Protest-Forschung: Wie findet man als Gegner statt?

Beitrag verfasst von: Julia Zilles; Wolf J. Schünemann

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[analysiert]: Julia Zilles und Wolf J. Schünemann über diskursive Profilierungsstrategien der Protestkommunikation

Protestakteure verfügen im Unterschied zu anderen institutionalisierten oder ressourcenstärkeren Akteuren nicht über einen routinemäßigen Zugang zu den politischen Entscheidungsprozessen – dies gilt zumindest in Bezug auf den Anlass ihres Protests. Was also können Protestierende tun, um sich Gehör zu verschaffen und wahrgenommen zu werden und somit, mit dem Bewegungsforscher Joachim Raschke gesprochen, überhaupt erst stattzufinden[1]? Welche musterhaften diskursiven Profilierungsstrategien lassen sich erkennen?

Analysiert man die Argumente, die von Protestierenden geäußert werden, so lassen sich in ganz unterschiedlichen Protest- oder Debattensituationen (z.B. ‚Stuttgart 21‘, lokale Proteste gegen Energiewendeprojekte, EU-Skepsis, Proteste der trans-/internationalen Netzgemeinde) immer wieder die gleichen, übergeordneten Profilierungsstrategien feststellen. Mit diesen, auf einer Metaebene, nämlich gewissermaßen über den inhaltlichen Argumenten, angesiedelten Profilierungsmustern konstituieren sich Protestakteure – entweder dauerhaft oder auch nur vorübergehend. Da Argumente bewusst gemacht werden, sind sie notwendigerweise immer auch strategisch ausgerichtet[2]. Nicht gemeint sind hiermit jedoch bewusste Kommunikations- oder PR-Strategien der Gegner.

Betrachtet man ganz unterschiedliche Protestsituationen, stößt man immer wieder auf diese fünf diskursiven Profilierungsmuster von Protestierenden, die im Folgenden kurz und beispielhaft zusammengefasst werden[3]:

  1. Plan B-Strategie

Zunächst einmal sind Proteste ein Ausdruck von Negation und so lautet die grundlegendste Definition: „Wer protestiert, sagt Nein […]“[4]. Protestierende möchten aber häufig nicht als reine Neinsager und Verhinderer wahrgenommen werden, sondern als konstruktiv mitwirkende Akteure. So versuchen sie häufig, durch die Formulierung eines möglichst konkreten und realistischen Alternativvorschlags den Eindruck des reinen Blockierens zu vermeiden. Diese Gegenvorschläge sind häufig durch ein sehr hohes Maß an Expertise, fachlicher Kompetenz und Problemverständnis geprägt. Vor allem stellt diese Strategie auch eine Reaktion auf das von den politisch Verantwortlichen geäußerte Argument der Alternativlosigkeit von Projekten dar.

Beispiele für die Kommunikation von Alternativen

Im Falle von ‚Stuttgart 21‘ wurde das von Ingenieuren und Architekten entworfene Konzept ‚Kopfbahnhof 21‘ bzw. ‚K21‘ als innovative Alternative zu ‚Stuttgart 21‘ ins Spiel gebracht. Auch im Falle der Energiewendeproteste werden immer wieder Alternativvorschläge präsentiert: So stellt für die Stromtrassengegner etwa die dezentrale Energiegewinnung durch Wind- und Solarkraft vor Ort oder aber Erdverkabelung eine machbare Alternative dar, auch Fracking-Gegner setzen sich für ‚echte‘ erneuerbare Energien ein und lehnen Fracking als so genannte ‚Brückentechnologie‘ ab. Bei den Windkraftgegnern erscheint es vergleichsweise schwierig Alternativen zu formulieren, da auch hier die Energiewende als Konsens angesehen wird und man sich eher gegen das Ausmaß oder gegen „bestimmte konfliktträchtige Standorte“ wendet.

  1. Populistische Anti-Establishment-Strategie

Mit der populistischen Anti-Establishment-Strategie betonen Protestierende ihre institutionelle und personelle Distanz zum politischen Betrieb: Wir sind keine Politiker! Diese Abgrenzung nutzen sie zur eigenen Profilierung, sie verkörpern ihrer Ansicht nach meist die Stimme der „schweigenden“ Bevölkerungsmehrheit. Die Grundhaltung dieser Strategie lässt sich mit der Aussage „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ beschreiben.

Beispiele für die Anti-Establishment-Kommunikation

Ein Windkraftgegner beschreibt die Distanz in einem Interview sehr bildlich:

„Es ist im Grunde hoffnungslos, ja, wir kommen nicht an die Steuerbrücke, ja auf der Steuerbrücke stehen Leute, die das Schiff auf ’nen Eisberg zusteuern – ich übertreib’s jetzt und mach’s mal ein bisschen melodramatisch, ja – und wir sitzen unten irgendwo in den Kabinen und sehen ganz genau wo das ganze hinführt, aber wir können uns daraus nicht befreien, wir kommen nicht da hin, wo wir das Ruder rumreißen können, das ist das Problem, ne. Und, dass, die Resignation richtet sich auch gegen die eigene Bevölkerung, die eben zunehmend erlahmt.“

  1. Diskreditierungsstrategie

Durch die Diskreditierungsstrategie versuchen Protestierende, die Sprecher der Gegenseite zu kompromittieren, um ihre Glaubwürdigkeit zu schwächen. Dies geschieht in zum Teil diffamierender Art und Weise. Diese Strategie kann natürlich auch von anderen Beteiligten verwendet werden, für Protestakteure ist der Einsatz jedoch in besonderer Zuspitzung möglich, da sie weniger zu verlieren haben, weil an sie zum Beispiel weniger hohe Verhaltenserwartungen herangetragen werden als an Politiker. So sind auch Beleidigungen und Beschuldigungen durchaus üblich. Diese Strategie konnte man geradezu idealtypisch an der Kritik an dem ehemaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus im Kontext der S21-Proteste beobachten. Aber auch der ursprünglich zu den Gegnern zählende neue Ministerpräsident Winfried Kretschmann wurde von der Kritik nicht verschont. Politikern wird zum Teil sehr deutlich „Dummheit“, „Inkompetenz“ und „Machtmissbrauch“ vorgeworfen. Dies belegt auch ein Zitat eines Windkraftgegners:

„Es ist ein Moloch. Wir sind noch nie […] so schlecht regiert worden.“

Beispiele für die Diskreditierungsstratgie

  1. Expertentum als Strategie

Die Aktivisten präsentieren sich offensiv als die eigentlichen und vor allem unabhängigen Experten in der Sachfrage und grenzen sich hiermit zum einen von den Politikern, denen sie sachliche Unkenntnis vorwerfen, ab. Zum anderen distanzieren sie sich aber auch von der Lobby- und PR-Arbeit von Unternehmen. Sie vermitteln durch sehr faktenreiche Argumentationen den Eindruck, dass sie das Problem in seiner Gänze durchschaut und erfasst hätten. Sie setzen auch auf das Mittel der direkten Politikberatung und streuen so ihre Expertise nicht nur in der Bevölkerung, sondern tragen sie etwa auch über Gutachten in die Politik hinein. Besonders deutlich wurde diese Strategie etwa in der sogenannten Schlichtung bei ‚Stuttgart 21‘: Hier gelang es den Gegnern, sich als die eigentlichen Experten zu profilieren.

Beispiele für die Kommunikation von Expertise

  1. Stellvertreterfunktion

Die Protestierenden füllen mit ihrem Engagement und ihrer Arbeit ein „Verantwortungsvakuum“ (so eine Windkraftkritikerin im Interview) aus, welches die Politik in ihren Augen hinterlässt. Sie nehmen Aufgaben, deren Erfüllung sie eigentlich von der Politik erwarten, selbst in die Hand und erfüllen diese dann aus ihrer Sicht besser, als Politik, Verwaltung und Unternehmen es könnten. Darunter fallen etwa die wahrheitsgetreue Aufklärung der Bevölkerung oder auch die Beratung von Politikern bei Entscheidungen. Die Protestierenden übernehmen Verantwortung für ihren Nahbereich, ihre „Heimat“. Protest wird hier auch als Korrektiv für eine als mangelhaft empfundene Politik (im Sinne der Politikverdrossenheit oder postdemokratischer Erscheinungen) gesehen.

Beispiele für die Stellvertreter-Kommunikation

Diese fünf Strategien könnte man mit Josef Klein als „komplexe topische Muster“[5] bezeichnen, die allen Protestakteuren in unterschiedlicher Ausprägung zur Verfügung stehen. Sie stellen somit allgemeine Muster des Kommunikations- und Argumentationsverhaltens von Protestakteuren da und sind gerade unabhängig von fallspezifischen Deutungsmustern zu betrachten. Allerdings müsste diese These weiter überprüft werden. Es wäre geboten, weitere, möglichst unterschiedliche Protestsituationen zu analysieren – sowohl historische Proteste als auch aktuelle, thematisch sehr unterschiedliche Protestsituationen wie etwa auch Pegida und NoPegida oder auch internationale Vergleichsfälle.

Julia Zilles arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung im Projekt „Bürgerproteste in Zeiten der Energiewende“. Dr. Wolf J. Schünemann ist Akademischer Mitarbeiter an der Universität Heidelberg, er forscht in den Bereichen Internationale Beziehungen, europäische Integration und Netzpolitik.

Alle Bilder von Alexander Schäfer.

[1] „Eine Bewegung, über die nicht berichtet wird, findet nicht statt“. Raschke, Joachim: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriss. Frankfurt, New York 1988, S.343.

[2] Vgl. Schünemann, Wolf J.: Der EU-Verfassungsprozess und die ungleichzeitige Widerständigkeit gesellschaftlicher Wissensordnungen. Exemplarische Darstellung eines Ansatzes zur diskursanalytischen Referendumsforschung, in: Zeitschrift für Diskursforschung Jg. 1 (2013), S. 67-87. Argumente werden in diesem Kontext im Anschluss an Schünemann als reine Analysekategorie verstanden und nicht etwa diskursethisch als Frage nach dem besseren Argument.

[3] Die ersten drei Strategien wurden bereits ausführlich in Bezug auf ‚Stuttgart 21‘ von uns bereits in diesem Artikel formuliert: Schünemann, Wolf J./Zilles, Julia: Wie wird man Gegner? Eine Analyse der diskursiven Konstitution von Protestakteuren am Beispiel von ‚Stuttgart 21’, in: Kneuer, Marianne (Hrsg.): Standortbestimmung Deutschlands: Innere Verfasstheit und internationale Verantwortung. Baden-Baden 2015, S. 279-302. Auf der Tagung „Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit. Politikkritik in der Demokratie“ (Mai 2015) wurden alle fünf Strategien präsentiert.

[4] Rucht, Dieter: Protest als Kommunikation, in: Folke Schuppert, Gunnar/Gosewinkel, Dieter (Hrsg.): Politische Kultur im Wandel von Staatlichkeit. Berlin 2008, S. 337-356, hier S. 338.

[5] Wir danken dem Plenum der Tagung „Protest – Parteienschelte – Politikverdrossenheit“ ganz herzlich für die konstruktiven Formulierungsvorschläge.