Parteien an der Basis (4): Die SPD
[präsentiert]: Sebastian Kohlmann über den SPD-Ortsverein Nette in Dortmund
Die Stimmung ist nicht überschwänglich. Die Wahlniederlage der Bundestagswahl 2009 noch nicht verdaut. Die Befürchtung einer Abrechnung mit Franz Müntefering oder Frank-Walter Steinmeier liegt in der Luft. Sie bleibt aus. Stattdessen hält der designierte Parteivorsitzende Sigmar Gabriel eine Rede über die Grundzüge der Sozialdemokratie – und was sich ändern muss. Eine bleibende und immer wieder zitierte Aussage lautet: „Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist, dahin, wo es brodelt, dahin, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt.“[1] Nur wenig später ruft Gabriel in Bezug auf die Kommunalpolitiker der Partei einen Satz in den Saal, der weit weniger zitiert wird, schon wieder vergessen, gleichwohl viel interessanter ist: „Wir müssen die Kommunen wieder stärker in die Meinungsbildung der SPD einbeziehen.“[2]
Das war 2009. Konsens könnte man meinen. Auch die Dortmunder SPD im Jahr 2011 – mittlerweile wird die einstige sozialdemokratische Bastion Nordrhein-Westfalen auch wieder von der SPD regiert – hat auf ihrer Homepage stehen: „Der Ortsverein ist die Kernzelle der politischen Organisation der SPD. Wenn von der vielzitierten ‚Basis‘ gesprochen wird, ist damit die politische Arbeit im Ortsverein gemeint.“[3]
Am Bahnhof Nette biegt ein schwarz-gelb lackierter Kleinwagen mit einer schwarz-gelben BVB-Fahne links ab, auf der anderen Seite der Kreuzung ist eine türkische Bäckerei zu sehen, die neben süßen Teilchen unter anderem Döner verkauft. Auch sonst sieht alles sehr nach Arbeiterviertel aus – einem türkisch geprägten Arbeiterviertel, das rund 8000 Einwohner zählt. Nur eine Straße vom Bahnhof entfernt, nur wenige Minuten Fußmarsch dorthin, befindet sich die „Sportklause“, eine kleine, urige Kneipe – dort trifft sich der SPD-Ortsverein Nette im Zweiwochenrhythmus zum gemeinsamen Plausch. Fünf von 120 Mitgliedern sind heute da – manchmal sind es auch acht, erzählt der Vorsitzende des Ortsvereins. „Es geht darum, Flagge zu zeigen“, sagt er und zeigt dabei auf die Flagge der örtlichen SPD, die auf dem runden Tisch steht. Schon bald folgt ein Abriss der vergangenen SPD-Jahre. Irgendwann um 1998 geht er los, bei Schröder und dem Wahlsieg. Der Rücktritt Lafontaines wird angesprochen und schließlich die Agenda-Politik. Da gerät der Ältere unter ihnen in Rage, er schimpft über die schlechte innerparteiliche Kommunikation, über die falsch genutzte Sprache und darüber, dass nicht überzeugt worden sei. „Liebe Leute, es ist schlimm, dass wir nicht jedem von Euch Arbeit geben können, aber deswegen tun wir was für Euch, deswegen gibt es ja Hartz IV.“ So hätte man das machen müssen.
Nein, die Agenda-Jahre sind noch nicht vergessen, aber mittlerweile, so erzählen die Teilnehmer des Stammtisches, werde dazu übergegangen, sie als Teil der sozialdemokratischen Vergangenheit zu sehen – und zu akzeptieren. Dann ist das Hier-und-Jetzt auch schon da. Mit der Bundespolitik sei kein Staat zu machen. Am Wahlkampfstand bekomme man auch heute noch die „Rente mit 67“ um die Ohren gehauen. Die schlimmste Zeit allerdings sei vorbei, als im Zuge der Agenda-Politik die Leute im Ort einen nicht mehr gegrüßt hätten. „Das war bitter gewesen“, erinnert sich einer von ihnen – und wirkt dabei immer noch getroffen. Das sozialdemokratische Jetzt des Ortsvereins Nette heißt vielmehr Hannelore Kraft – ihr Name fällt an diesem Abend häufig. In ihr sehen die Stammtischteilnehmer die Hoffnung, die Sozialdemokratie wieder interessanter zu machen für die Menschen im Land. Kraft und das Kommunale, das seien die Dinge, mit denen man beim Wähler wieder punkten könne, bestätigt der Vorsitzende des Ortsvereins und nippt an seiner Cola – nur zwei trinken Bier an diesem Abend.
Der Ortsverein ist die Kernzelle der politischen Arbeit, heißt es auf der Homepage der Dortmunder SPD. Und tatsächlich: Noch immer sei es die klassische Vereinsarbeit, die im Ortsverein gemacht wird; der katholischen Kirche 20 Euro zu spenden, dem türkischen Verband Unterstützung zuzusagen. „Es geht darum, Präsenz zu zeigen“, sagen sie. Die Kneipiers kennen jeden im Ort. Und es spricht sich rum. Ganz selten kommen sogar Leute aus dem Ort zu ihnen, um politische Themen anzusprechen. Sie sprechen dann etwa über ein Bebauungsvorhaben. Einer beschwerte sich über die drei Feiern der türkischen Gemeinde. Den habe man allerdings „abblitzen“ lassen.
Vierhundert Mitglieder zählte der Ortsverein einmal, in den 1990er Jahren circa 170 und im Zuge der Agenda-Politik habe man nochmal knapp ein Drittel verloren. Rund 120 Mitglieder sind es nun noch, bei freundlicher Rechnung zwanzig aktive unter ihnen. „Immerhin, in den letzten Monaten hatten wir mehr Eintritte als Sterbefälle“, stellt einer fest. Austritte gebe es heute eigentlich keine mehr, die sind während der Agenda gegangen. Da ist sie wieder, die Agenda-Politik. „Aber einige haben eigentlich nur einen Grund gesucht, auf etwas gewartet, um auszutreten. Das war Alibi.“ Um die Bundespolitik und die Kanzlerkandidatenfrage wird erstaunlicherweise kaum gesprochen. „Nein, um Inhalte muss es gehen, um die Frage, warum jemand, der arbeitet, trotzdem noch beim Sozialamt vorstellig werden muss.“ Der Ältere ist wirklich in Rage, es empört ihn, dass es dort keine Lösung gibt. „Stattdessen wird über Kanzlerkandidaten debattiert.“
Zwei der fünf Sozialdemokraten sind mittlerweile gegangen – auch die anderen schließen sich nun an. Es ist Viertel nach zehn. Und es sieht gar nicht so schlecht aus für die SPD, so das Resümee der Stammtischler. Von Euphorie sind sie aber noch weit entfernt. Gabriels Rede von der kommunalen Stärkung, da sind sie sich einig, sei mehr eine Sonntagsrede gewesen als eine große politische Vision. Doch die fünf blicken ohnehin nicht in den Bund, sondern tatsächlich eher in die Landes- und Kommunalpolitik, um dort, wie sie nochmals bekräftigen, „die Fahne hochzuhalten“.
Das „Tal der Tränen“ überwinden, das die Agenda 2010 gebracht hat. Auf der Suche nach einer neuen Identität, die Hannelore Kraft nun mit einer aus Sicht der Stammtischler sozialdemokratischeren Regierungsform wieder zurückbringt.
Sebastian Kohlmann ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die vorliegende Reportage ist Grundlage des Artikels “Stolze Festungen oder potemkinsche Dörfer? Erkundungen von Hochburgen der deutschen Bundestagsparteien?” von Christian Werwath, erschienen in INDES, Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1/2012.
[1] Vgl. Pressemitteilung des SPD-Parteivorstands Nr. 1190 /09: Rede Sigmar Gabriel auf dem SPD-Bundesparteitag am 14.November 2009 in Dresden.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Homepage der Dortmunder SPD; abrufbar unter: http://www2.spd-dortmund.de/web/guest/ortsvereine [zuletzt eingesehen am 28.09.2011].