Die Geister, die Orbán rief

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[kommentiert]: Niklas Schröder beobachtet einen alarmierenden Wandel der politischen Verhältnisse in Ungarn.

Diese Meldung aus der ungarischen Kleinstadt Tapolca ließ Europas Medienlandschaft am Abend des 12. April 2015 aufhorchen. Bei der Nachwahl um ein Direktmandat für die Ungarische Nationalversammlung hatte weder der Kandidat der Regierungspartei Fidesz noch der Bewerber der sozialdemokratischen MSZP die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Stattdessen war es Lajos Rig, Politiker der rechtsextremen Jobbik, der an diesem Sonntagabend als Sieger vor die Kameras treten konnte. Nach der Auszählung von über 99 Prozent der Stimmen war klar, dass Rig sich knapp gegen den Bewerber des Ungarischen Bürgerbundes Fidesz durchgesetzt hatte und fortan das erste direkte Parlamentsmandat in der Geschichte der rechtsextremen Partei bekleiden würde. Grund genug für Gábor Vona, den Parteivorsitzenden von Jobbik, von einem „historischen Ereignis“ zu sprechen und seine Partei als „die Kraft“ zu bezeichnen, „die zu einem Regierungswechsel fähig sei“[1]. Tatsächlich scheint diese Nachwahl ein Gradmesser für das aktuelle politische Meinungsbild in Ungarn zu sein.

Schon im März hatte eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Ipsos ergeben, dass Jobbik in der Wählergunst nur noch drei Prozentpunkte hinter der Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán rangiere[2]. Während die linke Opposition im Land weiter kaum von der Unzufriedenheit über die orbánsche Politik profitieren kann, ist es die rechtsextreme „Bewegung für ein besseres Ungarn“, die sich momentan in einem neuen Popularitätshoch befindet.

Es wäre jedoch zu kurz gedacht, die Stärke von Jobbik allein an hohen Umfragewerten oder dem Erfolg in Tapolca messen zu wollen. Die nächsten landesweiten Wahlen zur Nationalversammlung und zum Europaparlament stehen turnusgemäß erst im Jahr 2018 an. Noch lässt sich nicht absehen, wie sich die Gunst der ungarischen Wähler_innen bis dahin entwickelt werden hat. Doch das ist auch gar nicht entscheidend. Eine Analyse der letzten Jahre unter der Führung von Viktor Orbán offenbart eine ganz andere Stärke der Neo-Faschisten: Jobbiks Einfluss auf die Regierungspartei.

Nicht erst seitdem Viktor Orbán im Juni 2014 festhielt, dass in seiner Vorstellung eine Demokratie nicht zwingend liberal sein müsse,[3] sieht sich Ungarns Ministerpräsident scharfer Kritik sowohl aus dem Inland als auch aus Brüssel ausgesetzt. Bereits in der vorangegangenen Legislaturperiode hatte er bedeutende Schritte unternommen, um Ungarn auf den Kurs der angestrebten „illiberalen Demokratie“ zu verschieben. Allein in der Amtszeit von 2010 bis 2014 erfuhr das Land fünf Verfassungsnovellen. Mithilfe der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit schränkte die Regierung die Rechte von Justiz, Medien, gleichgeschlechtlichen Paaren und Obdachlosen ein,[4] während das Grundgesetz gleichzeitig um nationalistische Symbolik erweitert wurde. Das wohl bekannteste Beispiel dieser Maßnahmen: Ungarns 2010 verabschiedetes Mediengesetz, das besonders wegen seiner scharfen Sanktionsmöglichkeiten gegen einzelne Medien und Journalist_innen in die Kritik geriet.[5]

Wie aber stehen Ungarns Rechtsextreme in Verbindung mit diesen Maßnahmen? Die Antwort auf diese Frage gibt Anlass zur Sorge: Viele stammen direkt aus ihrer Feder.

Im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung untersuchte schon im Juni 2012 das Budapester Institut Policy Solutions den Einfluss der rechtsextremen Jobbik auf den Ungarischen Bürgerbund. Als Grundlage für ihre Studie verglichen die Autoren das Wahlprogramm von Jobbik für die Parlamentswahlen 2010 mit der Politik des Kabinettes Orbán in den ersten Jahren nach dessen Wahlsieg. Fazit dieser Studie: „Es ist mittlerweile klar nachweisbar, dass Fidesz in fast allen Fragen von Grundwerten und sachpolitischen Auseinandersetzungen die Positionen von Jobbik kopiert.“[6]

Eines der prägnantesten Beispiele für eine solche Kopie der Programmatik ist das bereits erwähnte Mediengesetz. Nie war ein solches Vorhaben vor Orbáns Regierungszeit von Seiten des Fidesz kommuniziert worden, auch stand es nicht im Wahlprogramm des Bürgerbundes[7]. Stattdessen war es Jobbik, die 2010 die „Schaffung eines Mediengesetz mit einem neuen, wertorientierten, öffentlich-rechtlichen Charakter“ forderten, welches „[…] die schnellstmögliche Vollstreckbarkeit von Strafen gegen einzelne Medien“ ermöglichen solle.[8] Fidesz übernahm das Konzept, veränderte das Grundgesetz und schuf die (ausschließlich von Regierungsvertretern besetzte) staatliche Medienbehörde „NMHH“. Im Ranking der Organisation Reporter ohne Grenzen, die jedes Jahr einen Index zur Pressefreiheit in der Welt errechnet, ist Ungarn seitdem vom 23. auf den 64. Rang abgesunken.[9]

Die Liste der ursprünglichen Jobbik-Positionen, die letztendlich vom Bürgerbund umgesetzt wurden, reicht aber noch weiter. Von Sondersteuern in Branchen, in denen v.a. ausländische Firmen agieren, bis hin zur Einführung eines „Tags des nationalen Zusammenhalts“ am 4. Juni.[10] Manch ein Jobbik-Funktionär dürfte sich in den letzten Jahren verwundert die Augen gerieben haben – denn ohne an der Regierung beteiligt zu sein, sind doch vom Ungarischen Bürgerbund mit dessen Zweidrittelmehrheit Eckpfeiler des Jobbik-Programms umgesetzt worden.

Die politische Annäherung an Jobbik macht sich auch dadurch bemerkbar, dass sich Orbán der Rhetorik und den Diskursen der Neonazis annimmt. 2012 äußerte sich der Premierminister etwa so: „Auch die Roma müssen arbeiten. Von Kriminalität kann man nicht leben. Auch von Sozialhilfe kann man nicht leben oder jedenfalls nur sehr viel schlechter als von Arbeit.“[11] Mit derlei Aussagen knüpft der Rechtspopulist Orbán nahtlos an den radikalen Antiziganismus der Jobbik an. Seit Jahren haben sich Ungarns Neonazis nämlich zum Ziel gemacht, die angebliche „Zigeunerkriminalität“ im Land zu bekämpfen. Die Konsequenz daraus ist, dass die Trennlinien zwischen Ungarns radikaler Rechten und der von Orbán propagierten „konservativen Mitte“ zusehends verschwimmen. Dass beginnt da, wo der Ministerpräsident Roma als kriminell pauschalisiert, setzt sich fort, wo antisemitische Schriftsteller wie etwa der Kriegsverbrecher Albert Wass in den nationalen Grundlehrplan aufgenommen werden, und findet seinen Abschluss, wenn wiederum Orbán erklärt, sein Land vor den „Kolonialisierungsversuchen“ von EU und den Spekulanten der internationalen Finanzindustrie schützen zu wollen.[12] Letztendlich baut Orbán damit dieselben Feindbilder auf, die auch Jobbik seit jeher identifiziert hat: internationale Konzerne, die links-liberale Opposition, „kriminelle Zigeuner“ und die Europäische Union. Seitdem lässt sich beobachten, dass im Land nicht nur nationalistische und revisionistische Einstellungen an Zustimmung gewinnen, sondern auch Antisemitismus und Antiziganismus wachsen.

Seit nunmehr fünf Jahren fährt der Ministerpräsident einen Schlingerkurs, wenn es um das Verhältnis zu Ungarns Rechtsextremen geht. In Europa will er seinen Bürgerbund als nationale, konservative Kraft präsentieren, die aber nichts mit der offen faschistischen Jobbik gemein hat. Realpolitisch bietet sich ein anderes Bild: Egal, aus welchem Grund Orbán mit Ungarns Neo-Faschisten anbandelt; mit diesem Kurs erweist er ihnen einen großen Dienst. Zum einen verleiht er den Jobbik-Forderungen politische Relevanz, indem er sie auf die Regierungsagenda setzt. Zum anderen führt Orbáns Rechtspopulismus dazu, dass der politische Diskurs im Land verroht, Tabus gebrochen werden und extrem rechten Ideen somit der Weg in eine breite Öffentlichkeit geebnet wird.

Noch sind es drei Jahre, bis Ungarns Bevölkerung wieder an die Wahlurnen tritt. Trotz seines derzeitigen Umfragetiefs ist eine weitere Amtszeit von Viktor Orbán nicht ausgeschlossen. Doch während sich Ungarns linke Opposition weiter in einer Glaubwürdigkeitskrise befindet, ist ebenso möglich, dass sich der Protest gegen Orbáns Politik noch stärker in Form von Zustimmung für Jobbik kanalisiert.

Niklas Schröder studiert Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

[1] O.V.: Gábor Vona: Jobbik is the opposition force, in: Jobbik.com, URL: http://www.jobbik.com/gabor_vona_jobbik_is_the_opposition_force [eingesehen am 28.05.2015].

[2] Siehe Meinungsumfrage des Forschungsinstitutes Ipsos, URL: http://ipsos.hu/en/partpref/t%3D0%26df%3D175%26dt%3D240%26c%3D0%26nl%3D31|33|32|#edit-party-all [eingesehen am 28.05.2015].

[3] Vgl. Horváth, Júlia: Viktor Orbáns Rede auf der 25. Freien Sommeruniversität in Băile Tușnad (Rumänien) am 26. Juli 2014, 01.08.2014, URL: https://pusztaranger.wordpress.com/2014/08/01/viktor-orbans-rede-auf-der-25-freien-sommeruniversitat-in-baile-tusnad-rumanien-am-26-juli-2014/ [eingesehen am 28.05.2015].

[4]                     Siehe o.V.: Ungarns Parlament verabschiedet weitreichende Verfassungsänderung, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 12.03.2013, URL: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/156390/ungarn-verfassungsaenderung [eingesehen am 28.05.2015].

[5] Dazu Tils-Ladwig, Birgit: Neues Mediengesetz und Verfassungsänderung: Ungarn, wohin steuerst Du?, November 2011, URL: http://library.fes.de/pdf-files/akademie/online/08826.pdf, S. 4 [eingesehen am 28.05.2015].

[6] Nagy, András Bíró/Boros, Tamás/Vasali, Zoltán: Radikaler als die Radikalen: Die Partei Jobbik im internationalen Vergleich, in: Melzer, Ralf/Serafin, Sebastian (Hrsg.): Rechtsextremismus in Europa: Länderanalysen, Gegenstrategien und arbeitsmarktorientierte Ausstiegsarbeit, Frankfurt am Main 2013, Seite 268.

[7] Siehe Nagy, András Bíró/Boros, Tamás/Vasali, Zoltán: Rechtsextremismus in Ungarn. Eine politische Analyse und Vorschläge des Institutes Policy Solutions im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung, Budapest 2012, URL: http://www.fesbp.hu/common/pdf/DE_PS_szelsojobboldal_Magyarorszagon.pdf, S. 24 [eingesehen am 28.05.2015].

[8] Ebd.

[9] Siehe Reporters without Borders – Press Freedom Index 2010, URL: http://en.rsf.org/press-freedom-index-2010,1034.html; Press Freedom Index 2014, URL: http://rsf.org/index2014/en-index2014.php [eingesehen am 28.05.2015].

[10] Der 4. Juni 1920 markierte die Unterzeichnung des sog. „Trianon-Vertrages“, mit welchem Ungarn über zwei Drittel seiner Landesfläche einbüßte. In einem Interview auf der parteieigenen Homepage bezeichnet Gábor Vona den Vertrag als „ein Diktat, mit welchem die Feinde Ungarns das Schicksal des Landes auf der Grundlage von Lügen, manipulierten Zahlen und Falschmeldungen“ entschieden. Vona, Gabor: Europe kept silent, in: Jobbik.com, 23.06.2010, URL: http://www.jobbik.com/gabor_vona_europe_kept_silent_-_interview [eingesehen am 28.05.2015].

[11] Zitiert nach Verseck, Keno: Ungarn: Wo Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, in: Bundeszentrale für politische Bildung, 22.05.2014, URL: http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/184858/ungarn-wo-rechtsextremismus-in-der-mitte-der-gesellschaft-angekommen-ist [eingesehen am 28.05.2015].

[12]                   Ebd.