Partei der kleinen Leute?

Beitrag verfasst von: David Bebnowski

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[kommentiert]: David Bebnowski über die Wählerpotenziale der AfD

In Großbritannien ist es auch passiert. Die Partei der früher gleichsam natürlich linken Wähler, der Arbeiter, der sogenannten „kleinen Leute“, das ist mittlerweile eine rechtspopulistische – die UKIP (United Kingdom Independence Party). Die Politikwissenschaftler Matthew Goodwin und Robert Ford fanden heraus, dass die UKIP die am stärksten von der working-class dominierte Partei seit über dreißig Jahren ist.[1] Nun könnte man annehmen, die Briten auf ihrer Insel, wie immer die Ausnahme. Aber das stimmt eben nicht. Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft ist es nicht anders. Die FPÖ in Österreich, die Freiheit in den Niederlanden und auch der erstarkende Front National Marine Le Pens sind bei einem Blick auf ihre Wähler vor allem eines: Arbeiterparteien. Und in Deutschland?

Seit einigen Wochen kann man angesichts der Demonstrationen von PEGIDA in Dresden zumindest vermuten, dass sich jene sprichwörtlichen „kleinen Leute“ auch in Deutschland leidvoll von den etablierten Parteien abwenden. PEGIDA selbst sei Ausdruck ihrer Orientierungssuche. Der Dresdener Politologe Werner Patzelt beispielsweise vertritt in seinen Beiträgen diesen Standpunkt, beklagte kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, „mit Andersdenkenden sollte man hingegen ins Gespräch kommen – voll guten Willens, höflich und ohne Arroganz. Die steht jenen sogar besonders schlecht, die dem einfachen Volk tatsächlich an Bildung oder Reichtum überlegen sind.“[2]

Nun ist es, nach allem, was man auf empirischer Basis sowohl über die AfD als auch über PEGIDA sagen kann, wohl falsch, anzunehmen, man habe es dort vor allem mit dem bildungsfernen „einfachen Volk“ zu tun. Die AfD jedenfalls, alle Nachwahlbefragungen zeigen es, wird nicht besonders häufig von Arbeitern oder Arbeitslosen gewählt. Ganz im Gegenteil. Die Zielvorgabe, eine kleine Volkspartei der Mitte zu bilden, passt. Die AfD rekrutiert sich aus allen Gruppen der berufsaktiven Mitte der Gesellschaft und wird von den mittleren Schichten dominiert. Ganz ähnlich ist es bei PEGIDA, zumindest wenn man den vielen unterschiedlichen Studien der letzten Wochen, in Kenntnis aller methodischen Einschränkungen, Glauben schenkt.

Grund zur Entwarnung? Mitnichten. Mindestens als Gedankenexperiment sollte man die Fährte, AfD und PEGIDA würden den sprichwörtlichen „Kleinen Mann“ repräsentieren, weiter verfolgen. Was nicht ist, das kann sehr schnell werden – wie Beispiele aus anderen Ländern zeigen, in denen rechtspopulistische Parteien oft aus der Mitte starteten. Dies liegt ohnehin nahe, denn seit ihrer Gründung versucht die AfD bekanntlich, Politik für den „gesunden Menschenverstand“ zu machen.[3] Besonders deutlich artikuliert dies im Zusammenhang mit PEGIDA Alexander Gauland. Rhetorisch versucht er immer wieder, die Prekarisierten und Bildungsferneren in den Demonstrationen zu umgarnen und für die AfD einzusammeln. Dies klingt dann im Zusammenhang mit Kommentaren der Demonstrationsteilnehmer zum Islam folgendermaßen: „Wenn sie sich nicht so ausdrücken können, sind sie nicht gleich islamophob.“ Schließlich gelte das Offensichtliche: Nicht jeder sei ein „Islamwissenschaftler“.[4]

Politisch agiert Gauland erschreckend schlau. Indem er den Fokus auf die Unfähigkeit zur Artikulation richtet, polemisch die Islamwissenschaft als Sparringspartner in den Ring führt, attackiert er eine allzu bekannte gesellschaftliche Spaltung. Es ist der viel beklagte Riss zwischen den sprichwörtlichen Bildungsverlierern und den Bildungsgewinnern, wobei diese Begriffe kaum fallen. Gauland agitiert hier kalkulierend und strategisch gegen einen tief fühlbaren gesellschaftlichen Bruch: Die Elite, die hier unter Anklage steht, das ist die Bildungselite, die das, was öffentlich gesagt wird, zumindest beeinflussen und mitformen kann. Damit, so viel verraten Gespür und jede Einführung in die Diskurstheorie, kommt ihr natürlich auch eine Möglichkeit zur Beeinflussung des Debattenklimas zu.

Dies führt natürlich nicht geradewegs die Chimäre politisch korrekter Normierung herbei – aber es eröffnet diesen Vorwürfen zumindest den Weg. Deshalb ist auch klar, wer als ein bevorzugtes Ziel von PEGIDA und AfD gilt: die Journalisten der „Systemmedien“, die in den Augen der Menge ohnehin nur Lügen verbreiten; die Berufspolitiker der „Blockparteien“, die Fachchinesisch sprechen; die – natürlich – „linken“ Wissenschaftler, wie auch der Autor dieses Artikels einer ist. Und ganz nebenbei, Gauland kämpft auch innerparteilich, Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel.

Wer aber ist dann das Publikum für Gaulands Avancen? Es besteht, aus jenen, die durchs Netz gefallen sind, die am Arbeitsmarkt austauschbar oder ganz „überflüssig“ sind. Für sie bedeuten nicht nur hohe Bildung und Wissenschaft, sondern häufig bereits die Schule Zumutung, Demütigung, Ausgrenzung und Unübersichtlichkeit. Man weiß, dass aufgrund der besonders frühen Selektion im Schulsystem der BRD Menschen mehr und mehr dazu verdammt sind, „ihren“ gesellschaftlichen Platz einzunehmen. Anders als zwischen den späten 1950er und 1970er Jahren gelingt heute zumindest kein massenhafterAufstieg mehr. Im Gegenteil, der Soziologe Oliver Nachtwey prägt derzeit den Begriff der „Abstiegsgesellschaft“.[5] Ein Sozialsystem, das gesellschaftliche Fehlentwicklungen mit persönlicher Verantwortung zu bekämpfen versucht, tut sein Übriges, den Graben zu vertiefen, greift es doch wieder auf die verhassten Bildungs- und Aktivitätsforderungen zurück. Kurz: Dass diese Ansprachen bei den weniger Wohlhabenden, den Unmobilen, jenen, denen das Durcheinander und der haltlose Wettbewerb der Globalisierung nicht Verheißung, sondern Verheerung bedeuten, verfangen könnte, das ist alles andere als eine steile These. Gauland ist ein Stratege, der PEGIDA unabhängig von der tatsächlichen Zusammensetzung der Demonstrationen klug als Türöffner zu der bislang für die AfD noch nicht komplett offenen Arbeiterklasse einsetzt.

Die AfD besitzt in ihrer Mischung aus Neoliberalismus und hartem Konservatismus sogar bereits die passende Ideologie. Über viele Jahre zeigen Studien, dass die Politiker, die im „gesellschaftlichen Unten“ etwas gelten, die „Bruce Willis-Typen der Politik“ sind, wie es Franz Walter vor einiger Zeit besonders anschaulich beschrieb. Nichts wäre deshalb falscher, als den Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen in der AfD weiter aufzubauschen. Beides ergänzt sich in den Grundannahmen gesellschaftlicher Steuerung trefflich und eignet sich gut zur Ansprache der Prekarisierten. Auch dies übrigens kann man aus dem europäischen Ausland lernen. Es kann den „kleinen Leuten“, die die europäischen Rechtspopulisten wählen, eben nicht mehr in erster Linie um eine sozialstaatliche Absicherung gehen. Dann dürfte die Arbeiterklasse die neoliberalen österreichischen, niederländischen, schweizerischen, italienischen und französischen Rechtspopulisten nicht wählen! Erst recht nicht die britische UKIP, die in ihrer wirtschaftlichen Ausrichtung ähnlich „wettbewerbspopulistisch“ agiert wie die AfD. Indes: siehe oben.

Darf man sich darüber wundern, dass die deregulierte Wettbewerbsgesellschaft dort „unten“ verfängt? Ganz sicher nicht. Das Strampeln, die Durchsetzung nicht erst im Beruf, sondern in Auswahlgesprächen zur Ausbildung, der physische Kampf in den Hinter- und Schulhöfen, das Gefühl, nur dann erfolgreich zu sein, wenn man an sich denkt, durchaus auch mit Fäusten und Ellenbogen unfair spielt, dies alles kennen die Prekarisierten aus endlosen biographischen Wiederholungen. Man darf an dieser Stelle daran erinnern, dass das Sein das Bewusstsein prägen soll. „Notwendig falsch“ und „antimodern“ wirkt die Ablehnung der „etablierten Politik“ zumindest nicht. Warum in aller Welt sollte man sich ausgerechnet Linderung von ihr erwarten, die sie doch seit Jahren Zumutungen präsentiert, für den Schlamassel verantwortlich zeichnet? Es ist auch nur wenig überraschend, dass die AfD im neoliberal strukturgewandelten Osten Deutschlandsgroße Wahlerfolge erlangte. Sollte der AfD ein langer Atem beschieden sein, dann jedenfalls liegen hier erhebliche Potenziale.

Und die Linke? Früher, mit etwas mehr Mut zur Moralisierung hätte man vielleicht gesagt, Linke müssten sich doch um diese „kleinen Leute“ kümmern. Inwiefern aber bestimmte linksintellektuelle Kreise wirklich überhaupt noch wünschen, sich diesen Milieus und Realitäten zu nähern, ist durchaus fraglich. Man scheint nicht mehr viel mit der Tatsache anfangen zu können, dass Klassenkämpfe, wie Louis Althusser lehrt, „überdeterminiert“ sind. Dass sich unterschiedliche Konflikte berühren, überlagern – sich dadurch jedoch auch ihre Arenen verändern, sie sich etwa leicht aus dem Ökonomischen ins Kulturelle verlagern.[6] Warum fragt man nur so selten, ob die Verortung als „kleiner Mann“ nicht auch eine wichtige, trotzige und positive politische Identität bereitstellt? Fragt man im Gegenteil mit dekonstruktivistischer Noblesse nicht allzu gerne, ob es sie überhaupt gibt, diese „kleinen Leute“? Ist das nicht ein Popanz oder ein Pappkamerad? Zeigt die Einstellungsforschung nicht, dass die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ seit Jahren steigt, dass rechtsextreme Weltbilder zunehmen? Ja, fraglos – und es bleibt in aller Deutlichkeit zu kritisieren. Nur darf sich die Kritik nicht hierin erschöpfen. Denn so unschön all dies ist: Wer braucht eine Linke, die sich mit diesen Resultaten bescheidet?

Diese Selbstblockade ist wohl auch ein Resultat einer verkürzten, sprunghaften Diskurstheorie, die Menschen mit ihren Äußerungen identifiziert und in ihren Artikulationen festschreibt, ohne zu hinterfragen, wie diese Urteile zustande kommen.[7] Selten nur reicht die Hermeneutik des Verdachts so weit, nachzufragen, ob diese Anschauungen nicht Symptome nicht greifbarer Konflikte und vielleicht doch reversibel sind. Und auch die überaus wichtigen Befunde der Einstellungsforschung führen ins politische Nirgendwo, wenn sie ausschließlich dazu benutzt werden, nachzuweisen, wie rechts die Gesellschaft bereits ist. Eine Linke also, die sich trotz des eigenen Wissens um hegemoniale Auseinandersetzung um „leere Signifikanten“, die sich doch eigentlich im „Stellungskrieg“ um die Veränderungen „kollektiver Willen“ befindlich sieht, um schließlich nicht weniger als „historische Blöcke“ zu formen, scheitert politisch, wendet sie sich naserümpfend von diesen Unappetitlichkeiten ab.[8]

Stattdessen sollte man sich mit dem Philosophiestar Slavoj Zizek daran erinnern, dass „echte“ Linke eine – und nur eine – Sache mit rechten Populisten verbindet: die Erkenntnis, dass unsere Demokratien in der Sackgasse stecken und der Wunsch nach echter politischer Auseinandersetzung weiterlebt. Leider ist es in Deutschland die nationalkonservative und neoliberale Rechte, die dies erkannt, Dinge politisiert, und sich den Namen „Alternative“ gegeben hat.

David Bebnowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Vgl. Die KurzzusammenfassungihrerStudie: Ford, Robert/Goodwin, Matthew: White faces, blue collar, grey hair: The left behind voters only UKIP understands, in: the guardian 05.03.2014, online unter: http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/mar/05/left-behind-voters-only-ukip-understands (Stand 04.02.2015).

[2] Patzelt, Werner: Edel sei der Volkswille, in FAZ 21.01.2015, online unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-verortung-von-pegida-edel-sei-der-volkswille-13381221.html (Stand 04.02.2015).

[3] Bedingung ist, dass politische Entscheidungen entlang des „common sense“ der „commonpeople“ getroffen werden müssten. Vgl. Mudde, Cas: The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 39 (4) 2004: 542–563, hier: S. 560.

[4] Gauland zit. nach: Amann, Melanie/Hujer, Marc: Nur gucken, nicht anfassen, in: Der Spiegel 52/2014 online unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-130967238.html (Stand 04.02.2015).

[5] Nachtwey, Oliver: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2015.

[6] Vgl. Althusser, Louis: Für Marx, Frankfurt a. M. 1968, S. 105 ff..

[7] Vgl. Pfaller, Robert: Zweite Welten, Frankfurt a. M. 2010.

[8] Diese Begriffe Antonio Gramscis und Jacques Lacans bilden das Gerüst der bekannten Diskurstheorie nach Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Vgl. Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemony and Socialist Strategy, London/New York 1985.