Brennende Wut

[analysiert]: Jens Gmeiner über den gesellschaftlichen Flächenbrand in den schwedischen Vororten.

Erst brannten Mülltonen, dann Autos, Schulen und Polizeiwachen. Danach flogen Steine auf Feuerwehrmänner und Polizisten. Eine Woche lang drohte Stockholms nordwestlicher Vorort Husby nicht mehr zur Ruhe zu kommen. Was an Pfingsten in Husby begann, breitete sich langsam auf weitere Vororte in der Hauptstadt und später dann auf andere Großstädte aus. Die Wut, die sich in Husby entzündete, hat somit einen weitreichenden Flächenbrand ausgelöst, der weit mehr als Sachschäden verursacht hat. Die schwersten Unruhen seit Jahren in Schweden führen wieder einmal vor Augen, wie angespannt die soziale Lage auch für viele junge Menschen in den Randbezirken der Großstädte im einstigen Vorzeigeland Schweden geworden ist.

Nicht nur in den tristen und randständigen Vororten von London und Paris entladen sich Perspektivlosigkeit und soziale Marginalisierung in Gewalt und zügellose Wut.[1] Auch das ehemals sichere und beschauliche schwedische „Volksheim“, das vielfach für seine egalitäre und inklusive Sozialpolitik gerühmt wurde, ist mit den Brandnächten von Husby wieder mit Negativschlagzeilen in den Fokus der Berichterstattung gerückt. Abseits der glanzvollen königlichen Adelsevents, die nicht nur in Deutschland ein Millionenpublikum vor die Fernseher locken, gibt es eben noch eine andere, vielfach vergessene Wirklichkeit, die sich ca. 15 Kilometer nordwestlich der Stockholmer Innenstadt abspielt.

Rinkeby-Kista heißt diese Wirklichkeit: Ein Stadtteil, zu dem auch Husby gehört. Wer die Plattenbauten von Rinkeby-Kista sieht, fühlt sich eher an den früheren Ostblock erinnert als an den Glanz einer nordeuropäischen Boommetropole, die selbstbewusst mit dem Label „Weltklassestadt“ wirbt. Husby ist baulich ein typisches Beispiel für das in den späten 1960er Jahren aufgelegte „Millionenprogramm“, mit dem die schwedische Regierung neuen Wohnraum außerhalb der Innenstädte schaffen wollte. Funktional und modern sollten die Wohnstädte damals sein, so wie es die führenden schwedischen Sozialingenieure propagierten. Schnell wurden ganze Wohnstädte aus dem Boden gestampft, die von Kritikern schon damals als Betonwüsten ohne Inspiration und ohne lokale Bindung bezeichnet wurden. Allerdings versuchte die Regierung damals gerade mit diesen funktionalistischen Vorstädten und ihrer öffentlichen Verkehrsanbindung ein Gegenmodell zu traditionellen, engläufigen Stadtteilen der Großstädte zu entwerfen, die lange Zeit als Hort der Armut angesehen worden waren.

Doch über die Jahre sind die einstmals als modern gepriesenen Vororte wie Husby oder Rosengård in Malmö und Hammarkullen in Göteborg zu gesellschaftlichen Randgebieten geworden. Die geographische Distanz zu den innerstädtischen Zentren der schwedischen Großstädte macht sich auch sozial, ethnisch und materiell bemerkbar. In Husby haben achtzig Prozent der Bewohner einen Migrationshintergrund, die Arbeitslosigkeit ist doppelt so hoch wie insgesamt in Schweden und das Medianeinkommen weitaus geringer. Die relative Armut ist höher, die Bildungsabschlüsse sind niedriger und der Gesundheitszustand der Bewohner ist schlechter. Die Wahlbeteiligung im Jahr 2010 lag zwanzig Prozentpunkte unter dem Stockholmer Durchschnitt. Für viele ist Husby die Endstation aller Träume, das Ballungszentrum vielfacher Probleme wie Gang- und Drogenkriminalität und alltäglicher Gewalt. Wer es nach oben schafft, zieht weg in ein besseres Viertel. Für viele, die es nicht schaffen, bleibt Husby ein stigmatisierender Stempel, den man nicht einfach wegwischen kann.

Gleichwohl gibt es Gruppen, die gegen die Stigmatisierung der Vororte ankämpfen. „Megafonen“ heißt eine dieser Organisationen, die sich in Stockholm gegründet hat, um für soziale Gerechtigkeit und gegen Polizeigewalt sowie Rassismus einzutreten. Andere Freiwilligenorganisationen sind die „Nachtwanderer“, die abends durch die Vororte patrouillieren, das Gespräch mit Jugendlichen suchen und nach den Brandnächten viel zur Entspannung und zum Ende der Gewalt beigetragen haben. Ohne „Megafonen“ und diese Selbsthilfeorganisationen hätten nicht nur Autos und einzelne Gebäude gebrannt. Husby, das ist auch Engagement und Courage vor Ort unter schwierigen Bedingungen, wo offizielle Behörden bereits resigniert haben. Und Husby ist auch Stockholm, obwohl manche das Problem allein in den Vororten verorten wollen. Nicht die Vororte sind zutiefst gespalten, sondern die Hauptstadt Stockholm.

Binnen weniger Kilometer verlaufen dort soziale Trennlinien, die den Bewohnern der Vororte drastisch vor Augen führen, wo sie in der Gesellschaft stehen: Nämlich am unteren Ende der sozialen Schichtung. „Genauso wichtig wie die Ungleichheit sind die sozialen und psychologischen Konsequenzen, welche die neuen Hierarchien der Wohngegenden schaffen“[2], schreibt der Pädagogikprofessor Ove Sernhede. Damit hat sich in den äußeren, grauen Vororten ein fruchtbarer Nährboden für Gewalt und Krawalle entwickelt. Hinzu kommt, dass sich viele jugendliche Bewohner von der angeblichen Polizeiwillkür schikaniert fühlen. Die Polizei vor Ort wird somit meist nicht als Freund und Helfer wahrgenommen, sondern vielfach als Feind und alltägliches Sinnbild der sozialen Ausgrenzung. Katalysator für die Brandanschläge und Krawalle soll dabei der Tod eines 69-jährigen Rentners in Husby gewesen sein, der von Polizisten angeschossen wurde, als er diese mit einer Machete bedroht haben soll. Die Behörden sprechen von Notwehr, die Bewohner sehen Rassismus und Polizeigewalt als wahren Grund. „Die Polizei klagt die Jugendlichen an. Die Jugendlichen klagen die Polizei an.“[3] Die Fronten sind seit Jahren verhärtet.

Es glühte schon lange unter der Oberfläche in den Vororten. Daher war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ein weiterer Brandbeschleuniger den nächsten Flächenbrand auslösen wurde. Und keineswegs ist der Aufruhr ein neues Phänomen: Schon 2008 gab es schwere Ausschreitungen im Vorort Rosengård, dem berüchtigten Problembezirk in Malmö. Anfang des Jahres 2009 brannten wieder Autos in den Vororten von Malmö und Stockholm, später dann auch in Göteborg und in der Universitätsstadt Uppsala. Allesamt waren es Gegenden wie Husby – geographische und soziale Randlage. Partizipation und Integration ist in diesem Milieu schwierig, in dem fast vierzig Prozent der Jugendlichen weder eine Arbeit noch eine Ausbildung haben.

Die gestiegene Intensität und die überschwappende Dynamik der Krawalle sind deutliche Anzeichen dafür, dass in Schweden eine junge, marginalisierte Generation in den Vororten heranwächst, die sich allein noch durch brennende Wut Gehör bei Medien und Politik verschaffen kann. Allerdings sind die Brandanschläge und Ausschreitungen nicht als kollektiver Akt einer sozialen Bewegung zu sehen. Zerstörungswut und Krawalle in Husby richteten sich gegen die eigene Infrastruktur vor Ort, gegen die eigenen Schulen und die herbeigerufenen Polizisten und Feuerwehrleute. Fassungslos musste eine Lehrerin mit ansehen, wie ihre Schule brannte. Die Zukunftsaussichten und Hoffnungen für viele in Husby gingen dabei sinnbildlich in Flammen auf: Der Vorort hinterlässt „[v]erbrannte Träume“[4] wie Reinhard Wolff seine Reportage in der taz betitelte.

Natürlich muss man die Gewalt und die Brandanschläge verurteilen; aber allein gewalttätige Einzelgruppen für die Ausschreitungen in den Vororten auszumachen, ist dann doch allzu einfach. Die englische Philosophin Nina Power schreibt dazu pointiert in der schwedischen Zeitung Dagens Nyheter: „Wir können nicht die Gewalt regieren lassen, sagt Reinfeldt, aber die Menschen werden davon die ganze Zeit regiert. Warum scheinen wir verwundert darüber, wenn die abgehängten Gruppen beginnen zurückzuschlagen?“[5] Wer nach Husby mit dem moralischen Zeigefinger deutet, sollte daher auch in die Innenstadt Stockholms nach Östermalm und Kungsholmen zeigen, wo der gewachsene Reichtum überall mit Händen zu greifen ist. „Während die Zügel für die obere gesellschaftliche Schicht weiter gelockert wurden, haben sich die Bedingungen für und der Druck auf die am schlechtesten Gestellten erhöht“[6], so Ove Sernhede im Svenska Dagbladet. Und das sind auch in Schweden häufig Randgruppen und Migranten.

Eine aktuelle OECD-Studie bescheinigt dem angeblichen Gleichheitsparadies Schweden, dass die relative Armut von allen untersuchten Ländern seit 1995 am stärksten zugenommen hat. Das Einkommensgefälle wächst dramatisch auch in Schweden, nachdem seit den 1990er Jahren der Wohlfahrtsstaat gestutzt und das Beitragsniveau seit 2006 für Arbeitslose, Kranke und Rentner verringert wurde. Diese soziale Ungleichheit wird dabei nicht nur in Stockholm physisch sichtbar und zur alltäglichen Erfahrung vieler junger Menschen, sondern auch in den Vororten von London und Paris. Für Schweden aber ist es das Ende eines nationalen Mythos. Das Ende vom integrativen und solidarischen „Volksheim“, das in Vororten wie Husby und Rosengård seit Jahren in Flammen steht und sich wie ein Lauffeuer über Schwedens Großstädte legen kann.

Jens Gmeiner arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Zu den Krawallen in Großbritannien vgl.Nachtwey, Oliver: Großbritannien: Riot oder Revolte, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 9/2011, S. 13-16.

[2] Sernhede, Ove: De ökande klyftorna är chockerande, in: Svenska Dagbladet, 23..05.2013, URL: http://www.svd.se/kultur/kulturdebatt/de-okande-klyftorna-ar-chockerande_8199792.svd.

[3] Brevinge, Nina: Recept för ett upplopp, in: Fokus, 24.05.2013.

[4] Wolff, Reinhard: Verbrannte Träume, in: die tageszeitung, 26.05.2013,

URL: http://www.taz.de/!116885/.

[5] Power, Nina: Ilskan i förorten är inte bara svensk, in: Dagens Nyheter, 27.05.2013, URL: http://www.dn.se/kultur-noje/debatt-essa/ilskan-i-fororten-ar-inte-bara-svensk.

[6] Sernhede, Ove: De ökande klyftorna är chockerande, in: Svenska Dagbladet, 23.05.2013, URL: http://www.svd.se/kultur/kulturdebatt/de-okande-klyftorna-ar-chockerande_8199792.svd.