Mit Schirm, Charme und Melone

[analysiert]: Klaudia Hanisch über den Wahlerfolg der Palikot-Bewegung in Polen

Die Entwicklung der Palikot-Bewegung (Ruch Palikota) zur drittstärksten politischen Partei ist die größte Überraschung der diesjährigen Wahlen in Polen. Zum ersten Mal nach 1989 schaffte eine offen antiklerikale Gruppierung den Einzug ins Parlament. Obwohl der Wahlklub des steinreichen Polit-Dandys Janusz Palikot bei Umfragen noch im Juli zwischen ein bis vier Prozent lavierte, konnte er am 9. Oktober 10,02 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Da der Stimmanteil jedoch bei den Jungwählern bis 25 und den jungen Erwachsenen bis 39 Jahren besonders hoch war, gilt sein Wahlerfolg als ein Generationsphänomen.

Demografisch gesehen ist Polen eine der jüngsten Gesellschaften der Europäischen Union. Zwischen 1977 und 1987 kam es in Polen als einem der wenigen Länder von ähnlichem Entwicklungsstand zu einem zweiten Babyboom der Nachkriegszeit. Fast jeder dritte Wähler ist jünger als 35 Jahre. Daher werden diese Alterskohorten trotz niedriger Wahlbeteiligung von Parteien besonders umworben. Sie sind in der Regel besser ausgebildet als ihre Eltern und in den größeren Städten als Young Professionals mittlerweile zum Leitmilieu aufgestiegen.

Die meisten Parteien versuchten die Jungwähler mit einer sozialpolitischen Agenda zu überzeugen. Immer wieder wurde der Slogan der lost generation aufgegriffen. Die Sozialdemokraten (SLD) und die regierende Bürgerplattform (PO) legten den Schwerpunkt auf die Beschäftigungspolitik  – auf das Problem der prekären Beschäftigungsverhältnisse und die Dominanz der Papiermüll-Verträge, wie man in Polen die Werk- Dienstleistungsverträge nennt. Die Partei Recht und Gerechtigkeit von Kaczyński (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) versprach die miserable Wohnungslage junger Familien zu verbessern.

Doch mit sozialpolitischen Forderungen erreichte man die Jugend nur bedingt. Die Palikot-Bewegung setzte vielmehr auf einen wirtschaftlichen und weltanschaulichen Liberalismus und hatte damit tatsächlich Erfolg. Dass in diesen jüngeren Altersgruppen gerade ein Politiker so stark ist, der sich auf die Fahne geschrieben hat, eine Flat Tax einzuführen, Marihuana zu legalisieren, das Abtreibungsrecht zu liberalisieren und den Einfluss der Kirche auf die Politik zurückzudrängen, erklärt man vor allem mit seiner effizienten Nutzung von sozialen Netzwerken und der voranschreitenden Individualisierung der Gesellschaft.

Wie aus der Ende August veröffentlichte Jugendstudie „Młodzi 2011“ hervorgeht, wurden die Jugendlichen in Ostmitteleuropa vorwiegend im Geiste der Ideologie der Privatisierung[1] sozialisiert. Die polnische Jugend verliert immer stärker den Sinn für soziale Interdependenzen und Fragen der Gerechtigkeit. Menschliche Schicksale werden als individuelle Lebensgeschichten erzählt und das Motto „Do it yourself!“ zur Lebensdevise erklärt. Die Autoren des Berichts wundern sich, dass die Erwartungen an die Politik in Anbetracht der objektiv schwierigen Verhältnisse, in denen die junge Generation lebt, erstaunlich niedrig bleiben. Mehr noch, die Jungen fordern eine Beschränkung der staatlichen Verpflichtungen gegenüber den zahlreichen Sozialhilfeempfängern, die die Unterstützung ihrer Ansicht nach auf zynische Weise ausnutzen würden. Staatliches Handeln tritt für sie immer stärker in den Hintergrund, wird eher als hinderlich in ihrer individuellen Entfaltung empfunden. Die aus der Zeit des kommunistischen Regimes nachwirkende Abneigung gegen die Nomenklatura ging in eine abgrenzende „Ich gegen die“-Mentalität  über.

Die Mitglieder der jungen Generation sind unter historischen einzigartigen Umständen aufgewachsen. Das kommunistische Regime kennen sie zwar oftmals nur noch aus Wikipedia, doch sie waren Zeugen einer „Explosion“ – so wird der fundamentale Wandel ihrer Lebenswelt im Bericht genannt. Sie erlebten die Turbulenzen der Systemtransformation, die temporäre Arbeitslosigkeit von über zwanzig Prozent, den feierlichen Eintritt in die Europäische Union und kurze Zeit später eine Massenemigration nach Großbritannien und Irland – amtlichen Schätzungen zu Folge sind mehr als zwei Millionen Menschen ausgewandert.

Gleichzeitig kam es zu einer Revolution der Informations- und Kommunikationskanäle, was zu einer immensen Beschleunigung aller Lebensbereiche führte. Warschau gehört heute zu den rasantesten Städten der Welt. In vorher nie dagewesener Vielfalt werden Chancen wie Risiken individueller Lebensgestaltung dargeboten, den Menschen aber auch individuelle Entscheidungen, Mut und Pioniergeist abverlangt. Und aus dem Bericht geht auch hervor, dass die Jugendlichen kein gültiges Vorbild mehr haben, an das sie sich mit Sicherheit halten könnten. Der ständige Wandel erreicht ein Tempo und eine Dimension, welche die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der Eltern- und Lehrergeneration überforderte. Sie haben keine Vorstellungen mehr, was die Zukunft für den Nachwuchs bereithalten wird. Die alten Werte, die sie im Elternhaus der Generation „Solidarność“ und aus dem literarischen Kanon der polnischen mittleren Bildung entnommen haben, passen offensichtlich nicht mehr zu ihrer Lebensrealität.[2]

Der Chefstratege der jetzigen Regierung und Kulturwissenschaftler Michał Boni sieht hier auch den Grund für die fehlende Protestbewegung in Ostmitteleuropa und die Abwesenheit von kritischen Diskursen über die Grenzen des Wachstums. Dieser Generation bleibe nichts anderes übrig, als sich mit den herrschenden Verhältnissen zu arrangieren, sich in die Konsumgesellschaft einzugliedern und an das gesamtgesellschaftliche Versprechen „Je mehr ökonomisches Wachstum, desto mehr Glück“ zu glauben. Das politische Identifikationsangebot der etablierten politischen Parteien wirkt zwar überholt. Doch auch die Jugend selbst verfügt über keine Begriffe von einer besseren, erstrebenswerten Gesellschaft. Außerdem sind potentielle Organisatoren und Anführer einer Protestbewegung längst ausgewandert, so z. B. der Analytiker Tomasz Karoń.

Janusz Palikot ist eine Ausnahmeerscheinung in der politischen Klasse in Polen und könnte zum Anführer der beschriebenen Generation der Babyboomer aufsteigen. Vor allem auf die fortschrittsbejahenden, marktorientierten jungen Männer bis 39 hat er eine enorme Anziehungskraft. Da der steinreiche Unternehmer selbst von dem Privatisierungsschub nach der Wende profitierte und mit großem Erfolg Sekt und Wodka vertrieb, gibt er sich als Verfechter eines schlanken Staates und Freund des Unternehmertums.

Schon bevor er eine politische Kariere anstrebte, hatte er mehrere biographische Brüche hinter sich. Der Mathematikbegeisterte Schüler durfte wegen abweichenden politischen Verhaltens an keiner staatlichen Universität studieren, was ihn schließlich zum Philosophie-Studium an die Katholische Universität in Lublin brachte. Zehn Jahre lang beschäftigte er sich mit dieser Disziplin, scheiterte schließlich an seiner Doktorarbeit und wechselte in die Schnapsbranche über. Kurzfristig finanzierte der heutige Vorzeigeantiklerikale mit den so erwirtschafteten Geldern ein streng konservatives und katholisch gefärbtes Blatt Ozon.

Seine Stärke entspringt seinem Draufgängertum, gepaart mit einer reichlichen Portion charmanter Nonchalance. Er liebt die Inszenierung, extravagante Kleidung und das Blitzlichtgewitter, wobei er stets mit rhetorischen Finessen glänzt und sich als Freidenker profiliert. Seine öffentlichen Auftritte erinnern manchmal an die Happenings der sechziger Jahre. Die Taktik ist klar: Über die Medien Aufmerksamkeit zu erzielen und neue Themen ins Zentrum der Diskussion zu bringen. Und in der Tat gelingt es dem Komödianten und Provokateur, die relativ junge polnische Mediengesellschaft zu manipulieren und die Öffentlichkeit auf Trab zu halten. Seit mehreren Jahren schreibt er einen der meistgelesenen politischen Blogs in Polen.

Aus der Außenperspektive kann Janusz Polikot als ein Gewinner der Transformation und des gesellschaftlichen Wandels in Ostmitteleuropa bewertet werden. Man sollte dabei jedoch nicht vergessen, dass die Phänomene in Osteuropa nicht nur als das Resultat eines Nachholens der Entwicklung des Westens zu bewerten sind. Mittlerweile spricht vieles dafür, dass es sich hier eher um zwar später begonnene, dann aber schneller und konsequenter vollzogene Entwicklungen handelt, die auch im Westen zu finden ist.

Klaudia Hanisch ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.


[1] Vgl. Bauman, Zygmunt: Happiness in a society of Individuals, in: Soundings, H. 38/2008, S. 19-28.

[2] Kancelaria Prezesa Rady Ministrów: Młodzi 2011, Warszawa 2011, online einsehbar unter: http://kprm.gov.pl/Mlodzi_2011_alfa.pdf [eingesehen am 10.10.2011].