[analysiert]: Franz Walter über Wahlenthaltung und die wachsende Distanz zwischen Bürgern und Staat.
Es sind Wahlen. Und kaum noch jemand geht hin. Diese etwas abgegriffene Sentenz kann man vor allem nach Regional- und Gemeindewahlen häufig hören. So auch jetzt wieder, nachdem am Wochenende bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein nur 46,7 Prozent der Wahlberechtigten ein Votum abgeben haben. In der Landeshauptstadt Kiel gingen gar nur 37 Prozent an die Urnen. Am Tag darauf hört man die üblichen sorgenvollen Stimmen aus der Politik, die aber in der Regel einen weiteren Tag später schon wieder verstummen. Schließlich delegiert man die Verantwortung an andere. Der Landesvorsitzende der Sozialdemokraten in Schleswig-Holstein nennt die Medien, welche durch ihre Negativberichterstattung das System der parlamentarischen Demokratie beschädigten. Der CDU-Landesgeschäftsführer in Kiel mahnt die Schulen, mehr didaktischen Einsatz für das parlamentarisch-demokratische Prozedere zu zeigen.
Insgesamt jedoch macht sich die Republik nicht sonderlich viele Gedanken über das Thema. Schließlich verkünden selbst die Experten der Politischen Wissenschaften in schöner Regelmäßigkeit: „Alles halb so wild“. Niedrige Wahlbeteiligung, so pflegt das Gros der Wahlforscher uns zu erklären, bedeute lediglich eine Anpassung an westliche Demokratiestandards. Der Vergleich mit der Schweiz oder den US-Parlamentswahlen ist in diesen Fällen dann wohlfeil. Gewiss hat es seinen guten Sinn, wenn nicht stets gleich und laut mit der Krisentrompete gedröhnt wird. Indes: Die Johanniskrauttherapie der Telepolitologen erscheint in diesem Fall mindestens ebenso deplaziert. Würde im ganzen deutschen Wahlvolk, soziologisch betrachtet, die Beteiligung am Wahlakt einigermaßen synchron zurückgehen, so müsste man wohl in der Tat nicht panikartig um die Zukunft von Demokratie und ziviler Gesellschaft fürchten. Aber im Rückgang der Wahlbeteiligung drückt sich seit den 1980er Jahren signifikant die soziale Spaltung der Gesellschaft aus, die Kluft zwischen privilegierten und randständigen Schichten, die Ungleichzeitigkeit von Chancen und Integration. Und eben das macht die abstürzende Teilhabe an den Wahlsonntagen doch ein wenig dramatischer.
Mittlerweile hat sich die Wissenschaft von der Wahlenthaltung inzwischen, wie das im akademischen Betrieb so üblich ist, derart weit überdifferenziert, das die Doktoranden und Habilitanden dieses Spezialzweiges bis zu zwei Dutzend verschiedener Typen von „Wahlenthaltern“ entdeckt, zumindest kreiert haben, so dass dadurch der Eindruck entstanden ist, Wahlenthaltung gäbe es im Grunde überall und im gleichen Umfang, oben wie unten, bei Reichen wie Armen, bei Gebildeten wie Ungebildeten. Doch sieht die lokale Topographie von Wahlenthaltung anders, in einer gewissen Weise vor-sozialstaatlich aus. Bei Kommunal- und auch Landtagswahlen in einer mittleren bis größeren deutschen Stadt kann man sich ziemlich sicher sein, dass in den Wohnquartieren der Bürger von überdurchschnittlicher Qualifikation, höherem Einkommen und sozialem Rang die Wählerquote immer noch bei über sechzig oder auch siebzig Prozent liegt, während in Vierteln, in denen Arbeitslosigkeit, schulische Defizite, Geldknappheit und andere Miseren überproportional häufig gebündelt zusammenkommen, die Wähleranteile mittlerweile um die 20-25 Prozent oszillieren.
Insofern nähert sich die deutsche Realität wohl wirklich einigen anderen westlichen Demokratien an, aber als beruhigenden Ausdruck republikanischer Normalität muss man dies keineswegs freudig begrüßen. In der Tat lässt sich am Beispiel der USA schon länger beobachten, wie sich ganze Stadtteile vom demokratischen Wahlvorgang abkoppeln, wie die stille, gleichgültig gelebte Verweigerung sich mit der sozialen Marginalisierung verfestigt und vererbt – und allem Anschein nach auch kaum mehr rückführbar ist. Soziologen sprechen derzeit immer häufiger von einer „negativen Individualisierung“. Individualisierung mag bei Menschen mit hohem sozialen und kulturellen Kapital zu einer Mehrung von Chancen, Aktivitäten, Lebenserfahrungen führen. Individualisierung mündet dagegen bei Personen ohne diese Ausstattung in rasantem Tempo in Isolation, Antriebsschwäche, Resignation, kurz: in Teilnahmslosigkeit. Hier definiert sich soziale Armut nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie materiell, sondern durch den Verlust an Kontakten, den Mangel an Eingebundenheit, neusozialwissenschaftlich ausgedrückt: durch ein Defizit an Netzwerkkompetenz. Hier fehlt es vielfach an Integration, sei es in intakten, zur Subsidiarität fähigen Familien, sei es in funktionierenden, zur Kooperation bereiten Nachbarschaften, sei es in einer lebendigen, aktivierenden Vereinskultur. Desintegration führt zum Aus- und Rückzug, zur Enthaltung bei den öffentlichen Angelegenheiten, zur Unengagiertheit. Man glaubt dann nicht, dass sich Einsatz lohnt; man hofft nicht mehr, dass Parteien und Politik das Schicksal wenden.
Kurzum: Die Wahlenthaltung ist ein Indiz für die Spaltung der Gesellschaft, welche – so der französische Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Éric Maurin – zwischen denen verläuft, die eine gesicherte Zukunft besitzen, und solchen, die von der Wucht der Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt heftig nach unten und an den Rand geschleudert worden sind. In Frankreich etwa, wo die soziale, kulturelle und politische Segregation während der vorangegangenen Jahrzehnte noch weiter fortgeschritten war, wurde diagnostiziert, dass das nicht-wählende Prekariat sich eben nicht mehr als Teil der Gesellschaft fühlte, dass sich dort vielmehr das Gefühl verbreitet hatte, keine eigene und wirksame politische Existenz innerhalb der Nation mehr innezuhaben. Daher schafften sich die zunehmend ghettoisierten Wohnviertel eigene Regeln. Und eine der Normen, die sich dort quartiersbezogen entwickelte, lautete: nicht mehr wählen zu gehen. Bezeichnend war sicher auch, dass gerade in den Stadtteilen, die in unregelmäßigen Abständen durch Jugendkrawalle Aufmerksamkeit erregten, die Partizipation am Wahlakt besonders geringe Quoten aufwies. Man fühlte sich vom dominanten Teil der Gesellschaft verlassen, sah infolgedessen auch keinen Grund, an deren Vereinbarungen und Verständigungsmustern mitzuwirken.
In früheren Jahrzehnten sorgten der Sozialkatholizismus und seine ausgedehnte kollektive Infrastruktur sowie die vorpolitischen Organisationswelt der Arbeiterbewegung dafür, dass auch Ungebildete, Dequalifizierte, Erwerbslose „dazugehörten“, Aufgaben zugewiesen bekamen, dadurch Würde und Selbstbewusstsein bewahren konnten. Dies hielt, gleichsam als positiver Nebeneffekt, auch die Wahlbeteiligung hoch. Doch die Kraft des Sozialkatholizismus ist erloschen, das Organisationspotenzial der früheren Arbeiterbewegung gänzlich verkümmert. Die Folge ist eine immer noch weithin unterschätzte Reduzierung des sozialen Integrationsvermögens von der Mitte der Gesellschaft nach unten, in die Kellergewölbe des Systems. Seit der Erosion von Sozialkatholizismus und Gewerkschaftssolidarismus sind die beruflich freigesetzten Bürger aus elementaren Bindungen und Bettungen herausgefallen, gewissermaßen vom geselligen Kolpings- und Gewerkschaftshaus im isolierten Dauerkonsum vor dem Fernseher gelandet. Natürlich – insofern haben die Künder der Normalisierung recht – wird durch die apathische Randständigkeit des „neuen Unten“ das politische System der Bundesrepublik nicht kollabieren. Im Gegenteil, Apathie stabilisiert herrschende Systeme. Doch die demokratischen Normen, in denen die voraussetzungslose Gleichheit an Rechten, Chancen, Möglichkeiten einen zentralen Rang einnimmt, verschleißen und entwerten sich, wenn sich die Schere von Integration und Desintegration weiter öffnet und dadurch das Gleichheitsversprechen für alle Staatsbürger kompromittiert. Auch das hat unmittelbare Auswirkungen auf Beteiligung, da wir in der ganzen Geschichte des Parlamentarismus einen engen Konnex zwischen der Glaubwürdigkeit von programmatisch-politischen Normen und dem vitalen Interesse der Bürger an aktiver Mitbestimmung feststellen können.
Der Geburtsort von politischen Zielen, Normen, dem programmatischen Sinngehalt insgesamt ist in aller Regel ein großer gesellschaftlicher Konflikt. Nichts treibt Wahlbeteiligung so sehr in die Höhe wie eine scharf geführte, auch die Wahlbürger elektrisierende und umtreibende Auseinandersetzung. Aus diesem Grunde gingen 1972 so viele Menschen zur Bundestagswahl wie weder jemals zuvor noch danach. Die deutsche Gesellschaft stritt aufgewühlt über die Ostpolitik. Die innenpolitischen Reformen polarisierten. Und im Urteil über den früheren Emigranten Willy Brandt entzweite sich hochemotionalisiert das Volk. Leidenschaftlicher ging es künftig nicht mehr zu; aber aus dieser großen Konfliktkonstellation schöpften die Parteien noch für Jahrzehnte Mitglieder, Begriffe, Losungen, Feindbilder und Identitäten. Doch allmählich verblasst die aus der Spannung erzeugte Orientierung.
Das trifft nun besonders auch die junge Generation, auch ihren gut ausgebildeten, politisch keineswegs schlecht informierten, einkommensstarken Teil. Mithin: Wahlenthaltung findet dadurch mittlerweile nicht allein – wenngleich immer noch mit weitem Abstand am meisten – unten statt, sondern zudem als von Fall zu Fall bewusst begründeter Akt auch in den arrivierten Schichten der Gesellschaft. Doch im Grunde sehen die Motive oben wie unten ganz ähnlich aus: Auch der neue Typus des Wahlenthalters traut Politik, der Handlungsfähigkeit des Staates nicht mehr sonderlich viel zu. Ihm fehlt nunmehr ebenfalls die positive Erfahrung von gesellschaftlich breit angelegter Querschnittsintegration. Auch ihm mangelt es an Vertrauen in den Ethos von Parteien und in die Verlässlichkeit öffentlicher Institution. Also fühlt er sich zur Mitwirkung an der res publica nicht verpflichtet.
An den Fähigkeiten der politischen Klasse zweifeln bekanntlich immer mehr Wähler. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass ein großer Teil der Wähler selbst mittlerweile an Kompetenz, Wissen und damit an Kritikfähigkeit erheblich zugelegt hat. Und das begründet eben in der Tat einen höheren Anspruch auf politische Teilhabepolitik. Die Werteforscher unter den Sozialwissenschaftlern hatten in den 1990er Jahren eine Fülle von empirischen Belegen für das prinzipiell hohe Partizipationsniveau in Deutschland vorgelegt. Qualifikationen waren gewachsen, nicht geringer geworden. Zugleich hatte damit die grundsätzliche Bereitschaft, kundig an den öffentlichen Angelegenheiten mitzuwirken, zugenommen. Aber diese Bereitschaft vagabundierte seitdem ziellos durch die Landschaft, da die politischen und staatlichen Institutionen sich dagegen weitgehend sperrten – und Interessenten entmutigten.
In den Parteien selbst hatten sich die Alteingesessenen verriegelt und abgeschottet. Infolgedessen besaß ein Großteil durchaus hochkompetenter, gut qualifizierter und politisch wacher Menschen wenig Chancen, aber auch wenig Lust und Neigung, in die introvertierte Hinterzimmerkultur eines Ortsvereins einzutreten. Und so wuchs nicht nur die Wahlenthaltung, parallel dazu nahm die Zahl der organisierten Parteiaktiven ab.
Insofern sind neue Beteiligungsformen in der Tat angesagt. Anderenfalls werden sich Politik und Gesellschaften noch weiter entkoppeln, werden die Parteien und politische Klasse zu einer musealen Struktur überkommener Organisationsverhältnisse. Den neuen Typus des Bürgers wird man nur durch zeitgemäß veränderte Formen der Mitwirkung gewinnen können, die tatsächlich offener angelegt und initiativ bezogen sein müssen, konkret und ergebnisorientiert angelegt sind, Sinn stiften und Sinn ergeben.
Ansonsten wird es bald heißen: Es gibt Demokratie. Aber kaum noch jemand will dabei in den vorgegebenen Strukturen mitmachen.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.