Politiker in letzter Minute

[kommentiert:] Robert Lorenz kommentiert den Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler

Ausnahmsweise muss sich die Politik derzeit keine Langeweile-Vorwürfe gefallen lassen: Erst gab vergangene Woche der hessische Ministerpräsident Roland Koch seinen Rückzug aus der Politik bekannt. Und nun geht also auch Horst Köhler, der Bundespräsident. Die Medien können ob dieser Sensationsfülle frohlocken, doch spätestens nach dem Amtsverzicht Köhlers dürfte das politische System der Bundesrepublik gehörigen Schaden nehmen. Dabei zeigt sich einmal mehr die Ambivalenz von Seiteneinsteigern in der Politik. Auf der einen Seite verheißen sie außerpolitisch rekrutierten Sachverstand. Auf der anderen Seite sind sie nicht gut darauf vorbereitet, längere Zeit den Fährnissen politischer Amtsführung auf höchster Ebene zu trotzen.

Köhler war kein konventioneller Berufspolitiker. Als Abteilungsleiter und späterer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, als Helmut Kohls „Sherpa“ für die Weltwirtschaftsgipfel befand sich Köhler zwar etliche Jahre lang inmitten der hohen Politik. Jedoch war er dadurch noch lange kein klassischer Berufspolitiker. Denn er blieb der Parteiarbeit gänzlich fern, trat sogar erst zu Beginn der 1980er Jahre der CDU bei. Professionelle Politiker hingegen arbeiten sich mühsam, meist von Jugend an und über viele Jahre hinweg vom Orts-, Kreis- und Landesverband empor, müssen sich dabei im Wettstreit um Wahlämter regelmäßig zahlreicher Rivalen erwehren und lernen überdies den „korrekten“ Umgang mit Journalisten. Ein Fehltritt ins mediale Fettnäpfchen unterläuft ihnen dann zumeist auf niedrigeren Karrierestufen, sodass sie ihre Karriere geläutert und ungefährdet fortsetzen können.

Ganz anders Köhler. Denn er absolvierte keine sogenannte „Ochsentour“ durch den Parteiapparat der CDU. Er stieg in einer Behörde mithilfe von Expertenwissen auf und lernte allenfalls, sich souverän in Bürofluren zu bewegen, Sitzungen zu leiten und Aktenordner zu vertilgen. Jedenfalls fand seine politische Arbeit abseits der Öffentlichkeit statt und die von ihm bekleideten Positionen hatten niemals die Wahl durch eine demokratische Mehrheit zur Voraussetzung. An der Spitze von Organisationen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung stand er ebenfalls nicht gerade im Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Als Köhler 2004 schließlich sein Amt als deutsches Staatsoberhaupt antrat, war er folglich ein politischer Seiteneinsteiger. Dies war für ihn sogar überwiegend von Vorteil: So konnte er sich der Öffentlichkeit einerseits als überparteilicher Kritiker der deutschen Politik präsentieren und andererseits viele seiner Äußerungen glaubwürdig mit seinem wirtschafts- und finanzpolitischen Sachverstand legitimieren.

Doch ihm fehlten zwei elementare Attribute eines abgebrühten Berufspolitikers: das Gespür für die Sensibilität öffentlicher Meinung und die Kraft, vehementen Widerspruch auszuhalten. Mit dieser Unwissenheit war er ein schlechterdings typischer Quereinsteiger: Denn Berufspolitiker steigen üblicherweise mithilfe von Fähigkeiten in politische Spitzenpositionen auf, die sie anschließend auch für einen längeren Verbleib in selbigen benötigen. Die innerparteiliche „Hausmacht“ oder ein routinierter Umgang mit Medien gehören dazu. Im Verlauf ihrer zumeist langjährigen Karriere schärfen sie moralisch zweifelhafte, dafür aber machtdienliche Charaktereigenschaften wie die Bereitschaft zur Intrige, Lüge und Verschlossenheit. Köhler aber war Protegé der Autorität von Profi-Politikern wie Angela Merkel und Guido Westerwelle, ohne die er wohl nicht in sein Amt gelangt wäre. Seine Förderer übertünchten den Mangel an genuin politischen Qualifikationen – zu denen eben nicht zuletzt die Medienkompetenz zählt.

Köhler tätigte in einem brisanten Bereich, der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik, ungeschickte Äußerungen, die einem Polit-Haudegen wohl nie in den Sinn gekommen wären. Denn sie enthielten unbequeme Wahrheiten, wenigstens jedoch ehrliche Ansichten: dass die Bundeswehreinsätze, die vermehrt mit Todesfällen einhergehen, auch der Verteidigung von Wirtschaftsinteressen dienen. Die Pressekommentatoren gingen daraufhin hart mit ihm ins Gericht, schimpften ihn einen „Schwadroneur“,  der sich einen „dicken Patzer“ geleistet und das gesprochene Wort – seine „wichtigste Waffe“ – dilettantisch eingesetzt habe. Schnell kursierten Vergleiche mit Heinrich Lübke, laut SPIEGEL „dem bislang größten Tollpatsch im Amt“. Hausintern habe Köhler längst einen Unterstützungsverlust erlitten, man werfe ihm dort eine laienhafte Amtsführung vor, seitdem sein Pressechef das Präsidialamt vor Kurzem verlassen hat. Am Ende der Krisenwoche stand Köhler da wie ein naives Kind, dem man den Mund verbieten muss.

Köhler reagierte auf die öffentlichen Klagen aus den Zeitungsredaktionen, den Parteien und dem Parlament – der politischen Klasse also – mit Resignation. Sofern andere, bislang unbekannte Gründe nicht seinen Rücktritt bedingten, besaß Köhler kein sonderlich großes Beharrungsvermögen – auch dies im Übrigen eine Kompetenz, die sich Berufspolitiker über viele Jahre hinweg aneignen. Die Kritik, die ihm aus den Feuilletons und der Politik entgegenschlug, war sicherlich hart und mancherorts auch respektlos. Doch sah sich Köhler keineswegs einer einheitlichen Front von Kritikern gegenüber; auch waren nicht allerorten Rücktrittsforderungen zu vernehmen. Mitunter wurden seine Aussagen sogar als mutig gelobt.

Köhler bekundete, er habe sich „missverstanden“ gefühlt. Missverstanden fühlen sich Seiteneinsteiger im Moment ihres Scheiterns sehr oft. Sie reagieren zumeist empfindlicher und weniger hartgesotten auf Widerstände und Schmähungen als Berufspolitiker. Im Gegensatz zu Quereinsteigern haben letztere gelernt, die unsentimentale Brutalität der Medienöffentlichkeit auszuhalten und unbeirrt mit der Hoffnung auf bessere Zeiten im Amt auszuharren, solange es nur irgendwie geht.

Roland Koch zeigte jüngst der Politik die kalte Schulter, unterstellte dem politischen System obendrein einige Mängel und gab ziemlich deutlich zu verstehen, dass er sein beinahe lebenslanges Engagement für das politische System letztlich für vergeblich hält. Der Rücktritt Horst Köhlers könnte diese missmutige Stimmung gegenüber der Politik verstärken.

Mit Tränen in den Augen und versagender Stimme bot Köhler anlässlich seiner Rücktrittserklärung das Bild eines zwar rechtschaffenen, aber von der professionellen Politik demolierten Mannes. Die Bürger können nun einen negativen Eindruck von Politik gewinnen – ein Amtsinhaber, der eine unangenehme Wahrheit auszusprechen wagte, hat dafür mit Ende seiner Karriere zu büßen. Scheinbar bestätigte Köhler das Klischee von einer politischen Kultur, die keine Ehrlichkeit duldet. Darin liegt ein Makel von Seiteneinsteigern: Ihr Scheitern kann das Ansehen von Politik in der Öffentlichkeit mindern.

Wobei, in den letzten Minuten seiner Amtszeit handelte der Quereinsteiger Köhler dann allerdings doch noch politisch geschickt: Erstens trat er selbstbestimmt zurück, bevor ihm die Kontrolle über Schloss Bellevue infolge einer wachsenden Unzufriedenheit seiner Untergebenen mit der ihm eigenen Amtsführung entglitten ist. Und zweitens erfolgte sein Rücktritt ohne ein Schuldeingeständnis; vielmehr lastete er ein etwaiges Fehlverhalten der politischen Klasse an, die sich dem ehrwürdigen Staatsoberhaupt gegenüber respektlos verhalten und ihn öffentlich blamiert habe, damit aber zu einem selbstlosen Protest zugunsten der Würde des Amtes veranlasste.

Nimmt man den Ausstieg Roland Kochs hinzu, so erlebt man zurzeit Tage, die das ohnehin angekratzte Image der Politik nicht gerade aufpolieren.

Robert Lorenz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Gemeinsam mit Matthias Micus hat er das Buch „Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie“ herausgegeben.