„Wir in NRW“

[analysiert]: Franz Walter über eine mögliche Renaissance der Sozialdemokratie in Nordrhein-Westfalen

Wenn Medien über Höhen und Tiefen der deutschen Sozialdemokraten berichten wollen, dann schicken die Ressortleiter ihre Kameraleute und Reporter in schöner Regelmäßigkeit nach Dortmund und Umgebung. Sie portraitieren dann kleine, aber redliche Leute in den früheren Werksiedlungen, schildern brave, sich aber ihrer Überzeugungen nicht mehr ganz so sichere Genossen, die ihr Leben lang der Partei in Treue verbunden waren, doch gerade im letzten Jahrzehnt auch den Zweifel an der politischen Klugheit ihrer Parteichefs zugelassen haben. Am Beispiel dieser Region – Nordrhein-Westfalen und das Ruhrgebiet insbesondere – versuchen die Deuter des Politischen gern klar zu machen, warum es mittlerweile so schlecht steht mit der SPD. Denn NRW – Pütt – SPD, das alles gehörte einst fest zusammen.

Nordrhein-Westfalen war mit Kohle und Stahl das Pionierland des Industriekapitalismus in Deutschland. Und damit wurde es zum Zentrum der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Deshalb konnte man zwischen Duisburg und Dortmund bei Wahlen selbst einen Besenstiel aufstellen – sofern ihm das Etikett „SPD“ angeheftet war, wurde er trotzdem gewählt. Dann aber verschwanden die Zechen. Dann schrumpfte die Stahlproduktion. Dann und dadurch dörrte auch das Arbeitermilieu aus. Und deshalb schmolzen die einst gewaltigen Mehrheiten der SPD zusammen. Daher plagt sich die Partei auch hier, in ihrem Stammland, mit den Problemen von Wählerverlusten, Machteinbußen, innerem Zweifel.

So jedenfalls wird uns die Geschichte berichtet. Wieder und wieder. Und alle Welt glaubt fest daran. Doch trug es sich in der historischen Wirklichkeit anders zu, fast als Gegenteil zu den gängigen Erzählungen. Die Ruhrstädte wie insgesamt die früheren preußischen Westprovinzen, aus denen die Engländer 1946 das neue Land Nordrhein-Westfalen schnitzten, waren keineswegs Hochburgen der Sozialdemokratie. Das industrielle Ballungszentrum zwischen Rhein, Ruhr und Emscher war für die SPD nahezu Diaspora, Ort lange vergebens unternommener Missionsversuche. Zum Ende des Kaiserreichs lag die Mitgliederdichte der SPD in Essen, Bochum und Gelsenkirchen um die Hälfte niedriger als sonst im Durchschnitt des Deutschen Reichs. Bei den Wahlen in der Weimarer Republik hatte die SPD meist das Nachsehen gegenüber der katholischen Zentrumspartei und den Kommunisten. Das Ruhrgebiet war eine Zitadelle des Katholizismus, auch rhapsodische Kampfstätte ungestümer, junger Linksradikaler. Nicht zuletzt deshalb stand der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, Kurt Schumacher, der Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen denkbar misstrauisch gegenüber. Er argwöhnte, dass das neue Großland den Feinden der SPD in die Hände fallen könnte.

Abstrus war der Pessimismus Schumachers nicht. Bei den ersten Landtagswahlen, am 20. April 1947, war die SPD der CDU deutlich unterlegen. Dabei hatten sich die Christdemokraten damals noch einer starken Zentrumspartei zu erwehren. Doch auch die Kommunisten waren noch nicht aus dem Rennen; sie erhielten immerhin 14 Prozent der abgegebenen Stimmen. Kurz: Die oft deklamierte Gleichung NRW – Ruhrgebiet – Zechen – SPD ging keineswegs auf. Die große Zeit der Zechenlandschaft war eine große Zeit der katholischen Arbeiterkultur, dann auch der CDU. Auf dem Nachkriegshöhepunkt der Kohleproduktion, als fast 400.000 Bergleute einfuhren, schaffte die CDU in Nordrhein-Westfalen 1958 bezeichnenderweise die absolute Mehrheit.

Erst als das große Zechensterben einsetzte, begann der Aufstieg der SPD. Sie litt nicht an der Erosion des Bergbaus, sie profitierte davon. Und sie zog den Nutzen aus dem Verfall der klassischen, vorbundesrepublikanischen Arbeitermilieus im rheinisch-westfälischen Industrierevier. Erst zerbrach das kommunistische Milieu, da der erlebbare Sozialismus im Osten Deutschlands auch noch im Westen denkbar abschreckend wirkte. Dann, in der Krise der Montan- und Kohlenindustrie, büßte die protestantisch und wirtschaftsliberal grundierte Erhard-CDU der Früh-60er-Jahre das Vertrauen im „Pütt“ ein. Der lange fest verwurzelte Sozialkatholizismus trocknete aus.

Der Zerfall der alten hegemonialen Lager und Arbeiterkulturen im Ruhrgebiet wurde zur großen Chance für die SPD. Und sie konnte die Gelegenheit gerade wegen ihrer früheren Schwächen nutzen. Denn die Ruhrgebiets-SPD hatte zuvor keine selbstbewusste, aggressive und abgrenzende Eigenkultur aufbauen können wie ihre Genossen etwa im damaligen Mitteldeutschland. Dadurch aber war die SPD nun um Dortmund und Erkenschwick weit weniger ideologisch, starr, klassenkämpferisch und in Doktrinen gefangen als andernorts. Das erleichterte katholischen Arbeitern, die enttäuscht waren von der Nach-Adenauer-CDU, den Weg zu einer SPD, die nicht bekehren, sondern betreuen wollte.

Denn das war das Elixier des sozialdemokratischen Erfolgs in diesem Industriegebiet der Auflösung, des Ab- und Umbruchs: Die Sozialdemokraten versprachen nicht die neue Gesellschaft, keine rote Zukunft; sie versprachen lediglich, sich verlässlich zu kümmern. Die SPD wurde so zu einer Art Nachfolgepartei des sozialen Katholizismus, Partei der Sorger und Samariter. Der sozialdemokratische Funktionär agierte wie ein Kaplan, war jederzeit ansprechbar, hatte ein Ohr für die Nöte, zeigte Mitgefühl – und spendete Trost. Der sozialdemokratische Funktionär gehörte noch zu den kleinen Leuten, war Betriebsrat im selben Werk, Nachbar in derselben Siedlung, Kaninchenzüchter im selben Verein. Nur, er war stets ein gutes Stück aktiver, ehrgeiziger, strebsamer als der Rest, war auf dem Sprung nach oben. Aber er kümmerte sich, wie ein großer Bruder, genoss daher Vertrauen.

Und der „Bruder Johannes“ – wie man den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen der Jahre 1978 bis 1998, Rau, gern nannte – machte diesen immer leicht paternalistischen, jedenfalls stellvertretenden, gern betont unpolitisch drapierten Stil auch zur Regierungsmethode im Land zwischen Düsseldorf und Detmold. Im „System Rau“ sollten die einfachen Bürger wissen, mehr noch: fühlen, dass die Politik, also die sozialdemokratische Regierung, die sozialdemokratischen Landräte und Oberbürgermeister, sich kümmerten. Zum offiziellen Motto dieses Politikmodells kreierte Johannes Rau 1985 den Slogan „Versöhnen statt spalten“. So kam er bei den Landtagswahlen in diesem Jahr auf  52,1 Prozent. Rau präsentierte sein Land der Barmherzigkeit als Kontrastprogramm zum Helmut-Kohl-Kabinett der „sozialen Kälte“. Natürlich: Das kostete. Die Schulden, die das Bundesland anhäufte, waren infolgedessen enorm.

Wohl auch deshalb war es zum Ende der neunziger Jahre jäh vorbei mit dem politischen Kümmermodell der neuen SPD-Spitze in NRW. Überdies lebten und arbeiteten nunmehr die Kümmerer von gestern nicht mehr dort, wo sie ursprünglich hergekommen waren. Die meisten waren aufgestiegen, hatten lukrative Posten im öffentlichen Dienst ergattert, wohnten längst nicht mehr in der alten Werksiedlung. Plötzlich gab es bei den kleinen und am Ort gebliebenen Leuten niemanden mehr, der ihnen beruhigend Fürsorge zusprach.

Kurzum, niemand sagte jetzt mehr: „Wir machen dat schon“. Statt Johannes Rau stand plötzlich Wolfgang Clement, dann Peer Steinbrück ganz oben. Und ebenso plötzlich wurde mit schneidender Stimme verlangt: Ergreift Initiative, übernehmt Verantwortung, werdet innovativ, verändert euch. Doch das hatten die kleinen Leute von den Sozialdemokraten in den vergangenen drei Jahrzehnten nie gehört und erst recht nie gelernt. Dann kam ihre Partei auch noch an die Bundesregierung, stellte den Kanzler. Und wieder hieß es: Eigenverantwortung, Selbstbeteiligung, private Vorsorge. Das „System Rau“ war das nicht. Und die kleinen Leute, die in diesem System Schutz und Geborgenheit gefunden hatten, verstanden die Welt nicht mehr, wandten sich enttäuscht ab. So brach die SPD 1999 in Nordrhein-Westfalen zuerst in den Kommunen ein. Sechs Jahre später musste sie nach 39 Jahren den Platz an der Spitze wieder für die CDU räumen.

2010 dann das Revival. Zurück zu den Wurzeln. Das wurde zum alles überwölbenden Leitmotiv der Sozialdemokraten in den Wahlkampfmonaten. Die Partei werde sich wieder „neu erden“, versprach seinerzeit Hannelore Kraft wieder und wieder. Die zuvor dezimierte sozialdemokratische Karawane zog es gewissermaßen zurück, in das Jahr 1997, als Nordrhein-Westfalen, ihr Nordrhein-Westfalen, gleichsam der politische Betriebsrat gegenüber der schwarz-gelben Unternehmensführung damals noch in Bonn war. Das „rote NRW“ als Korrektiv und Widerpart zu den bürgerlichen Regierungsparteien der sozialen Kälte – dieses Selbstbild sollte den Sozialdemokraten bei der angestrebten Regeneration helfen.

Ganz ging das Kalkül 2010 nicht auf. Die Sozialdemokraten an Rhein, Ruhr und der Lippe verschlechterten sich  gar noch gegenüber 2005 – als die Partei des Ministerpräsidenten Peer Steinbrück gegen die CDU Jürgen Rüttgers’ʼ mit Aplomb verloren hatte  – um weitere 2,6 Prozentpunkte auf 34,5 Prozent. Die SPD in NRW war damit auf den Stand von 1954 zurückgefallen. Zuwächse verbuchte die SPD in altersstruktureller Perspektive allein bei den über 60-Jährigen, erwerbsanalytisch betrachtet lediglich bei den Rentnern. Bei den Wählern, die im Beruf standen, konstatierten die Forschungsinstitute ein Minus von 3,9 Prozent. In der Altersgruppe der 18- bis 44-Jährigen fiel der Abfluss von Wählern mit über sechs Prozent am deutlichsten aus. Indes: Die Partei von Hannelore Kraft hatte bei den Arbeitern mit einem Plus von ein Prozent zumindest etwas Boden gut gemacht.

 Viel war das nicht. Aber als Ministerpräsidentin hat Frau Kraft diesen Weg der „authentischen“  Ansprache an den kleinen Mann fortgesetzt. So dürfte sie im Mai 2012 besser abschneiden als zwei Jahre zuvor. Viel spricht ebenfalls dafür, dass sie weiter als Regierungschefin amtieren wird. Die SPD wird dies alles dann bundesweit feiern. Gewiss nicht ohne Anlass und Recht. Dabei wird sie im Frühjahr 2012 kaum über den Stand der 1950er Jahre hinauskommen. Doch anders als damals verfügt die SPD jetzt über weit bessere Bündnismöglichkeiten. Dennoch: Sozialdemokratische Regionalhegemonien stehen nicht mehr bevor.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Weitere Analysen zum Thema Sozialdemokratie finden sich hier