[kommentiert:] Oliver d’Antonio kommentiert anlässlich des Rücktritts von Horst Köhler, wie sich das Verhältnis von Berufspolitikern zu ihrem Amt in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat.
„[A]ls der König, sag ich, merkte,
wie der innre Feind sich stärkte,
blickt er über die Heiducken
und man hört ihn leise schlucken.
Und er murmelt durch die Zähne:
‚Macht euch euern Dreck alleene!’“
Im seinem Gedicht „Das Königswort“ zitiert Kurt Tucholsky die legendären Worte, mit denen König Friedrich August III. von Sachsen, gegenüber einer revolutionären Abordnung, die seine Abdankung forderte, seinen Rücktritt bekannt gegeben haben soll.
Die fürstliche Abdankungswelle während der Novemberrevolution steht geradezu symbolisch für die These, der Rücktritt von politischen Ämtern sei ein Kind der modernen Massendemokratie. Konnte noch Reichskanzler Otto von Bismarck Kaiser Wilhelm I. in schöner Regelmäßigkeit durch Rücktrittsdrohungen seinen Willen aufzwängen, so verlor der Rücktritt im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte an Dramatik und wird heute fast schon routiniert hingenommen. Er gehört irgendwie zum politischen Tagesgeschäft dazu, bietet Leitartiklern und ARD-Brennpunkten die Gelegenheit zur Inszenierung tagespolitischer Highlights.
Noch in den sechziger und siebziger Jahren waren Rücktritte durchaus spektakulärer Natur, allein schon, weil es wichtige Menschen zu wichtigen Zeitpunkten und oft aus wichtigen Gründen taten. Regierungschefs wie Ludwig Erhard und Willy Brandt hatten ihre Macht und ihr Charisma verloren, waren in ihren Kabinetten isoliert. Partei- oder Fraktionsvorsitzende wie Thomas Dehler oder Rainer Barzel gingen, weil sie schwere politische Niederlagen einstecken mussten. Und Minister wie Alex Möller oder Karl Schiller symbolisierten durch ihren Abgang, eine Ablehnung der Regierungspolitik.
In den achtziger Jahren trat nun ein neuer Typus des Rücktritts auf den Plan, der den Rücktritt zum Massenphänomen werden lassen sollte. Der Rücktritt aufgrund politischer Skandale: Meist ging es dabei um Geld und Vorteilsnahme zugunsten der eigenen Partei oder Person. Klüngel und Korruption gehörten wohl schon immer zur Politik dazu, sind heute vielleicht sogar seltener als in vorigen Jahrhunderten, aber erwerben im demokratischen Rechtsstaat eine durchaus legitime Eigendynamik. Dies hat nicht zuletzt mit der massenmedialen Expansion zu tun, die politischen Konkurrenten, Journalisten aber auch Wissenschaftlern wie Herbert von Arnim und Erwin K. Scheuch zunehmend Foren für die Dämonisierung der Politik und ihrer Träger, der Parteien, boten.
Die Liste der großen und kleinen Skandale auf unterschiedlichsten politischen Ebenen, die seit den achtziger Jahren für Empörung sorgten, ist lang und – wie ihre Opfer – kaum vollständig zu benennen: Aufgrund der Flick-Affäre, den Traumschiff- und Einkaufs-Chip-Skandalen, den CDU- und FDP-Spendenskandalen sowie der PR-Berater- oder der Bonusmeilen-Affäre mussten unter anderem Otto Graf Lambsdorff, Lothar Späth, Jürgen Möllemann, Wolfgang Schäuble, Gregor Gysi und Cem Özdemir ihre Rücktritte erklären. Daneben erwuchs ein Typus Skandals, der sich nicht auf materielle Werte, sondern auf die moralische Integrität der betreffenden Personen bezieht. Verwiesen die Rücktritte des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger oder die zahlreicher einstiger Mitarbeiter des MfS in den neunziger Jahren (beispielsweise Lothar de Maizière und Ibrahim Böhme) auf echte biographische Brüche, führten in anderen Fällen ungelenke Formulierungen zu Amtsniederlegungen (so in den Fällen Philipp Jenningers und Herta Däubler-Gmelins).
Mit dem Anschwellen der politischen Rücktrittswelle wurde nun auch die immerwährende Forderung nach Rücktritten aufgrund eines jeden politischen Fehlschlags und jeder missglückten Äußerung zu einem gängigen Stilmittel der Politik. Ginge es nach der parlamentarischen Opposition müssten die Kabinette der Republik wöchentlich ihr Personal austauschen. So hört die Mediengesellschaft fast täglich von Rücktrittsforderungen, die sie routiniert abheftet, und wird bisweilen aufmerksam, wenn tatsächlich einer seinen Hut nimmt. Der Rücktritt wird zum kurzfristigen Aufregerthema. Für manchen, den die Last des Amtes und der Vorwürfe drückten gar zur willkommenen Ausstiegsoption, um später, vorgeblich geläutert aber auch gestärkt, zurückzukommen, wie es beispielsweise dem neuen Grünen-Chef Özdemir gelang.
Der Rücktritt wird zur permanent mitgedachten Option derer, die in der Öffentlichkeit stehen, um sich einen halbwegs gesichtswahrenden Ausstieg jenseits der offenen Niederlagen im permanenten Machtkampf und Ränkespiel der Politik zu ermöglichen. Nur wenige wie Rudolf Scharping wagten den öffentlichen Showdown, statt dem ungeschriebenen Gesetz des Rücktritts zu gehorchen, als dieser nach der verheerenden 94er-Wahlniederlage der SPD auf dem Mannheimer Parteitag 1995 eine böse Niederlage gegen Oskar Lafontaine um den Parteivorsitz einholte.
Der Rücktritt wird zur Routine des politischen und medialen Alltagsgeschäfts. Doch der Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten ist ein anderer. Nicht zuletzt, aber auch nicht allein, weil Köhler Bundespräsident war und der erste seines Amtes, der diesen Schritt tat. Köhlers Rücktritt verweist darauf, dass Politik – in den Worten des eine Woche zuvor zurückgetretenen Roland Koch – nicht alles im Leben sei. Er verweist darauf, dass Politiker möglicherweise das Gefühl haben, sich nicht alles antun zu müssen, dass das Amt nicht über dem persönlichen Glück zu stehen habe. Der Rücktritt Köhlers erscheint als ein seltsamer Rückzug ins Private und als Entscheidung eines Privatmannes, der sich – wie mancher Kommentator dieser Tage unterstellt – der Verantwortung des Amtes nicht gewachsen fühlte und sich dieser auch nicht zu stellen bereit war.
Der Rücktritt Horst Köhlers hat insofern einen symbolischen Stellenwert. Politik und Repräsentation erscheinen selbst auf höchster Staatsebene immer mehr als Opfer, welche der Bürger als Citoyen bis zu einem gewissen Grade zu bringen bereit ist, die aber irgendwann den privaten Interessen des Bourgeois weichen können, wenn das Amt nicht mehr den gesetzten Lebens- und Selbstverwirklichungszielen entspricht, wenn die angestrebten machtpolitischen Ziele nicht mehr erreicht werden können oder möglicherweise wirtschaftliche Optionen lukrativer erscheinen. Politik wird somit weniger zur Lebensaufgabe, als zu einem möglichen Karrierevehikel und einer biographischen Zwischenstation.
Roland Kochs Andeutung, er wolle mit 52 Jahren noch etwas anderes machen oder der frühe Rückzug Friedrich Merz’ aus der Politik stehen kontrastierend gegenüber älteren Politikergenerationen: Willy Brandt und Herbert Wehner, betrieben bis ins hohe Alter aktive Politik, Gerhart Baum oder Burkhard Hirsch, wirken noch heute als Ankläger illiberaler Politik aller Parteien und Horst Ehmke saß noch gut zwei Jahrzehnte nach seiner faktischen Degradierung im Bundestag. Die Verläufe heutiger Politikerkarrieren jedoch legen einen Ausstieg bisweilen recht nahe. Wo Karrieren jung beginnen, wo persönliches Renommee und private Netzwerke im Verlauf eines raschen Aufstiegs ein solches Erlauben, stellen sich doch mit Recht Fragen wie die, wo sich Bundesminister wie der 39-jährige Karl-Theodor zu Guttenberg, der 37-jährige Philipp Rösler oder die 32-jährige Kristina Schröder wohl in zwanzig Jahren sehen. Dass es unter Umständen nicht mehr die Politik ist, in der alle Optionen schon in jungen Jahren ausgeschöpft wurden, erscheint nicht unplausibel, da es über die aufgebauten Kontaktkreise reichlich Chancen auf lukrativere und weniger psychisch und physisch belastende Tätigkeiten gibt.
Horst Köhlers Rücktritt hat sicherlich nichts, der von Roland Koch wohl nur bedingt mit persönlichen Karrierezielen zu tun. Dennoch stellt sich die Frage, was es für eine Demokratie bedeutet, wenn ihre Politiker das Politikmachen privaten Interessen unterordnen, weil sie Kritik nicht aushalten wollen oder ein weiterer Aufstieg verbaut scheint. Politik zu gestalten, wird dadurch vermittelt, ist weder Ideal noch Privileg. Der Schaden für die politische Kultur, den diese Rücktritte hinterlassen, ist wohl größer als die personellen Lücken.