Populismus als Krisensymptom

[analysiert]: Danny Michelsen über die Krise in der politischen Kultur Großbritanniens.

Viele Briten werden es wohl nicht gerne hören: Aber ihr Land bewegt sich, politisch gesehen, auf kontinentaleuropäische Verhältnisse zu. Nicht nur, dass auch in Westminster – dank First Past the Post bislang ein Hort der Stabilität – das Absinken der Volksparteien in der Wählergunst zu wankenden Mehrheitsverhältnissen und vor drei Jahren zur ersten Koalition der Nachkriegszeit geführt hat. Seit ein paar Jahren erhalten zudem die vormals irrelevanten populistischen Ränder des Parteiensystems regen Zulauf und daher eine zunehmende Bedeutung im öffentlichen Diskurs.

Wie in Frankreich, wo der Front National nur regional reüssieren kann, und anders als etwa in Österreich, Italien, den Niederlanden und den skandinavischen Staaten spiegelt sich dieser Trend aufgrund des Mehrheitswahlrechts nicht in nationalen Parlamentsmandaten wider, sondern in gelegentlichen Wahlerfolgen auf europäischer und kommunaler Ebene sowie im Agenda-Setting der Regierungsparteien, die bestimmte Forderungen der Populisten aufgreifen, um ihnen das Wasser abzugraben. So verfährt auch David Cameron, der auf die wachsende Popularität der UK Independence Party, die seit Monaten die besten Wahlergebnisse ihrer jungen Geschichte einfährt, u.a. mit der Aussicht auf ein Europa-Referendum und eine härtere Linie in der Migrationspolitik reagiert. Was sagt uns diese Entwicklung über den Zustand der politischen Kultur Großbritanniens?

Einerseits sind die Erfolge der UKIP lediglich eine Reaktion auf die spezifischen Schwierigkeiten, die sich aus einer konservativ-liberalen Koalition ergeben, denn in der vergangenen Dekade wurden die Liberalen als eine Art linke Alternative zu Labour wahrgenommen, die sich für Vermögenssteuern und Abrüstung stark gemacht hat. Ihre Wünsche muss der Premierminister ebenso berücksichtigen wie die jener achtzig bis hundert erzkonservativen Hinterbänkler, deren Steuerpläne und Positionen zu Abtreibung und Homo-Ehe immer wieder Vergleiche mit der amerikanischen Tea-Party-Bewegung provozieren. Vielleicht war es ein strategischer Fehler von Cameron, den ultrarechten Flügel bei der letzten Kabinettsumbildung im September 2012 nicht stärker berücksichtigt zu haben. Andererseits: Dessen Inklusion hätte die ohnehin angespannte Stimmung in der Koalition zusätzlich belastet. Stattdessen entschied sich Cameron, die europaskeptische Karte auszuspielen – was zum Schrecken der Parteiführung jedoch keinerlei Wirkung zeigte: Weder ließen sich die Rebellen in den eigenen Reihen befrieden, noch sanken die Umfragewerte der UKIP.

Bekanntlich ist der Erfolg populistischer Parteien in westlichen Industrienationen oft das Symptom einer tiefen Krise der Integrationsfähigkeit repräsentativer Institutionen. Letzteres ist nicht zuletzt das Resultat eines seit mehr als zwei Jahrzehnten anhaltenden Depolitisierungsprozesses, der viel mit dem Konkurrieren der beiden großen Parteien um die aufstiegsaspirante Neue Mitte und ihrem exzessiven Beharren auf dem Modernisierungs-Narrativ zu tun hat: In den 1990er Jahren hatte Tony Blair das Wort „Erneuerung“ zum Zentralbegriff seiner Agenda gemacht, die Labour Party von ihren sozialistischen Restbeständen befreit und sich so mit einem beispiellosen Erdrutschsieg den Weg in die Downing Street gebahnt. Die Tories konnten mit dem juvenilen Eifer, den New Labour versprühte, lange nicht mithalten, wählten erst 2005, nach drei Wahlniederlagen in Folge, mit David Cameron einen jungen Reformer zum Parteivorsitzenden, der für einen englischen Konservativen ungewöhnliche Töne anschlug: So in seiner sog. „hug a hoody“-Rede, in der er für mehr Verständnis gegenüber jugendlichen Gangmitgliedern aus Unterschichten-Familien warb. Vor allem aber versuchte Cameron, seiner Partei ein grüneres und sozialeres Image zu verleihen. Die Koalition mit den Liberalen hat ihn noch weiter in die gesellschafspolitische Mitte getrieben: Vor allem mit der Legalisierung der Homo-Ehe hat er eine symbolische Grenzlinie überschritten, wie man im Januar an der Vielzahl der im Telegraph zitierten offenen Briefe aus empörten ländlichen Ortsverbänden der Konservativen Partei sehen konnte. Dort, an der Basis, ist man von dem Tempo, mit dem sich die Parteiführung dem „linksliberalen Establishment“ annähert, wenig begeistert. Diese Wut hat sich Nigel Farage, dessen UKIP das für die Neue Rechte typische Gemisch aus wertkonservativer Gesellschafts- und neoliberaler Wirtschaftspolitk anbietet, dankbar zunutze gemacht.

Die Geländegewinne der Populisten sind aber auch als Reaktion auf eine gewissermaßen moralische Krise zu verstehen. In den letzten fünf Jahren hat Großbritannien eine ungewöhnliche Fülle öffentlicher Skandale erlebt, die die Glaubwürdigkeit der Eliten in Politik, Medien und Finanzwirtschaft erheblich erschütterten. Es gab den Spesenskandal von 2009, der das Wort vom „rotten parliament“ in Umlauf brachte und vielen Bürgern wie eine Fortsetzung der Parteispendenaffäre von 2006/07 anmutete. Aber die größte internationale Aufmerksamkeit erfuhren im Sommer 2011 der Abhörskandal um die mittlerweile eingestellte Zeitung News of the World und im Oktober 2012 die Aufdeckung der Versuche von Verantwortlichen der BBC-Sendung „Newsnight“, Missbrauchsvorwürfe gegen den pädophilen Entertainer Jimmy Savile zu verschleiern. Dies und die Bilder von plündernden Jugendlichen während der London Riots 2011 haben dazu geführt, dass in jüngster Zeit wieder häufiger vom „moral decline“ die Rede ist. Auch der Labour-Vorsitzende Ed Miliband spricht schon seit längerem von einer Krise des individuellen und kollektiven Verantwortungsbewusstseins. „Responsibility“ ist deshalb eines der Schlüsselwörter in seinen jüngeren Reden: Miliband kritisiert, eine „fast buck culture“ habe sich im öffentlichen Leben etabliert und Anhänger in allen Parteien gefunden; deshalb sei es an der Zeit, einen „responsible capitalism“ zu schaffen – ein Begriff, der in den Umfragen so gut ankam, dass Cameron wenig später einen „moral capitalism“ einforderte.

Überhaupt hat man mitunter den Eindruck, dass der Streit um die Konzepte weitgehend einem Kampf um die Begriffe gewichen ist. Seitdem New Labour seine Politik stärker an Fokusgruppen-Befragungen als am eigenen Parteiprogramm ausgerichtet hat, um die Präferenzen des Median-Wählers zu eruieren, wurde die agonale Polarisierung zwischen den Lagern mehr und mehr durch Politainment und inhaltsarme Ästhetisierung ersetzt. Umso leichter fällt es Demagogen wie Farage, zu behaupten, dass „the three parties, the three front benches all look the same and sound the same“.[1] Dabei kann man der Labour-Führung keineswegs vorwerfen, nicht nach neuen Ideen Ausschau zu halten. Ed Miliband hat sich das Verdienst erworben, seine Partei nach 15 Jahren Top-down-Implementierung unter Blair/Brown in ein offenes Forum für oft unbequeme Diskurse verwandelt zu haben – sehr zum Ärger der alten New-Labour-Riege um Peter Mandelson, die die Würdigung ihres Erbes in Gefahr sieht. Dass Miliband, der seine Partei auf dem Parteitag in Manchester im vergangenen Herbst von New in One Nation Labour umgetauft hat und den bekannten Kommunitarier Michael Sanders dazu einlud, dort ein Grundsatzreferat zu halten, Interesse am „Predistribution“-Konzept des Yale-Professors Jacob Hacker zeigt und lange als Förderer des quirligen Blue-Labour-Vordenkers Maurice Glasman galt, lieferte David Cameron willkommene Anlässe, um seinen Kontrahenten als weltfremden Utopisten und sich selbst als zupackenden Pragmatiker darzustellen. Indes ist gerade die Suche nach sinnstiftenden Narrativen, die (sozialdemokratische, konservative oder liberale) Wertetraditionen jeweils mit überzeugenden Zukunftsvisionen verbinden und an neue Gegebenheiten anpassen, noch immer die beste Antwort auf die „populistische Herausforderung“ (Frank Decker).

Danny Michelsen studiert Politikwissenschaft an der FU Berlin und schreibt gerade seine Masterarbeit über den Demokratiebegriff neofaschistischer Parteien am Beispiel von NPD und BNP.


[1] Zitiert nach: Hayley Dixon, Nigel Farage hails a ‚remarkable’ night for Ukip, in: telegraph.co.uk, 3.5.2013