[analysiert]: Johannes Sosada über die „siege mentality“ als Erklärung für den Wahlsieg Benjamin Netanjahus.
Der Actionfilmschauspieler Chuck Norris ist vielen aus Filmen wie „Delta Force“ und Serien wie „Walker, Texas Ranger“ ein Begriff. Im Kugelhagel gelingt es dem Actionhelden in bester James-Bond-Manier, die Bösen zu besiegen und für das Gute zu kämpfen. Auch in einem Wahlwerbespot für die israelische Likud-Partei Benjamin Netanjahus ist der Schauspieler zu sehen. Hierin bittet er, für Netanjahu zu stimmen – dieser würde die Sicherheit Israels garantieren und das Land beschützen. Diese Inszenierung bedient ein typisches Klischee und ist auf Netanjahu zugespitzt: Ein permanentes Bedrohungsszenario wie in Israel erfordere Durchsetzungsvermögen, Stärke und Entscheidungsfreudigkeit. Fähigkeiten mithin, die besonders auf ehemalige Militärs zutreffen. Dieses für die israelische Politik typische Phänomen, dass gerade angesehene ehemalige Militärs in wichtige politische Ämter gewählt werden, hat die Parlamentswahl Mitte März einmal mehr bestätigt.
„Sieg der Panik“[1] oder „Ein Sieg der Angst“[2] – so oder ähnlich betitelten deutsche Zeitungen den Wahlausgang der israelischen Parlamentswahl. Wie konnte es Benjamin Netanjahu gelingen, eine Bedrohungskulisse aufzubauen, die letztlich zu seinem Wahlsieg führte? Dem ultrakonservativen Politiker gelang in letzter Sekunde eine fulminante Aufholjagd in einer bereits verloren geglaubten Wahl. Prognosen bis kurz vor dem Urnengang sahen Netanjahu und seinen Likud zunächst deutlich hinter seinem Hauptherausforderer Herzog und dessen Arbeitspartei. Trotz verschiedener Skandale feierte Netanjahu ein Comeback – er wendete das Blatt und ging schließlich verhältnismäßig deutlich mit dreißig Sitzen als Wahlsieger hervor.
Netanjahu lebt von seinem Image als „Beschützer“ des Staates Israels. So war auch der Wahlkampf auf genau dieses Thema zugeschnitten. Netanjahu beschrieb die Gefahr, die von einem nuklear bewaffneten Iran ausgeht; und er inszenierte sich als den Politiker, der dem bedrohten Land zu Sicherheit verhelfen wird. In einem anderen Wahlwerbesports der Likud-Partei tritt Netanjahu als Babysitter auf, der auf Kinder aufpasst – Bilder sagen manchmal mehr als tausend Worte.
Dass ein solcher Wahlkampf Erfolg haben kann, ist der Bedrohungslage in Israel geschuldet und im historischen Kontext des Landes nicht weiter verwunderlich. Das Thema Sicherheit nimmt in der israelischen Politik eine herausragende Rolle ein. Die ohnehin stets bedrohliche Kulisse um Israel hat sich durch den IS-Terror in Syrien, die unübersichtliche Lage in Ägypten (besonders auf der Sinai-Halbinsel), durch den letzten Gaza-Krieg vergangenen Sommer und besonders durch immer neue Zwischenfälle mit den Palästinensern weiter verschärft. Dieses Bedrohungsszenario ist eine Grundlage für den Erfolg Netanjahus. Als ehemaliger Militär und Elitesoldat genießt er große Anerkennung bei der israelischen Bevölkerung. Er selbst wurde bei zahlreichen Einsätzen verwundet. Sein Bruder Jonathan Netanjahu, ebenfalls Elitesoldat, wurde bei der Flugzeugbefreiung von Entebbe 1976 getötet.[3] Netanjahus Herausforderer Herzog – ohnehin oft ob seiner leisen Stimme belächelt – legte seinen Wehrdienst „nur“ bei einer Fernmeldetruppe ab und verblasst vor diesem Hintergrund.
In Israel gab und gibt es einen hohen Anteil ehemaliger Militärs in den wechselnden Regierungen. Die Gründe hierfür sind vielfältig und resultieren zu einem Großteilaus der spezifischen Situation im Staat Israel: Die Armee stellt einen der größten Arbeitgeber im Land dar. Alleine durch die Wehrpflicht ist die große Mehrheit der israelischen Staatsbürger über mehrere Jahre dem Militär angehörig – nicht wenige schlagen daher zunächst auch danach eine militärische Karriere ein. Weiterhin sind Militär und Politik eng miteinander verbunden. Ein nicht geringer Teil der israelischen Politiker rekrutiert sich aus der Armee und steigt nach erfolgreicher militärischer Karriere via Seiteneinstieg in die Politik ein. Unter Premierministerin Golda Meir war dieses Phänomen 1973 besonders stark ausgeprägt. Fünf ehemalige Generäle gehörten dem 21-köpfigen Kabinett an.[4]
Vor diesem Hintergrund ist für die Erklärung eine Überlegung israelischer Forscher aus den 1990er Jahren interessant: Sie beschreiben eine „siege mentality“ in der israelischen Gesellschaft – also eine Art „Belagerungsmentalität“. Ein Großteil der israelischen Juden fühle sich einer ständigen Bedrohungslage ausgesetzt und von der Welt, zumindest zum Großteil, alleingelassen. Natürlich hänge dieses „Gefühl“ von verschiedenen Variablen ab und sei auch bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich stark ausgeprägt. So sei die „siege mentality“ bei militaristisch-religiös eingestellten Juden wesentlich signifikanter als bei säkular-pazifistischen.[5] Geht man von einem relativ hohen Grad an „siege mentality“ innerhalb einiger Teile der israelischen Gesellschaft aus, erscheint es folgerichtig, dass stark wirkende ehemalige hohe Militärs bei Wahlen besondere Chancen haben. Einfach ausgedrückt: Ein erfahrener ehemaliger Militär mit tiefer Stimme und selbstbewusstem Auftreten, der mehrmals angeschossen worden ist, suggeriert Sicherheit.
Wie lange Netanjahu nun Ministerpräsident bleiben wird, ist fraglich. Zwar ist er gerade von Präsident Reuven Rivlin mit der Regierungsbildung beauftragt worden und hat sich auch der Unterstützung des „Königsmachers“ Mosche Kachlon versichert, sodass er eine Regierungskoalition bilden kann – dennoch ist es ungewiss, wie lange diese Koalition halten wird. Regierungen in Israel bestehen meist aus Vielparteienkoalitionen – der einzigen Möglichkeit, im 120-Sitze Parlament eine Mehrheit zu erlangen. Eine solche Regierung entsteht oftmals nur unter großen Schwierigkeiten und zahlreichen Kompromissen. Koalitionsbrüche sind dementsprechend häufig. Auch diesen jüngsten Wahlen ist ein Koalitionsbruch vorausgegangen. Ob die jetzige Koalition stabiler als die letzte wird, muss sich erst noch zeigen. Dies ist auch wohl einer der Gründe, weshalb Präsident Rivlin bis zuletzt auf eine Regierung der nationalen Einheit pochte, in der Likud und Arbeiterpartei ein gemeinsames Kabinett bilden sollten.
Institutionelle Rahmenbedingungen erscheinen damit als plausibelste Gründe für ein mögliches Ende der Ära Netanjahu. Doch sind durchaus auch psychologische bzw. mentale Verschiebungen als Auslöser denkbar. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass eine gefühlte Abschwächung der Bedrohungslage auch mit einer Abnahme der „siege mentality“ verbunden wäre und damit ein Regierungswechsel möglich würde. Doch ob sich die tatsächliche Bedrohungslage sowie die Wahrnehmung derselben in der israelischen Bevölkerung in vier weiteren Jahren unter Netanjahu maßgeblich verändern werden, ist ungewiss. Immerhin: Seine hochkontroversen Aussagen kurz vor der Wahl über einen Palästinenserstaat und über die arabischen Israelis hat Netanjahu mittlerweile zurückgenommen.[6]
Johannes Sosada ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Er erforscht die Karrieren israelischer Politiker.
[1] Abé, Nicola: Kommentar zur Wahl in Israel: Sieg der Panik, in: Spiegel Online, 18.03.2015, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-wahl-netanyahu-schuert-erfolgreich-angst-a-1024097.html [eingesehen am 27.03.2015].
[2] Blieffert, Wolfgang: Kommentar zur Israel – Wahl: Ein Sieg der Angst, in: Hessische Nachrichten, 18.03.2015, URL: http://www.hna.de/politik/kommentar-israel-wahl-sieg-angst-4828802.html [eingesehen am 27.03.2015].
[3] Ginsburg, Mitch: Saving Sergeant Netanjahu, in: The Times of Israel, 25.10.2012, URL: http://www.timesofisrael.com/saving-sergeant-netanyahu/#! [eingesehen am 27.03.2015].
[4] Mahler, Gregory: Politics and Government in Israel. The Maturation of a Modern State. Plymouth 2011, S. 200 ff.
[5] Bar – Tal, Daniel/Antebi, Dikla: Beliefs About Negative Intentions of the World: A Study of the Israeli Siege Mentality, in: Political Psychology, Jg. 13 (1992), H. 4, S. 643 f.
[6] O.V.: Netanjahu bereut anti-arabische Äußerung, in: FAZ Online, 23.03.2015, URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/netanjahu-entschuldigt-sich-fuer-anti-arabische-aeusserung-13502281.html [eingesehen am 27.03.2015].