Noch lange nicht der „Goldstandard“

[kommentiert]: Alex Hensel über aktuellle Entwicklungen der wissenschaftlichen Blogosphäre

Zuweilen wird unsere Blogredaktion von Fragen heimgesucht, deren abschließende Beantwortung bislang aussteht. Wohin kann sich unser Blog in Zukunft entwickeln? Welche Funktion erfüllt dieses Medium in der Wissenschaft überhaupt? Oder, etwas drastischer gefragt: Wozu zum Teufel machen wir das hier eigentlich? Vor diesem Hintergrund ist es beruhigend, dass wir mit solch wiederkehrenden Konfusionen offenbar nicht alleine stehen. Von genau diesen Fragen, d.h. der weitgehenden Offenheit der Formen und Funktionen, der Unklarheit von Sinn und Zweck sowie der Gegenwart und ungewissen Zukunft des wissenschaftlichen Bloggens handelte die Tagung „Weblogs in den Geisteswissenschaften. Oder: Vom Entstehen einer neuen Forschungskultur“, veranstaltet vom Deutsche Historischen Institut Paris (DHI) und dem Institut für Kunstgeschichte der LMU.

Anlass für die gut besuchte Veranstaltung in der Bayrischen Akademie der Wissenschaften war die Eröffnung des deutschsprachigen Blogportals de.hypotheses.org. Orientiert am erfolgreichen Konzept des französischen Mutterportals sollen hier geisteswissenschaftliche Blogs unter einem gemeinsamen Dach versammelt werden. Die Betreiber erhoffen sich dabei ein Wachstum und eine stärkere Vernetzung der im deutschsprachigen Raum bislang äußerst übersichtlichen geisteswissenschaftlichen Blogosphäre. Durch deren Konzentration in einem gemeinsamen Portal sollen verschiedene Herausforderungen bewältigt werden: Zuerst geht es um ein gewisses Maß an Qualitätssicherung. Mitmachen dürfen „Akademikerinnen und Akademikern aller geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen“, die sich beim Portal bewerben und von diesem zugelassen werden. Eine wissenschaftlich besetzte Redaktion wählt zudem aus der erhofften Menge von teilnehmenden Blogs besonders herausragende Beiträge aus, um diese auf der Startseite des Portals prominent zu platzieren.

de.hypotheses.org soll außerdem einen Konzentrationsprozess forcieren, der für mehr Übersichtlichkeit in der bislang tatsächlich oftmals konfus anmutenden wissenschaftlichen Blogosphäre sorgen soll. Läuft es wie geplant, suchen kundige User in Zukunft beispielsweise nach einem hochwertigen Blog über Sinologie nicht mehr über einschlägige Suchmaschinen, sondern über die Listen und Suchfunktionen des Portals. Auch sollen durch die Bereitstellung von Technik und Beratung die nach wie vor nicht zu vernachlässigenden Hürden gesenkt werden, einen Blog zu installieren. Der eigentliche Clou dieses Portals besteht jedoch in der dauerhaften Archivierung von Beiträgen und die in Aussicht gestellte Ausstattung der darin geführten Blogs mit ISSN-Nummern. Gerade der letzte Punkt ist natürlich überaus verlockend. Denn bislang gelten Blogs in den Geistes- und Sozialwissenschaften als nicht zitierfähig, aufgewandte Zeit und Mühe tragen – wenn überhaupt – kaum zur Steigerung der wissenschaftlichen Reputation bei.

Nun bleibt es mit Spannung abzuwarten, ob die zur Nutzung von Netzwerkeffekten notwendige kritische Masse von Teilnehmern tatsächlich überschritten wird und sich die bislang abzeichnende Dominanz von geschichtswissenschaftlich orientierten Blogs durch andere Fächer relativiert. Für viele der bereits existierenden Wissenschaftsblogs scheint ein Umzug in das Portal indes nicht besonders reizvoll, da es die Aufgabe der eigenen, oft sorgsam umworbenen Domain erfordert und Probleme für Blogs impliziert, die ins Webdesign von Homepages integriert sind. Ebenso zeichnete sich bereits in den Diskussionen auf der Tagung ab, dass Kompetenz- und Machtausstattung der Redaktion in der jetzigen Form auf kurz oder lang Anlass für Konflikte sein könnten. Trotzdem, und hierin liegt das Verdienst des Portals, gibt das Konzept von hypotheses.org einige schlüssige und hilfreiche Antworten auf bislang ungeklärte Fragen zu den praktischen Herausforderungen des wissenschaftlichen Bloggens.

Wie offen das Wesen und wie ungeklärt die Herausforderungen des wissenschaftlichen Bloggens bislang sind, wurde in fast allen Vorträgen der Tagung deutlich. So steckt gerade die geisteswissenschaftliche Blogosphäre (von der sozialwissenschaftlichen ganz zu schweigen) noch in den Kinderschuhen, wie Cornelius Puschmann von der Humboldt-Universität zu Berlin in seinem aufschlussreichen Vortrag darstellte. Weder erfahren Blogs bislang ein akzeptables Maß an fachöffentlicher Aufmerksamkeit, noch scheint überhaupt klar zu sein, was einen Wissenschaftsblog überhaupt auszeichnet. In seinem Fazit sprach sich Puschmann für eine forschungspolitische Aufwertung, Maßnahmen zur Qualitätssicherung sowie eine Institutionalisierung von Blogs als Mittel der formalen internen Wissenschaftskommunikation aus.

Einen interessanten Erfahrungsbericht über die praktischen Möglichkeiten, Probleme und Potentiale des wissenschaftlichen Bloggens lieferte Melissa Terras vom University College London. Anhand ihres Blogs skizzierte sie die nicht untypische Entwicklung von sehr subjektiv und experimentell orientierten Gehversuchen bis hin zu einer fortgeschrittenen Formalisierung der Blognutzung sowie einer ausdifferenzierten Nutzungsweise im Zusammenspiel mit Sozialen Netzwerk-Seiten. Für einigen Widerspruch sorgte Marc Scheloske, Berater für wissenschaftliche Kommunikation. Anhand seiner Analyse von reichweitenstarken Blogs aus dem naturwissenschaftlichen Bereich arbeitete er eine erkennbare Persönlichkeit, eine hohe Frequenz von Beiträgen und eine ausgeprägte Dialogbereitschaft als zentrale Kriterien für den Aufbau einen erfolgreichen Blog heraus.

Für einen amüsanten und inhaltlichen Höhepunkt der Tagung sorgte Klaus Graf, Mediävist, Archivar und Betreiber des als durch erfolgreich geltenden Blogs Archivalia. Er kritisierte in seinem – mit einem Bullshit-Bingo aufgeheiterten – Vortrag die nach wie vor in Geisteswissenschaften dominante Abwehrhaltung gegen die Nutzung des Web 2.0 und formulierte die These, ein Wissenschaftler, der nicht blogge, sei ein schlechter Wissenschaftler, die er wie folgt begründete:

„ […] Jeder akademisch Lehrende hat seinen Studentinnen und Studenten immer auch Heuristik beizubringen. Dazu gehört im digitalen Zeitalter essentiell der Umgang mit Internetressourcen und das Wissen um die Möglichkeiten des Web 2.0. Wie man das Mitmach-Web hinreichend verstehen und seine Chancen, aber auch Gefahren im universitären Unterricht angemessen darstellen soll, ohne selbst mitzumachen, ist mir ein Rätsel. Ein Schwimmlehrer, der nur auf dem Trockenen lehrt, aber selbst nie im Wasser war, wäre eine absurde Vorstellung.  Ein Professor, der sich von oben herab über die Wikipedia äußert, ohne sich mit ihr genügend auseinandergesetzt zu haben, ist dagegen alles andere als ein Außenseiter. Über soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook oder Mendeley werden zunehmend auch wissenschaftliche Neuigkeiten ausgetauscht.  Wer hier nicht am Ball bleibt, gerät ins Hintertreffen. Natürlich kann man als genialer Meistererzähler mit einem kleinen Handapparat veralteter gedruckter Quellenausgaben und ohne Zuhilfenahme einer Schreibmaschine eine großartige historisch-philosophische Darstellung schaffen – aber wie realistisch ist ein solches Wissenschaftlerbild in unserer Gegenwart? […]”

Die in Grafs Vortrag kritisierte fehlende Offenheit für die Nutzung der Instrumente des Web 2.0 löste im Laufe der Tagung immer wieder Diskussionen aus. So betonte vor allem der Historiker und Blogger Peter Haber, dass in den Geisteswissenschaften nach wie vor die Monografie als „Goldstandard“ des wissenschaftlichen Publizierens gelte und hob das Problem der mangelnden wissenschaftlichen Anerkennung des Bloggens hervor. Spätestens an dieser Stelle der Tagung zeigte sich, wie uneinig sich auch die webaffine Wissenschaftsgemeinde über die „richtige“ Nutzung von Blogs ist. Ob diese in Zukunft weiterhin als Mittel der informellen Wissenschaftskommunikation, als digitales Notizbuch und Kolloquium benutzt werden, oder eher für die formale Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden können, scheint noch lange nicht ausgemacht zu sein; oder vielmehr: muss erprobt werden.

Ausgewählte Links zur Tagung:

Alex Hensel ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zusammen mit Daniela Kallinich betreut er diesen Blog und ist Mitglied der Podcastgruppe des Instituts.