Philosoph einer Diktatur der Vernunft

[Göttinger Köpfe]: Franz Walter über Leonard Nelson

Göttingen, Nikolausberger Weg 61. Hier, in einem Haus mit schönen Glasveranden, lebte (später mit einigen seiner Schüler) von 1906 bis 1927 der Professor der Philosophie Leonard Nelson. Geboren wurde er im Sommer 1882 in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes. Der Philosoph Moses Mendelssohn und der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy zählten zu seinen Vorfahren. Im Hause der wohlhabenden jüdischen Eltern Nelsons ging es sehr weltbürgerlich zu; regelmäßige Salonabende waren Usus. Man gehörte zu den emanzipierten Juden Berlins; Sohn Leonard wurde fünf Jahre nach seiner Geburt getauft. Von früh an war er von Krankheiten geplagt. Schon während seiner Schulzeit machte ihm chronische Schlaflosigkeit schwer zu schaffen. Geräusche aller Art peinigten ihn ebenso, wie ihm zyklisches Heufieber im Frühjahr zur Last fiel, schließlich kamen noch Probleme mit dem Herz hinzu. Auf der Schule und in der Nachbarschaft galt er als Sonderling, der sich lieber schweigend abkapselte als fröhlich zu gesellen. Doch aus seinem Leiden und seiner Introvertiertheit holte er sich, so wurde vermutet, den Antrieb zur außergewöhnlichen intellektuellen Arbeit.

Rigorosität wurde zum Elixier der Biographie Nelsons. Sich selbst und allen anderen verlangte er strenge Logik sowie eine strikte Rationalität der Gedanken und Gesprächsführung ab. Wer hierbei nicht mithalten konnte, hatte mit Nelsons ätzender Polemik zu rechnen. So ging auch seine Ehe, die er 1907 schloss, bereits nach drei Jahren in die Brüche, da seine Ehefrau mit der Härte seiner Rationalitätsforderungen nicht zurecht kam. An der Göttinger Universität, der Nelson seit 1903 angehörte, machte er sich mit seiner hochfahrenden Rechthaberei etliche Feinde, mit Ausnahme allerdings der Mathematiker, allen voran David Hilbert und Felix Klein, die von seiner unspekulativen Art der Philosophie beeindruckt waren und ihn in seiner Hochschulkarriere energisch zu fördern versuchten. Leicht war das nicht, weil Nelson auch zu taktischer Mäßigung partout nicht bereit war. So vermochte er erst im dritten Anlauf sein Promotionsverfahren erfolgreich abzuschließen. Und erst mit seiner zweiten Habilitationsschrift reüssierte er in der Fakultät. Eine außerordentliche Professur erlangte er ebenfalls erst nach zähen Kämpfen und vielen Niederlagen im Sommer 1919 – so gehörte Edmund Husserl zu seinen Gegnern, den Nelson seinerseits als mystischen Schwätzer abtat und wegen dessen breiten böhmischen Dialekts nicht ertragen konnte. Auch die Studentenschaft spaltete Nelson. Die einen hassten ihn (und seine Schüler) regelrecht wegen des überzogenen Anspruchs und apodiktischen Auftritts. Die anderen – vom späteren Nobelpreisträger Max Born als „Käuze und Sonderlinge“ in Erinnerung behalten – lagen ihm nahezu zu Füßen, verhielten sich wie gläubige Jünger eines heilsstiftenden Gurus. Die Fachkollegen im Deutschen Reich rümpften dagegen mehrheitlich die Nase, wenn die Rede auf den Göttinger Dozenten kam. Denn Nelson hatte in seinen Hauptwerken, die „Kritik der praktischen Vernunft“ und das „System der philosophischen Rechtslehre und Politik“ ganz auf Belege und Fußnoten verzichtet. Er war sein eigener Meister.

Wie viele Linksintellektuelle der Weimarer Republik hatte auch Leonard Nelson während des Ersten Weltkrieges zur Arbeiterbewegung gefunden. Die Hinwendung zur sozialistischen Arbeiterbewegung geschah allerdings nicht wegen Irritationen an der eigenen Idee oder aus Begeisterung für die neu entdeckte marxistisch-sozialistische Weltanschauung, sondern erfolgte – dies keine Seltenheit bei den jungsozialistischen Akademikern – unter dem Eindruck der Enttäuschung über das Versagen der eigenen Herkunftsgruppe. Die Arbeiterbewegung, besonders die Arbeiterjugendbewegung als ihr noch unverdorbe­ner, formbarer und idealistischer Teil, war somit ein neuer Hoffnungsträger für die Realisierung dessen, wozu sich die Schicht der Gebildeten als unwürdig und unfähig erwiesen hatte. 1917 trat Nelson deshalb der USPD bei und gründete etwa zur gleichen Zeit mit einigen seiner Schüler, zumeist Göttinger Studenten und frühere Mitglieder der „Freideutschen Jugend“, den Internatio­nalen Jugend-Bund (IJB), eine kleine Erziehungs- und Gesinnungsgemeinschaft, von der, wie Nelson hoffte, dereinst eine Erneuerung der sozialistischen Arbeiterbewe­gung ausgehen sollte.

Anders als der klassische Marxismus definierte Nelson den Sozialismus als Verwirk­lichung eines ethischen, aus dem Rechtsideal hergeleiteten Postulats. Das subjektive Vermögen der Erkenntnis objektiven Rechts konnte nach Nelson allerdings nur Resultat eines systematischen Erziehungs- und Ausleseprozesses sein, der sich vor allem im Lager der Jugend zu vollziehen hätte, da die Jugend im Gegen­satz zu der in fatalistischen Ideologien verhangenen älteren Generation noch an das „Recht“ glaubte. Eine Mehrheitsentschei­dung darüber, was als Recht zu gelten hätte, lehnte Nelson entschieden ab, da er das Recht nicht der Verfügung zufälliger oder willkürlicher Mehrheiten, sondern einzig der „Vernunft“ überantworten wollte. Ein Demokrat war Nelson nicht.

Nelsons Wohnhaus im Nikolausberger Weg; Foto: J. Habenbacher

Im Internationalen Jugend-Bund, dessen rund dreihundert Mitglieder nach kurzen Episoden in der USPD und KPD seit 1922 in der SPD organisiert waren, ohne zunächst großes Auffal­len zu erregen, sollten sich die von Nelson entwickelten strengen Prinzipien der Er­ziehung und Führerauslese drastisch abbilden und tagtäglich durchgehal­ten werden. Der IJB begriff sich mithin als die Keimform einer „Partei der Vernunft“, als eine Gesinnungsgemeinschaft, die durch Anspannung und Disziplinierung aller geistigen und moralischen Kräfte in jedem Moment des konkreten Verhaltens den Postulaten der sozialistischen Gesellschaft zu entsprechen versuchte. Schon die Grün­dungsgruppe, der studentische Zirkel in Göttingen, die sich regelmäßig in Nelsons Haus traf, unterlag strikten Bedingungen, denen sich jeder Einzelne unbe­dingt unterzuordnen hatte: absolut pünktliches Erscheinen, regelmäßiger Besuch der Sitzungen, Pflicht zur Abfassung von Protokollen und zu lautem und deutlichem Sprechen. Persönliche oder familiäre Motive für eine einmalige Absenz vom Sitzungs­termin ließ Nelson nicht gelten und schloss den Fernbleibenden sofort aus der Gruppe aus.

Man verglich den IJB zeitgenössisch gerne mit einem jesuitischen Orden, und in gewisser Weise traf dies den Nagel auf den Kopf, zumal Nelson selbst seiner Bewunderung für die „imponierende Organisationskunst“ der Jesuiten Ausdruck gab. Die hierarchische Struktur, ein geheimnisumwittertes Binnensystem von klösterlicher Erziehung, Unterricht und Mission, die harten Prüfungs- und Aufnahmebedingungen und die Ängste vor „weltlich-sündhaften“ Einflüssen, so präsentierte sich für die Außenstehenden auch der IJB. Das „Kloster“ des Internationalen Jugend-Bundes war die „Walkemühle“, ein Landerziehungsheim in der Nähe des kleinen hessischen Städtchens Melsungen. In Lehrgängen, die sich bis zu drei Jahren erstreckten, spielte sich dort ein großer Teil der Führerausbildung ab, die auch Autosuggestionsübungen, Atemübungen, Schweigeübungen, Fastenübungen, Geduldsübungen, Übungen im Gedankenabweisen, zur Spannung der Aufmerksamkeit und Körperübungen umschloss. Die „jesuitische“ Aura und Hermetik verhinderten im Übrigen, dass Bertrand Russel und Karl R. Popper im IJB mitwirkten, was Nelson angestrebt hatte. Poppers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ging gar in ihrem Ursprung auf dessen Auseinandersetzung mit den Nelsonianern zurück. Aber immerhin: Für den Freundesrat des IJB gewann Nelson keinen Geringeren als Albert Einstein.

In seinem Haus mussten seine Schüler „pünktlich auf die Minute“ zu den Mahlzeiten erscheinen. Der bulgarische Student Zeko Torbow, später als Professor Pionier der Kantforschung in seinem Heimatland, war in den frühen 1920er Jahren während seines Studiums in Göttingen unter Nelsons Einfluss geraten und durfte ab 1925 in dessen Haus zusammen mit anderen Schülern wohnen. Der Bulgare tat sich zunächst schwer mit der Pedanterie der Regeln, die in der Wohngemeinschaft herrschten: „Ich konnte nicht verstehen, was so schlimm daran war, wenn man nicht pünktlich auf die Minute zum Essen kam oder wenn man sich ein wenig zu den Versammlungen oder der Kursarbeit verspätete.“ Doch dann begriff er: „Erst nach längerer Zeit (…) begann mir klar zu werden, wie sehr die Pünktlichkeit mit der Achtung und Selbstachtung der Menschen verbunden ist.“ Ihm sei einsichtig geworden, „dass diese so einfache Hausordnung nicht nur der Zweckmäßigkeit halber geschaffen worden war, sondern auch wegen Forderungen rechtlicher und ethischer Natur, die verpflichteten, die Rechte der anderen zu achten“.[1]

Dass Nelson auf Nachlässigkeiten und Aufweichungen derart gereizt, mitunter hysterisch reagierte, konnte auch deshalb nicht verwundern; denn der Internationale Jugend-Bund bedeutete für ihn mehr als eine mögliche Form des politischen Engagements in den Stunden seiner Freizeit. Der IJB war nicht weniger als die Nagelprobe für die Richtigkeit und Praktikabilität seiner Philosophie. Hätten die Mitglieder dort die hohen Anforderungen nicht durchgehalten, dann wäre auch das Ideensystem Nelsons desavouiert worden. Mit dem IJB stand und fiel Nelsons gesam­tes Lebenswerk; bei einem Scheitern des Bundes konnte er sich nicht einfach in sein Studierzimmer zurückziehen. Doch starb Nelson früh, im Jahr 1927. Zu gesellschaftlichem und politisch beträchtlichem Einfluss kamen seine Schüler erst nach 1945 in der Sozialdemokratie, in den Gewerkschaften und im pädagogischen Bereich.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Weitere Beiträge aus der Reihe Göttinger Köpfe finden sich hier.


[1] Torbov, S. 42 f.