Kinder in der Politikwissenschaft

[analysiert]: Yvonne Wypchol über den Platz und die Rolle, die Kinder in der deutschen Politikwissenschaft einnehmen.

„Demokratie hat etwas mit Menschen zu tun. Es hört sich ähnlich an wie Demonstration.“ Das ist die Aussage einer 9-Jährigen, die noch einen Satz vorher betont hatte, das Wort Demokratie noch nie gehört zu haben.

Mit der Frage „Was ist Demokratie?“ setzen sich Kinder zumeist implizit und auf ihre ganz eigene Art und Weise auseinander. So eine der Erkenntnisse, die das Göttinger Forschungsprojekt Kinderdemokratie bereits zutage gefördert hat. Kinder entwickeln eigene Interpretationen und ebenso eigene Vorstellungen von Demokratie, Gesellschaft, Politik und Staat. Damit rücken sie zunehmend auch ins politikwissenschaftliche Forschungsinteresse, insbesondere was das  Thema der politischen Sozialisation betrifft. Während in den 1970er Jahren noch erste Forschungsansätze hierzu zu finden sind, gab es in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten kaum derartige Arbeiten. Denn Kinder wurden nicht immer als selbstständig denkende Individuen verstanden, die demokratie- und politikrelevante Themenbereiche wahrnehmen können. Anlässlich des Weltkindertages soll nun die Rolle von Kindern in der Politikwissenschaft näher betrachtet werden.

Dagmar Richter stellte im Jahr 1998 für die deutsche Forschung zu Recht fest, dass bislang „nicht bekannt [sei], wie Alltagswissen der Kinder über Politik […] genauer aussieht. […] Welche Segmente der verschiedenen Politikfelder werden von ihnen erfasst? Welche Konzepte liegen ihren Vorstellungen zugrunde?“[1] In den USA erlangten derartige Fragen bereits ab den 1960er Jahren wissenschaftliche Aufmerksamkeit. So stellten damals beispielsweise David Easton und Jack Dennis[2] fest, dass der US-amerikanische Präsident schon bei sehr kleinen Kindern bekannt ist und er für diese Gruppe Politik als Ganzes repräsentiert – dabei wird der US-amerikanische Präsident fast schon heldenhaft von den jungen Bürgerinnen und Bürgern verehrt, wobei sozial- und milieuspezifische Abstufungen vorzufinden sind. Hier und in weiteren amerikanischen Studien jener Jahre konnte  zum einen gezeigt werden, dass Kinder durchaus Vorstellungen vom Politischen besitzen und dass zum anderen Sozialisationseinflüsse aus dem Bereich der Familie dafür prägend sind. Diese frühen Forschungsergebnisse stießen in den 1970er Jahren auch in Deutschland auf Interesse: Beispielsweise untersuchte Klaus Wasmund im Jahr 1972 Vorstellungen von Kindern der vierten Klasse über Wahlen und Wahlkampf. Sein Ergebnis: Die Sprösslinge neigten zur Personalisierung von Politik – vor allem Willy Brandt wurde von Kindern als ihr „Wissen“ aufgemalt.[3] Diese ersten Ergebnisse zeigten, dass politische Sozialisation nicht erst bei Erwachsenen oder Jugendlichen beginnt, sondern bereits im Kindesalter. Denn auch Kinder erleben Demokratie als Gesellschaftsform und machen sich – wie einleitend gezeigt – darüber ihre Gedanken.

Dennoch kam es in jenen Jahren zu keinem forschungsrelevanten Durchbruch: Lange galten Kinder als schwer untersuchbar und es bestand die Annahme – entgegen erster anders lautender Forschungsergebnisse –, im Leben von Kindern spielten politische Fragen keine Rolle. Offenbar scheute sich die deutsche Politikwissenschaft in den darauffolgenden Jahrzehnten, sich mit dem vermeintlichen „Kinderkram“ (weiter) auseinanderzusetzen. Forschung, so schien der Grundgedanke zu sein, „müsse erst einen Blick auf die Bürger/innen werfen, sobald diese die Pubertät hinter sich gelassen haben und am besten auch noch wahlberechtigt sind.“[4] Insofern standen seit den 1970er Jahren lediglich Jugendliche und junge Erwachsene im Zentrum des politikwissenschaftlichen Forschungsinteresses.

Erst seit Beginn der 1990er Jahre wurden diese Vorannahmen aufgebrochen. Das gesellschaftliche Bild von Kindheit hatte sich gewandelt und Kinder wurden nun mehr und mehr  als Akteure verstanden, die eine eigene Perspektive entwickeln und darstellen können.[5] Schon im Alter zwischen fünf und acht Jahren nehmen Kinder über die Kommunikation der Eltern oder über die Medien politisches Wissen und Themen auf, das haben beispielsweise Meike Vollmar[6] und Simone Abendschön[7] verdeutlicht. Auch Lena Haug[8] hat gezeigt, dass Kinder sich für politische Themen wie Umweltschutz und Armut interessieren. Pionierarbeit wurde zuvor von Jan W. van Deth im Jahr 2000 geleistet, der mit dem Projekt „Demokratie Leben Lernen“[9] die politische Sozialisation junger Kinder erstmals genauer in den Blick nahm. Hier wurde deutlich: Auch (sehr junge) Kinder besitzen ein demokratisches und politisches Verständnis, wobei dieses nicht nur je nach Herkunft, sondern vor allem zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund variiert; und zwischen den Migrationsgruppen ebenso.

Derartige Studien wie auch die Praxiserfahrungen des Göttinger Forschungsprojekts zeigen darüber hinaus, dass besonders jene Konzepte von Kindern nicht immer eindeutig in eine der Wissenschaft gängigen Demokratie- und Politiktheorie zuordenbar sind. Dies liegt insbesondere daran, dass Kinder zu demokratischen und politischen Themen nur ein bestimmtes Teilwissen haben oder ihnen Begriffe und Prozesse (noch) nicht eindeutig bekannt sind; folglich kreieren sie nicht selten ein eigenes mentales Modell, um sich gesellschaftliche Phänomene zu erklären.

Um diese Modelle zu analysieren, sollte die politikwissenschaftliche Forschung mit Kindern weiter ausgebaut werden. Denn dadurch können sowohl die existierenden Vorstellungen und Interpretationsmuster nachvollzogen werden als auch eine Auseinandersetzung mit der einhergehenden politischen Sozialisation erfolgen. Dieser – vermutlich lebenslange – Prozess wird auch von den in der Kindheit entstehenden Vorstellungen über Demokratie und Politik geprägt, sprich: Gerade im Grundschulalter entstehen „grundlegende Muster der Wahrnehmung der Lebenswelt und ihrer Bewältigung.“[10] Insofern sind die in dieser Phase gesammelten Erfahrungen Grundlage zukünftigen Denkens und Handelns. Im Zuge dessen erscheint eine frühe demokratische und politische Bildung sinnvoll und notwendig, die  Forschungsergebnisse der Politikwissenschaft mit einfließen lässt.

Yvonne Wypchol ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Richter, Dagmar: Skizze eines Forschungsansatzes zum politischen Lernen im Sachunterricht der Grundschule, in: Henkenborg, Peter/ Kuhn, Hans-Werner (Hrsg.): Der alltägliche Politikunterricht. Ansätze – Beispiele – Perspektiven qualitativer Unterrichtsforschung zur politischen Bildung in der Grundschule, Opladen 1998, S. 57-70, hier S. 59.

[2] Easton, David/ Dennis, Jack: Children in the political system: origins of political legitimacy. With the assistance of Sylvia Easton, New York (u.a.) 1969.

[3] Vgl. hierzu Überblick bei Dondl, Jakob: Politik-Lernen in der Grundschule: Überlegungen zur politischen Bildung anhand einer Studie zu demokratieorientierten Vorstellungen von Viertklässlern, Bad Heibrunn 2013, S. 20.

[4]              Klatt, Johanna: Von Frustration keine Spur, in: Hensel, Alexander/ Hiemann, Roland/ Kallinich, Daniela/ Lorenz, Robert/ Rahlf, Katharina (Hrsg.): Demokratien am Wendepunkt, Stuttgart 2013, S. 45-55, hier S. 46.

[5] Vgl. Alt, Christian/ Lange, Andreas: Kindheitsforschung heute – ein Perspektivenwechsel, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau, 59 (2009), S. 79-92.

[6] Vgl. Vollmar, Meike: König, Bürgermeister, Bundeskanzler? Politisches Wissen von Grundschülern und die Relevanz familiärer und schulischer Ressourcen, Wiesbaden, 2012.

[7] Vgl. Abendschön, Simone: Zum Politikverständnis von Kindern – Empirische Ergebnisse aus der Studie „Demokratie Leben Lernen“, 2011, online einsehbar unter: http://junge-akademie-wittenberg.de/sites/default/files/downloads/abendschoen.pdf (letzter Zugriff am: 31.05.2013).

[8] Vgl. Haug, Lena: Junge StaatsbürgerInnen? Politik in Zukunftsvorstellungen von Kindern, Wiesbaden 2011.

[9] Die Studie „Demokratie Leben Lernen“ wurde unter der Projektleitung von Jan W. van Deth im Zeitraum 2000-2010 durchgeführt, inhaltliche Angaben online einsehbar unter http://www.mzes.uni-mannheim.de/projekte/pro_zeig_d.php?Recno=31 [letzter Zugriff am 31.05.2013].

[10] Meske, Mara: „Natur ist für mich die Welt.“ Lebensweltlich geprägte Naturbilder von Kindern, Wiesbaden 2011, S. 121.