Neopopulismus in Europa

Beitrag verfasst von: Felix Butzlaff

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[kommentiert]: Felix Butzlaff über die Madrider Konferenz zum Aufstieg neopopulistischer Bewegungen und Parteien

Einige Jahre nach Ausbruch der ökonomischen Krise, welche vor allem die südeuropäischen Staatshaushalte fast zusammenbrechen ließ, entstehen in fast allen europäischen Ländern populistische Bewegungen, welche sich bisweilen in ernst zu nehmende Konkurrenten zu den traditionellen Parteien verwandeln. Der Erfolg von Syriza in Griechenland – in einer Koalition aus einer links- und einer rechtspopulistischen Partei – und der Umfragehöhenflug von Podemos in Spanien, der ein lang eingefahrenes Zweiparteiensystem ins Wanken bringt, stiften jedoch Verwirrung. Schließlich verbinden sich hier Elemente, die man bis dato eher bei rechten politischen Bewegungen verortete, mit Facetten, die man bislang eher linken Parteien zuschrieb. Die Konferenz „Neopopulismo en Europe“, welche die Friedrich-Ebert-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Fundación Pablo Iglesias[1] vergangene Woche in Madrid ausrichtete, ging dieser Entwicklung auf den Grund.

Dabei ging es vor allem um die Ursachen für die derzeitige Öffnung eines populistischen Gelegenheitsfensters in verschiedenen europäischen Parteiensystemen. Wissenschaftler und Stiftungsmitarbeiter aus Spanien, Schweden, den Niederlanden, Deutschland, Italien, Frankreich und Ungarn wurden mit spanischen Abgeordneten der sozialdemokratischen PSOE zusammengebracht, um diese erkenntnisleitende Frage mittels Grundsatzvorträgen und Fallbeispielen zu bearbeiten.

Zentral dabei war die Diskussion über eine Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien, welche die politische Integration über lange Zeit strukturiert haben. So wies etwa René Cuperus von der Wiardi-Beckmann-Stiftung in Amsterdam darauf hin, dass die wahrgenommene Gesellschaftsstrukturierung entlang zwei nicht-traditioneller Linien verlaufe, die mittlerweile so stark gewachsen seien, dass sie auch politisch wirksam würden:

  • Erstens eine Linie, welche diejenigen, die noch eine Hoffnung in sich tragen, mit ihren Fähigkeiten in ihren Gesellschaften ein selbstbestimmtes und wohlhabendes Leben führen zu können, von diejenigen trenne, welche diese Hoffnung bereits aufgegeben haben. Schulabbrecher, Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte haben, dies zeigt sich überdeutlich in vielen Studien, jede Zuversicht aufgeben müssen, mit eigener Anstrengung aus ihrer Abhängigkeit von Sozialleistungen oder solchen Jobs zu entfliehen, die ihnen kaum genug zum Leben bieten, sowohl hinsichtlich materieller Entlohnung als auch emotionaler Anerkennung.
  • Die zweite von Cuperus skizzierte Trenn- oder Konfliktlinie, welche den elektoralen Aufstieg populistischer Bewegungen derzeit charakterisiere, scheide diejenigen, die universalistisch und international von der Globalisierung profitieren, die sich mehrsprachig und multikulturell sicher in globalen Sphären bewegen, von jenen, denen all das nicht zur Verfügung steht und die fürchten, in einer sich zuspitzenden Internationalisierung der europäischen Gesellschaften um ihre Aufstiegshoffnungen und Lebensleistungen betrogen zu werden.

Beide skizzierten Linien korrelieren stark mit dem Niveau und der Art der erreichten Bildung sowie mit der Verteilung von Ressourcen, die im modernen Kapitalismus prämiert werden. Gerade jedoch das Gefühl, dass die stets postulierte „Leistungsgerechtigkeit“ nicht in realiter verwirklicht, sondern zu einem Distinktions- und Kampfbegriff geworden ist, lässt die kulturelle Dimension des Internationalismus heutiger Eliten und ihrer Versprechen schrankenloser Freiheit zur treibenden Hefe dieser neuen Konfliktlinien werden. Populistische Bewegungen scheinen dann besonders stark zu werden, wenn sich beide Trennlinien verbinden, wenn die entstandenen Mittelklassebewegungen die abgehängten sozialen Unterschichten ansprechen können – dann wird auch der Gegner scharf erkennbar als „die da oben“, die „Ausbeuter“ einer ganzen Gesellschaft.

Interessant dabei ist die neue Füllung des Begriffs „Heimat“ in vielen Bewegungen, welche sich in die von Cuperus vorgeschlagenen neuen Konfliktlinien eingliedert. Wenn diese übersetzt werden als Trennlinien zwischen Patrioten und Nicht-Patrioten, weil eben die hyperglobalisierten „Ausbeuter“ weder Loyalitäten noch emotionale Bezüge zur Herkunftsgesellschaft mehr spüren würden, bleiben die ortsgebundenen „Ausgebeuteten“ zurück. Auf diese Weise wird der Begriff der „Heimat“ auch für solche Bewegungen reibungslos nutzbar, welche sich in einer linken politischen Tradition begreifen. Diese Betrachtung eint sowohl Podemos in Spanien, Syriza in Griechenland, das MoVimento 5 Stelle in Italien auf der einen Seite als auch die traditionellen rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Bewegungen in Skandinavien oder Frankreich auf der anderen Seite. PEGIDA und AfD in Deutschland bleiben ebenfalls nicht weit.

Auffällig bleibt allerdings, dass nicht nur die akademische Sphäre, sondern auch die sozialistischen Mandatsträger bei der Tagung mit einer Ankopplung der Gelegenheitsfenster populistischer Bewegungen an die politische Realität enorm schwer tun. Obwohl das Publikum der zweitägigen öffentlichen Konferenz im Madrider Círculo der Bellas Artes vom Höhenflug von Podemos in Spanien spürbar aufgewühlt ist, geben sich die anwesenden Abgeordneten des PSOE im Gespräch eher ratlos-herablassend: Haben nicht die Regionalwahlen in Andalusien wenige Tage zuvor gezeigt, dass PSOE immer noch zur stärksten Kraft werden kann? Obwohl das sozialistische Wahlergebnis in ihrer südspanischen Hochburg das schwächste Abschneiden seit Wiedereinführung der Demokratie bedeutete, obwohl Podemos aus dem Stand zur dritten Kraft geworden war – angeblich kein Grund zur Sorge oder Selbstkritik.

Und auch die akademische politische Theorie in Person von Mariam Martínez-Bascuñán von der Universidad Autónoma Madrid legt elaboriert und detailreich die Konzepte Laclaus und Mouffes zur Diskurstheorie und Hegemonial-Werdung als Kernstücke populistischer Strategien dar, verwendet aber kaum einen Gedanken an die Frage, warum eigentlich bestimmte „Frames“ und „Identitätskonstruktionen“ in bestimmten historischen Momenten überzeugend werden können, in anderen aber wirkungslos verpuffen. Dies allerdings weist den als populistisch beschriebenen Bewegungen eine achselzuckend kommentierte strategische Überlegenheit zu, ohne dass man den Blick auf mögliche Integrationslücken des etablierten politischen Systems richten müsste. Überspitzt ist es eine Art leninistische Kaderanalyse von Politik, in der lediglich beklagt wird, dass derzeit effektivere Kader die unbedarften Wähler verführen. Dass aber eben gerade nicht jede politische Botschaft immer und überall identitätsstiftend wirken kann, wenn sie nur gut genug verpackt wird, wird dabei geflissentlich übersehen.

Überhaupt wies der Historiker Paulo Borioni von der italienischen Fondazione Giacomo Brodolini darauf hin, dass die Rezepte vieler populistischer Bewegungen sich nur wenig von denjenigen klassischer sozialdemokratischer Parteien unterschieden. Und er zitiert gar den Internationalen Währungsfonds in Person von Olivier Blanchard, wenn er auf den Zusammenhang zwischen Wachstum der Volkswirtschaften und Gleichschritt der Lohnentwicklung deutet, den besonders Deutschland aufgebrochen habe – weshalb so langfristig das Gleichgewicht zwischen deutschen Exporten und den Exportmöglichkeiten der südeuropäischen Länder verlorengegangen sei.

Bringt man Krisenentwicklung und Betrachtungen zu den Konfliktlinien zusammen, so wird deutlich: Die Ursachen für gesellschaftliche Desintegration und Spaltung liegen weit vor der aktuellen Wirtschaftskrise – werden aber von dieser verschärft. Und was den Ton der Musik anbelangt: Den Eindruck einer politischen wie akademischen Elite, welche den Welten der sich sozial bedroht Fühlenden entrückt ist, hat auch diese Zusammenkunft nicht ausräumen können.

Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] Hier findet sich eine, so sei angemerkt, durchaus ironische Koinzidenz: Es handelt sich dabei nicht um denjenigen Pablo Iglesias, welcher Podemos vorsteht, sondern um den Gründungsvater der spanischen Sozialisten/Sozialdemokraten.