Erfolg ohne Stützpfeiler

Parteien an der Basis (3): Die FDP

[präsentiert]: Christian Werwath berichtet vom Sommerfest der FDP Rottweil.

Jenseits der durchgestylten Berliner Führungskräfte findet sich oftmals eine ganz andere FDP. Vielen Mitgliedern ist die Bonner Republik mit Genscher und Brüderle immer noch näher als das moderne Gebaren mit Maßanzug und Lackschuh. Sicht- und Fühlbar ist dies in einer Scheune in einem kleinen Ort im ländlich geprägten Landkreis Rottweil südlich von Stuttgart. Hier haben sich etwa 10 Personen eingefunden, die mit blau-gelben Fahnen, ein paar Bierbankgarnituren, einem Grillbuffet und weißen Tischdecken den Raum eingerichtet und ihm den Flair eines Parteisommerfestes gegeben haben. Die Anwesenden pflegen in Sprache, Aussehen und Lebensstil augenscheinlich ein anderes Verständnis von Politik, als ihre Parteispitze. In der Tat können sie dem Auftreten der neuen Parteiführung  um Rösler nur wenig abgewinnen – elitär nennen sie es. Aber auch mit Guido Westerwelle hatte man Akzeptanzschwierigkeiten: Er war zu laut, zu schrill, zu engstirnig. Allerdings feierte Westerwelle Erfolge, die auch auf den Rottweiler Kreisverband ausstrahlten. Das half über den ungeliebten Duktus hinwegzusehen. Bei der Bundestagswahl 2009 wurde die FDP in Rottweil mit 21,9 Prozent der Zweitstimmen zur Wählerhochburg der gesamten Bundespartei. Der Kreisverband erzielte das beste Ergebnis seiner Geschichte. Seit etwa 10 bis 15 Jahren hatten die Rottweiler Liberalen kontinuierlich neue Wähler hinzugewonnen. Zur Baden-Württembergischen Landtagswahl 2011 stürzten sie jäh ab. Plötzlich war man wieder dort angekommen, wo der Siegeszug einst begonnen hatte: im Durchschnitt bei etwa fünf bis sieben Prozent der Stimmen, in einigen Orten sogar deutlich darunter.[1]

Der größte Wahlerfolg in der Geschichte der Rottweiler FDP im September des Jahres 2009 war der Kulminationspunkt verschiedener Entwicklungsstränge. Die Rottweiler Liberalen erlebten am 27. September ihren bislang historischen Kairos. Die Rottweiler Wahlergebnisse folgten dabei dem bundesweiten Trend und überholten ihn schließlich deutlich. In den vergangen zehn Jahren sammelten die Liberalen im Bundesgebiet sukzessive das unzufriedene Wirtschaftsbürgertum durch eine aggressive Steuer- und Sozialpolitik ein. Die Partei um Guido Westerwelle galt nach über zehn Jahren in der Opposition als standhafte bürgerliche Alternative zum vermeintlich versozialdemokratisierten Zick-Zack-Kurs der Union. Über eine Million Unionswähler machten am Wahltag aufgrund der Versprechen von Westerwelle ihr Kreuz bei der FDP.[2]

Doch der fortwährende Erfolg der Rottweiler Freidemokraten in den zwölf Jahren vor der Bundestagswahl ist nicht einzig in der oppositionellen Strategie ihres ehemaligen Parteivorsitzenden zu suchen. So ähneln sich deren gesellschaftspolitischen Überzeugungen mit der im Wahlkreis konservativ und katholisch geprägten CDU. Klassische Werte wie die Familie, die Ehe zwischen Mann und Frau, Achtung und Wertschätzung von Religion, der Heimat und der Nachbarschaft bilden den Bezugsort der gesellschaftspolitischen Argumentationen. Hierin lag in den zurückliegenden Jahren das Pfund der Rottweiler Liberalen. Der Zustrom von christdemokratischen Wählern verdankten sie nicht zuletzt ihrer kirchlichen Orientierung und ihrer Heimatliebe. Als Spitzenkandidat hatten sie zudem einen regional bekannten Pfarrer aufgeboten, der – im Gegensatz zu seinem vielbeschäftigten Wahlkreiskontrahenten und Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder – fast jederzeit als Ansprechpartner präsent war. Die Rottweiler Liberalen repräsentierten Heimatverbundenheit in Verbindung mit Honoratiorentum. Sie marginalisierten auf diese Weise die organisatorische Vorherrschaft der Christdemokratie.

Darüber hinaus war es in den Jahren der Oppositionszugehörigkeit in erster Linie die stark gestiegene öffentliche Aufmerksamkeit, die der FDP – nicht nur in Rottweil – zu Gute kam. Die gut besuchten Parteiveranstaltungen im Kreisverband, der umlagerte Canvassing-Stand auf den Marktplätzen und vor allem das herausgehobene mediale Interesse an Statements und Zitaten der freidemokratischen Spitzenfunktionäre machte es den Liberalen leicht ihre politische Botschaft zu streuen. Der Wähler suchte die FDP auf, nicht umgekehrt. Auch dies verwischte kurzweilig die Konturen der jahrzehntelang streng voneinander getrennten parteipolitischen und gesellschaftlichen Netzwerke. Der klassische christdemokratische Wähler kam zu der Überzeugung, dass die Rottweiler Freidemokraten vielleicht doch nicht ganz so liberal, nicht ganz so protestantisch und nicht ganz so unsozial und individuell waren, wie es die Rottweiler Christdemokratie kontinuierlich lancierte.

Doch all diese sozialkulturellen Überschneidungen zwischen CDU und FDP die die christdemokratische Anhängerschaft zur Wahl der FDP in Rottweil neben den Steuersenkungsversprechen überzeugt haben mögen, verflogen schnell. Denn bereits zu Beginn des Jahres 2010 wendete sich die positive Grundstimmung: Empörte Wähler machten beim Einkauf oder einfach mitten auf der Straße ihrem Unmut gegenüber den ihnen bekannten liberalen Funktionären Luft und forderten die Einhaltung der Steuersenkungsversprechen. Plötzlich passten die Liberalen wieder in das traditionelle Bild. Sie waren wieder die ewig rückgratlosen und unsozialen Klientelpolitiker, die für einen enthemmten gesellschaftlichen Individualismus und ungebremsten Zukunftsoptimismus warben. Die gute Laune, die noch ein Jahr zuvor, zur Bundestags- und Kommunalwahl im FDP-Kreisverband herrschte, war verschwunden. Denn mit der heftigen privaten, durch nachbarschaftliche Netzwerke, und öffentlichen, durch mediale Kommunikationskanäle, erfolgenden Kritik, ging nicht nur ein Absturz in der Wählergunst einher sondern auch ein gradueller Vertrauens- und Anerkennungsverlust im persönlichen Umfeld. Mit schwindender virtueller und gesellschaftlicher Stärke sank dann auch das mediale Interesse an den Liberalen. Die innerparteiliche Lethargie und der Verlust der medialen Ressource waren fatal für den mit 83 Mitgliedern schwachen Kreisverband der FDP.

Etwas neidisch, so schien es, schaute man daher ins traditionell liberal geprägte Remstal. In der Region des ersten freidemokratischen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg ist die FDP tief verwurzelt und die Wahlergebnisse hielten sich trotz der Krise wacker. Nach der medialen und elektoralen Hausse wurde man sich in Rottweil anhand der regional nahegelegenen Vergleichsmöglichkeit wieder schmerzlich bewusst, woran es der FDP in Rottweil und auch im Bundesgebiet insgesamt mangelt. Der FDP fehlte es an einer, der gewachsenen Wählerzahl ebenbürtigen und damit schlagkräftigen Organisation, die mit öffentlichen Veranstaltungen, Plakaten oder mit Einfluss in kommunalen Institutionen der grassierenden Verärgerung etwas entgegensetzen konnte. Zwar sind viele Rottweiler Parteimitglieder ehrenamtlich engagiert, aber um den Unmut aufzufangen, gar zu kanalisieren oder abzumildern, dazu war man nicht in der Lage. Ohne die bislang gewohnte mediale Unterstützung eroberten die weit vernetzten Christdemokraten in den Vereinen, Betrieben oder Kirchen verlorenes Terrain zurück. In Rottweil war man auch deshalb bereits zur Landtagswahl 2011 wieder in der Nähe der 5-Prozent-Hürde angekommen.

Doch deutlich schwerwiegender als die schwache gesellschaftliche Vernetzung wird die liberale Glaubwürdigkeitskrise sein. Denn im Grunde genommen besitzt man nicht nur in gesellschaftspolitischen Fragen sondern auch in wirtschaftspolitischen Fragen große Schnittmengen mit der Baden-Württembergischen Christdemokratie. Schon immer war man in Rottweil der Auffassung, dass sich die Politik am badischen Wirtschaftsbürger orientieren solle. Denn dieser lebe einen Liberalismus, der mehr als nur Steuerentlastungen für Selbstständige und Unternehmer beinhaltet. Denn das allein nütze nur wenig, wenn nicht auch die Arbeitnehmer bedacht würden. Oder anders, Niedriglöhne helfen nicht weiter. Der Unternehmer sei in der Pflicht Maß zu halten und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Oder anders, Eigentum verpflichtet. Der am sozialen Miteinander interessierte Mensch selbst organisiert das Gemeinwesen. Oder anders, es ist nicht der Staat, der es richten soll. Insgesamt zeigte man sich also strikt ordoliberal und könnte am Marktwirtschaftsmodell der Union andocken. Doch man folgte jahrelang der erfolgreichen, als neoliberal gekennzeichneten, Steuer- und Sozialpolitik von Westerwelle. Die Liberalen brachen im Stammland des sich kümmernden Unternehmertums mit ihrer eigenen Geschichte und liberalen Philosophie.  Daher leidet man nun unter einer Glaubwürdigkeitskrise, die sich nicht nur in der Ablehnung des Wählers gegenüber der FDP-Bundesspitze ausdrückt, sondern auch die kommunale Ebene massiv berührt. Den Freidemokraten könnte auf diese Weise ein weiteres gutes Stück ihrer gesellschaftlichen Verankerung abhandenkommen und die Abhängigkeit von imageprägenden Werbekampagnen sowie dem Interesse von Medien mehr als bisher erhöhen. Die FDP wird auf diese Weise stärker zum Spielball kurzfristiger Stimmungslagen und schwankender politischer Einstellungen.

Der Fall Rottweil ist ein Indiz dafür, wie stark die FDP am Tropf der Medien hängt. Den Freidemokraten fehlt es an einem kräftigen und vitalen organisatorischen Unterbau, der eine Vertrauenskrise abfedern könnte. Durch die fehlende kommunale Verankerung fokussiert sich die inner- und extraparteiliche Aufmerksamkeit auf die Führungsspitze, die, um aufzufallen radikal auftreten oder um zu regieren differenziert und wendig agieren muss. Der Strategie, mit der seit 1998 Wahlen gewonnen wurden und mit der den Liberalen in der Gesellschaft ausreichend Ansehen und Gehör verschafft wurde, wurde offenbar eisern gefolgt. Erstaunlich ist diese Fokussierung auf die Spitze und die parteiinterne Durchdringung der Westerwellschen Monothematik, da die Freidemokraten offenbar keine sehr einseitig sozialkulturell geprägte Partei sind. Es ist durchaus eine vielfältige Partei: von globalem Flair bis zur biederen Bonner Atmosphäre, von neo- bis ordoliberal, von konservativ bis progressiv. Doch ließe sich letztlich der politische und gesellschaftliche Erfolg der FDP als wichtiges Element identifizieren, der die Partei am Leben hält.

Christian Werwath ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die vorliegende Reportage ist Grundlage seines Artikels “Stolze Festungen oder potemkinsche Dörfer? Erkundungen von Hochburgen der deutschen Bundestagsparteien?”, erschienen in INDES, Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 1/2012.


[1] Die Wahlergebnisse der letzten Wahlen sind im Internet abrufbar unter URL: http://www.landtagswahl-bw.de/ und http://www.kommunalwahl-bw.de/index.php?id=1498 [zuletzt eingesehen am 22.08.2011].

[2] Vgl. Nentwig, Teresa/Werwath, Christian: Totgesagte leben länger, in: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hrsg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009, Wiesbaden, 2009, S. 95–125; vgl. Infratest Dimap (Hrsg.): WahlREPORT – Infratest dimap Wahlanalyse zur Bundestagswahl am 27. September 2009, Berlin 2009.