entmachtete Bürger. Es regiere ein autoritärer, unliberaler und bürokratischer Staat, der als Herold einer extremen Marktideologie auftrete. Mit verheerenden Folgen: Das gesellschaftliche Band sei vielerorts gerissen, Familien zerstört, zivilgesellschaftliches Engagement nehme rapide ab, während Werte und Tugenden in Vergessenheit geraten. Gleichzeitig stiegen Kriminalität und Gewalt an, die Menschen litten unter Schulden, Einsamkeit und Depression. „Britain is broken“, so Blonds düstere Diagnose.

Als Grundübel hinter all dem macht Blond den Liberalismus aus. Bereits der kulturelle Liberalismus und moralische Relativismus der Linken in den 60er Jahren, der mit persönlichem Vergnügen und sexuellen Freiheiten warb, seien tödliches Gift gewesen für die einfachen Leute. Zusammen mit einem bevormundenden Wohlfahrtsstaat habe er die Tradition von Gegenseitigkeit und Selbsthilfe innerhalb der Arbeiterklasse zerstört. Auf diese Weise kehrte der Konsumkapitalismus in die unteren Schichten ein, wodurch erst der Nährboden für Thatchers Marktliberalismus geschaffen wurde.

Auf Seiten der politischen Rechten war es dieser ökonomische Liberalismus, der zur Herausbildung des „Market States“ beitrug. Unternehmerschaft und Eigentum wurden zum Gut an sich erhoben und die Deregulierung der Finanzmärkte beseitigte alle Hürden für den Kapitalverkehr. Blond richtet sich jedoch keineswegs gegen die Wirtschaftspolitik Thatchers als Ganzes. Er begrüßt den von ihr herbeigeführten Strukturwandel, ihren Kampf gegen die übermächtigen Gewerkschaften und die Wiederherstellung eines Unternehmergeistes. Blond kritisiert vielmehr, dass Thatcher den Markt absolut setzte. Seinen monopolistischen Tendenzen und der damit verbundenen ökonomischen Entmachtung der Mehrheit könne so keineswegs entgegengewirkt werden.

Wichtiger ist Blond jedoch seine Kritik am Gesellschaftsbild Thatchers. Ihr extremer Individualismus und die Negierung des Wertes der Gemeinschaft hätte eine Kultur der Gegenseitigkeit zerstört. Hier zeige sich Thatcher letztlich als Liberale und keinesfalls als Konservative. Blonds zentrales Argument gegen eine solche Form des Liberalismus lautet: Eine Gesellschaft ohne Tradition, ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt, laufe zwangsläufig  auf die Notwendigkeit einer externer Autorität, die Kontrolle ausübt, hinaus. Und diese Autorität könne niemand anderes sein als der Staat. Und so wundert es Blond nicht, dass Thatcher den Staat stärker und zentraler gemacht hat. Indem sie der lokalen Ebene die politische Macht entzog, schuf sie einen autoritären Staat.

New Labour unter Blair knüpfte nach Blond in weiten Teilen an die Wirtschaftspolitik Thatchers an und baute die Macht des Staates weiter aus. An die Gesellschaft glaubte man nicht. Den öffentlichen Diensten wurde ihre Autonomie entzogen, Aufgaben strikt vorgeschrieben und zentralisierte Standards geschaffen. Letztlich wurde so die politische und ökonomische Entmachtung der Menschen vorangetrieben.

In dem politischen Konzept, das Blond entwirft und in dem er Auswege aus der Gegenwart aufzeigt, versucht er mit dem Monopol von Staat und Markt zu brechen. Da beide in den vergangenen Dekaden versagt hätten, soll nun die Gesellschaft ihre Chance bekommen. Politische und ökonomische Macht sollen von Staat und Markt auf die Gesellschaft übertragen werden. Die zentralen Stichwörter lauten deshalb Lokalisierung, Autonomie und Verantwortung. Regional sollen nach einem neuen Bankenmodell Kredite an örtliche Unternehmen ausgeben werden. Blond fordert die „Rekapitalisierung der Armen“ in einem neuen Wohlfahrtsstaatsmodell, das weniger bevormundend ist und Eigenverantwortlichkeit stärkt, sodann die Dezentralisierung politischer Macht und die Übertragung von Entscheidungskompetenzen auf die lokale Ebene. Schulen sollen mehr Freiheiten erhalten und in Zusammenarbeit mit den Eltern Formen der Selbstverwaltung annehmen.

Es geht Blond darum, Anreize zur Beteiligung und Eigeninitiative bereitzustellen, um dadurch die Tradition gegenseitiger gesellschaftlicher Unterstützung zu erneuern. Er verspricht sich davon die Wiederherstellung von Tugend und Ethos, sowohl in politischer als auch in ökonomischer Hinsicht. Dann, davon ist Blond überzeugt, werden sich die Menschen nicht mehr ausschließlich am Eigeninteresse, sondern an den Bedürfnissen der Anderen orientieren. Die Notwendigkeit einer zentralen Autorität fiele weg.

Blond diskutiert in diesem Zusammenhang auch, was er als „moralische Ökonomie“ bezeichnet. In einer solchen sind Preise und Löhne nicht nur Ergebnis von Angebot und Nachfrage, sondern gleichzeitig Gegenstand ethischer Überlegungen. So sei es ja bereits heute so, dass Menschen bei Produktion und Konsumtion keineswegs allein nach ökonomischen Faktoren entscheiden würden, wie etwa der Erfolg von Fairtrade- und Bioprodukten zeige. Da dem Wirtschaften in einer moralischen Ökonomie ein anderer Antrieb innewohne, nimmt nach Blond die Neigung Monopole zu gründen ab. In Bezug auf die  Realisierbarkeit einer solchen Wirtschaft, setzt Blond eine umfassende Bewusstseinsänderung bei Produzenten und Konsumenten voraus, hält diese aber mit Verweis auf Themen wie Ökologie und Umweltschutz für nicht unrealistisch. Anders als die politische Linke möchte er die negativen Auswirkungen eines freien Marktes nicht durch Eingriffe und Regeln kompensieren, sondern den Charakter wirtschaftlichen Handelns als solchen ändern.

Von Journalisten auf den berühmten Satz Thatchers angesprochen, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gebe, sagte David Cameron einmal, dass es sie doch gebe, sie aber nicht das gleiche sei wie der Staat. Mit seiner Forderung nach einem kleineren Staat und seinem Versprechen, sich mehr um die Benachteiligten der Gesellschaft zu kümmern, stimmt er mit dem Grundansatz des Blond’schen Ideengebäudes überein. Man hat Cameron oft vorgeworfen, seine Politik nicht ausreichend erklären zu können. Blond gelingt es auf den knapp 300 Seiten seines Buches eine kohärente und dezidiert konservative Politik auszuformulieren, die sich jenseits des Thatcherismus bewegt. Wie viel Cameron hiervon jedoch in praktische Politik überführen wird, können erst die nächsten Monate zeigen. Besonders die Koalition mit den Liberal Democrats, in die ihn das knappe Wahlergebnis getrieben hat, wird Cameron sicherlich an mancher Stelle ausbremsen. Ob der „Red Toryism“ das Erbe des „Dritten Wegs“ antreten kann, bleibt so letzten Endes mit einem großen Fragezeichen versehen.