[analysiert]: Franz Walter mit einer historischen Erklärung des Pegida-Phänomens.
Wenige Tage vor Weihnachten 2014 erschien die Sächsische Zeitung mit einer großen Reportage zu „Pegida – wie alles begann“. Das Stück war illustriert mit einem Foto des Pegida-Gründers Lutz Bachmann, der darauf zusammen mit seiner Ehefrau und einer befreundeten Stadträtin für eine neue Textilkollektion warb. „Don’t worry, be Freital“ stand auf dem T-Shirt der parteilosen Stadträtin. Das Sweatshirt von Bachmann trug nur die lakonische Aufschrift „Freital“. Denn in Freital wurden die Textilen vertrieben, in einem Friseurladen an der Dresdener Straße des Orts, der unmittelbar an die sächsische Landeshauptstadt grenzt.
In dieser Gegend hat der Populismus rechts der Mitte seit den frühen 1990er Jahren fruchtbaren Boden gefunden. Das Traurige daran ist: Historisch war es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz anders. Nirgendwo sonst war Deutschland seit der Industrialisierung bis zur Zeitenwende 1945/46 in der Bevölkerungsmentalität und im Organisationsverhalten so rot wie hier. Der Raum Freital, der Plauensche Grund, gehörte zu den am stärksten fortgeschrittenen Pionierregionen einer hochdifferenzierten Industrieproduktion. Die Stadt selbst war lange Hochburg der Arbeiterbewegung schlechthin.
Freital war in den Jahren der Weimarer Republik die Stadt sozialdemokratischer Superlative, die einzige Stadt in Sachsen mit einem sozialdemokratischen Oberbürgermeister, mit absoluten Mehrheiten bei Wahlen. Nirgendwo sonst war die Zahl der Mitglieder proportional so groß wie hier, wo über 3000 der insgesamt 36.000 Einwohner das sozialdemokratische Parteibuch besaßen. Und schließlich war das ganze Tal übersät von sozialistischen Arbeiterchören, Naturfreundegruppen, Arbeiter-Turner-Klubs, Arbeiter-Fußballvereinen und anderen linken Freizeitorganisationen.
Freital hatte in den 1920er Jahren überdies den Ehrgeiz, zur Wohlfahrtsinsel im trüben kapitalistischen Gewässer der Weimarer Republik zu werden. Die Stadt zahlte infolgedessen überproportional hohe Wohlfahrtssätze. Sie gerierte sich als Oase für die Verlorenen und Gestrandeten der Gesellschaft, für Arbeitslose, für ledige Mütter, für Kleinrentner – und vor allem für Kranke. Alles im Heil-, Fürsorge- und Wohlfahrtswesen war kommunalisiert und für die Nutzer kostenfrei, von der Wiege bis zur Bahre, von der Geburtshilfe bis zur Totenbestattung, zum Sarg, zum Leichentransport, zur Grabrede. Für alles sorgte die sozialdemokratische Gemeinde. Die Gesundheitspolitik bildete das Herzstück des Freitaler Kommunalsozialismus. Schon unmittelbar nach der Stadtgründung hatten die Lenker im Rathaus eine Gruppe frisch approbierter, links orientierter Ärzte in die Industriestadt des Plauenschen Grundes geholt. Die Freitaler Stadtverwaltung hatte – was sonst in Deutschland nicht üblich war – einen ganzen Stab verbeamteter Ärzte und Hebammen, Fürsorger und Betreuerinnen eingestellt. Das Freitaler Heil-, Fürsorge- und Wohlfahrtswesen war seinerzeit beispiellos.
Außerdem ragte eine ungewöhnlich expansive Wohnungspolitik heraus. An etlichen Stellen der Stadt errichteten die Sozialdemokraten – teils als Genossenschaftler, teils als städtische Bauherren – Siedlungen. Das betrieben sie so massiv, dass man Freital in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre als „Rotes Wien in Sachsen“ etikettierte – in Anspielung an die modellhafte Bautätigkeit der sozialistischen Gemeindespitze in der österreichischen Hauptstadt. Und infolgedessen hatten die Sozialdemokraten in den Siedlungen fortan ihre Hochburgen, hatten hier ihre besonders treuen, loyalen, jederzeit mobilisierbaren Wähler.
Insofern: Der Freitaler Sozialismus verfügte über eine konzeptionelle Idee. Ja, er hatte eine Vorstellung, ein Bild, wenn man so will: eine Vision von der Entwicklung der Stadt. Und diese Zukunftsidee gab Freital in jenen Jahren Zusammenhalt, ein ungewöhnliches Selbst- und Sendungsbewusstsein, deren Höhepunkt wohl im Jahre 1927 lag, als eine Delegation des Genfer Völkerbundes in der Stadt auftauchte, um das Freitaler Modell studieren und bewundern zu können.
Für die Nationalsozialisten war hier in den Weimarer Jahren dadurch so gut wie nichts zu holen. An den Braunen ging das Rote in Freital auch zwischen 1933 und 1945 nicht zugrunde. Kaum waren die Nazis weg, kamen die Sozialdemokraten wieder vollständig zurück. Erneut schlossen sich weit über 3000 Freitaler der SPD an. Und auch bei den für lange Jahrzehnte letzten halbwegs freien Wahlen im Osten, im Herbst 1946, votierten zwei Drittel der Freitaler Wähler für die frisch gegründete SED – es war das Spitzenergebnis für die Einheitssozialisten in Sachsen schlechthin.
Doch mit der SED begann die Tragödie von Freital und der Sozialdemokratie. Am Ende der SED-Herrschaft war von der sozialdemokratischen Tradition, war von der großen munizipalsozialistischen Idee der Stadt buchstäblich nichts mehr übrig geblieben. Selbst die Erinnerungen daran waren zum Ende der 1980er Jahre komplett ausgelöscht. Einen derartig fundamentalen politischen Mentalitätswechsel in der Bevölkerung wie hier kann man in den modernen europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts wohl kein zweites Mal beobachten. Im Tal des Plauenschen Grundes mit dem Freitaler Zentrum hatten sich die meisten der dort lebenden Menschen über mehrere Jahrzehnte, vom Kaiserreich bis zur frühen SBZ, sämtliches Heil vom Sozialismus versprochen. Und als der Sozialismus dann in Gestalt der SED über sie real hereinbrach, reagierten sie bitter enttäuscht. Da gerade in Freital die Erwartungen auf die befreiende und erlösende Kraft des Sozialismus höher gesteckt waren als überall sonst in Deutschland, mussten besonders hier auch die negativen Entwicklungen in den DDR-Jahren eine überproportional tiefe Frustration erzeugen.
Als dann 1989 die DDR verflog, waren alle früheren sozialdemokratischen Einstellungen, Orientierungen, Kulturen aus dem Tal verschwunden. Die Stadt hat mit ihrer sozialdemokratischen Vergangenheit radikal gebrochen. Nicht einmal zehn Prozent der Freitaler mochten 1990 der neuen SPD ihre Stimme geben, keine dreißig Personen traten ihr – für die Jahrzehnte zuvor noch rund 3000 Aktivisten selbstverständlich schienen – bei. Freital hat sich enthistorisiert und von der ursprünglichen Gemeindevision final abgekoppelt. Die Stadt hat mit dem Verlust der Geschichte, seiner Gründungsmission den Integrationskern verloren, welcher die Einwohner einst zur Bürgerschaft zusammenfügte. Und im neuem Vakuum entstand dann Raum für Kleinstadtpopulisten, die in Freital nach 1990 immer wieder periodisch jäh nach oben kamen, kühne Versprechungen machten, dann nach allerlei Pannen und Pleiten oft im Nichts verschwanden. Zurück blieben meist Misstrauen und Misanthropie.
Im Herbst 2007 hatte ein christdemokratischer Oberbürgermeisterpopulist die Stadt schon einmal überregional in die Schlagzeilen gebracht, da er Frauen mit einer Prämie von 2000 Euro in die Kreisstadt locken und sie zur Ansiedlung bewegen wollte. 2014 wurde dann die Öffentlichkeit auch jenseits von Ostsachsen durch Bachmann und Pegida erneut auf Freital aufmerksam. Was für eine Tragödie für diese Stadt, die 1921 von der sozialdemokratischen Kommunalmehrheit erst gegründet wurde und durch den Namen – Freies Tal – die Hoffnung und den Anspruch auf eine Kommune ohne „Ausbeutung und Unterdrückung“ als ihr Programm setzte.
Solange in dieser Stadt stabile sozialmoralische Milieus, eine eigene Idee von sich selbst und Organisationen existierten, die auch in schwierigen wirtschaftlichen Jahren so etwas wie Heimat und Sinn boten, hatte die extreme Rechte keine Chance, hier Fuß zu fassen. Deswegen wurde dieser Teil von Sachsen – im Unterschied etwa zum durchaus proletarischen, aber milieuschwachen Erzgebirge und dem Vogtland – in den frühen 1930er Jahren nicht braun. In dem Moment, als all das zerstört darniederlag, drang die rechte Mobilisierung und das Versprechen auf neue Bindungen und Zugehörigkeiten in die politisch-kulturell entstrukturierte Landschaft ein. Pegida ist Ausfluss und Ausdruck politischer Obdachlosigkeit, kultureller Traditionsschwächen, weltanschaulicher Leere, zivilgesellschaftlicher Bindungsschwächen. Davon mag besonders viel in Ostsachsen anzutreffen sein. Aber die deutsche Gesellschaft westlich davon holt nach.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.