[analysiert]: Franz Walter über die sozialistische Lehre der „Sozialhygiene“
Ab 1908 hatte auch der proletarische Sozialismus in Deutschland eine eigene Assoziation von organisierten Naturheilanhängern und aktiven Lebensreformern mit Zentren insbesondere in den Industrierevieren Sachsens und Thüringens. Deren Absichtserklärung lautete: Den Arbeitern ihren unbesehenen Glauben an die Schulmedizin auszutreiben und sie stattdessen zu einer naturheilkundlichen Selbstaktivität zu bewegen. Der Zusammenschluss trug den Namen „Verband der Vereine für Volksgesundheit“. Nun war dessen Motivlage weder besonders sozialistisch noch genuin proletarisch. Im Gegenteil.
Die Lebensreformbewegungen, die sich das Motto „Licht, Luft und Wasser“ auf das Panier geschrieben hatten, gediehen bekanntlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders üppig im deutschen Bildungsbürgertum. Doch war die Laienmedizin auch in Arbeiterquartieren der frühindustriellen Reviere Ostthüringens und Ostsachsens weit verbreitet und mit der sozialistischen Emanzipationsrhetorik eng verkoppelt. Ganz prosaisch indessen fochten rechte wie linke Anhänger der Naturheilbewegung ihre Kämpfe gegen die Praktiken der akademischen Medizin, gegen chemische Arzneiverfahren, gegen den Impfzwang, auch gegen die stetige Spezialisierung in den zunehmend professionalisierten Gesundheitssektoren aus. In den Heilmethoden, die man der Schulmedizin entgegenstellte, war man durchaus eklektisch: Die einen schworen auf Magnetismus, die anderen auf Kaltwasserbehandlung; weitere befürworteten Hypnosen oder Vegetarismus, die nächsten versprachen Linderung durch Homöopathie oder Kräuterheilmittel.
Das alles verband bürgerliche, mittelschichtige, rurale und proletarische Jünger der Alternativmedizin – wohl bis zum heutigen Tag. Doch unterschied sich der sozialistische „Verband Volksgesundheit“ von den übrigen Naturheilkonventikeln dadurch, dass er – mindestens programmatisch – nicht allein den individuellen Aspekt gesunder Lebensführung im Visier hatte, sondern auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Entstehung und Behandlung zivilisatorischer Krankheiten mitreflektierte. Kurz: Man strebte eine „soziale Hygiene“ an, wie sozialistische Lebensreformer das seinerzeit gern nannten. Eben deshalb hatte man sich in das Organisationsnetz der Arbeiterbewegung eingewoben, trat mit den übrigen Brüder- und Schwesterverbänden für eine Verkürzung der Arbeitszeit, für den Bau großzügiger und lichter Wohnungen, für das genossenschaftlich organisierte und insofern erschwingliche Angebot von vitaminreicher (pflanzlicher) Nahrung ein.
Ihre großen Tage erlebten die „Sozialen Hygieniker“ der politischen Linken im Juni 1930 in Dresden. Dorthin hatten sie einen viertägigen, höchst aufwändigen „Gesundheitspolitischen Kongress“ platziert – die spektakulärste öffentliche Kundgebung in der Geschichte der sozialistischen Alternativmedizin überhaupt. Der gesamte Kongress stand unter einem sozialhygienischen Motto. Schon das äußere Umfeld wies darauf hin und symbolisierte dies. Auf Transparenten, welche im Versammlungssaal hingen, konnte man Parolen lesen wie „Gesundheitsfürsorge statt Krankenfürsorge ist die wichtigste Forderung unserer Zeit“; oder auch: „Die wichtigste Vorbedingung der Volksgesundheit ist die Hebung der sozialen Lage der Bevölkerung“.
Zuvor hatte der lebensreformerische Verband durch seine stärker sozialhygienische Ausrichtung ein wenig aus seiner anfänglichen naturheilkundlichen Isolation herausgefunden. Die Kongressleitung konnte Gäste begrüßen, die bis dahin den Kontakt mit den „Kurpfuscher“ hartnäckig gemieden hatten. Vertreter der öffentlichen Gesundheitspflege, der Krankenkassen, der Medizinbehörden und vor allem: der links orientierten Ärzteschaft. Die Ärzte, zumeist in der „Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Ärzte“ bzw. im „Verein sozialistischer Ärzte“ organisiert, stellten das Gros der Redner auf der Tagung; unter den zahlreichen Referenten des Kongresses befand sich kaum noch ein Laienmediziner. Vor dem Hintergrund der seit Mitte der 1920er Jahre in Ärztekreisen entflammten Debatte um die „Krise der Medizin“ plädierten nunmehr auch prominente sozialistische Ärzte für eine Umorientierung der Schulmedizin zugunsten alternativer Heilverfahren.
Im Mittelpunkt der Dresdner Tagung stand eine Kontroverse über Bevölkerungspolitik und Geburtenregelung. Die beiden konträren Positionen dazu vertraten auf der einen Seite der Nestor der Sozialhygiene, der Berliner Professor und frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Alfred Grotjahn, und auf der anderen Seite der Münchner Arzt und Sozialist Julian Marcuse. Grotjahns Haltung zur Geburtenreglung war unter den sozialistischen Heilkundigen und Ärzten in der Weimarer Republik außerordentlich umstritten. Er lehnte die umstandslose Streichung des Paragraphen 218 ab und warnte vor einer allzu großzügigen Anwendung von Präventivmitteln. Schließlich sorgte sich der Berliner Sozialhygieniker – hier gleichsam in der Manier eines frühen Thilo Sarrazins – um den Bestand der kulturtragenden Bevölkerung, der ihm bei einem weiteren Rückgang der Geburten ernsthaft gefährdet schien. Auch dem Sozialismus drohten nach Auffassung Grotjahns von der willkürlichen Beschränkung der Kinderzahl Gefahren; die bewusst klein gehaltene sozialistisch-proletarische Familie gerate dadurch gegenüber der christlichen Familie auf Dauer ins Hintertreffen.
Julian Marcuse, viele Jahre Leiter des Sanatoriums Ebenhausen, trat den Ausführungen Grotjahns in einem Korreferat vehement entgegen. Er erinnerte an die materielle Not und das Wohnungselend der Arbeiterschaft und charakterisierte den Geburtenrückgang in den Arbeiterfamilien als einen „ethisch berechtigten, einen sozial dienlichen, einen aus den ganzen Verhältnissen heraus geborenen Erscheinungskomplex“. Im Übrigen fasste er die Bevölkerungsfrage nicht als quantitatives, sondern als qualitatives Problem – und überwies sie dadurch der Eugenik.
In dieser Präferenz für eugenische Sichtweisen unterschieden sich Marcuse und Grotjahn allerdings kaum; in seinen Schriften hatte sich auch der Berliner Sozialhygieniker als Eugeniker exponiert. Marcuse jedenfalls setzte sich in seinem Dresdner Referat dafür ein, die Bevölkerung qualitativ aufzubessern, sie von kranken und asozialen Elementen zu reinigen. Die Fortpflanzungshygiene verlange, so der Münchner Nervenarzt, „dass wir in den Fällen, wo erbliche Belastungen schwerster Natur vorhanden sind, wo fortlaufende Krankheiten wie Geisteskrankheit, Tuberkulose, Syphilis, Alkoholismus und andere erbmäßig zu beobachten sind, dass wir diese erbeugenetischen Belastungsmomente auszuschalten haben“. Ein weiterer Referent, der Arzt und Ministerialrat in Zwickau, Gustav Emil Boeters, der über „Verhüten unwerten und unglücklichen Lebens“ referierte, zeigte den praktischen Weg zu einer solchen Gesundung der Gesellschaft auf: Die Sterilisation von geistig Minderwertigen, chronisch Kranken und Sexualverbrechern.
Insbesondere Boeters war als eifriger Verfechter der Sterilisierung von „Blinden“, „Taubstummen“ und „Blödsinnigen“ bereits seit den frühen 1920er Jahren bekannt. Auch Frauen, die ein zweites uneheliches Kind geboren hatten, standen auf seiner Sterilisierungsliste. Über Jahre führte er eine regelrechte Kampagne für sein eugenisches Projekt, reichte etliche Eingaben in die Länderparlamente bzw. an den Reichstag, um der „Verpöpelung“ der „deutschen Rasse“ entgegenzuwirken. Boeters selbst trat sechs Monate nach seinem Dresdner Referat vor den linken Lebensreformern der NSDAP bei; doch damit ist die politische Zuordnung seines Tuns nicht schon geklärt und einzig der rechten Seite zugewiesen.
Denn bei seinen Vorstellungen, die er den Gesetzgebungskörperschaften während der zwanziger Jahre unverdrossen unterbreitet hatte, stand ihm stets der Schweizer Sozialdemokrat, Pazifist, Internationalist und Gegner des Alkohols, der Psychiater Auguste Forel, zur Seite. Auch der bekannte Sexualreformer Magnus Hirschfeld, ebenfalls ein Mann des linken Milieus, hatte seine Sympathien für die Aktivitäten und Ideen Boeters bekundet. Der Eugeniker Marcuse, jüdischer Herkunft, starb 1942, im gleichen Jahr im Übrigen wie Boeters, allerdings nicht wie dieser in Berlin, sondern in Theresienstadt als Opfer des ethnischen Vernichtungsfeldzugs der Nationalsozialisten.
Eugenische Pläne waren nicht allein in den Reihen der völkischen Rechten zu finden. Die Eugenik hatte in der Linken eine eigene und spezifische Tradition, welche auch bzw. wohl vor allem in der Konsequenz der Moderne und des Fortschrittsdenkens lag, deshalb zu rationalistisch-planerischen Anmaßungen und Menschheitsoptimierungsutopien führte, die hernach bekanntlich – nicht nur in diesem Bereich –ganz andere Resultate als die ursprünglich beabsichtigten hervorbrachten.
Viele sozialistische Eugeniker waren jüdischer Herkunft. Mehrere von ihnen fielen dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer. Die eugenischen Überlegungen des linken Ärztemilieus waren sicher problematisch, zumindest ambivalent, aber ebenso gewiss ganz anderer Art und Absicht als die Rassenideologien im Nationalsozialismus. Die sozialistischen Eugeniker modellierten am utopischen Homunkulus des allseits gesunden, vervollkommneten „neuen Menschen“ im präventiv und prophylaktisch operierenden Sozialstaat. Das barg zweifellos Tücken. Aber die rassistische Euthanasie schloss das aus.
Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.