[analysiert]: Felix Butzlaff über die politische Kultur Spaniens in der Krise.
Die Entwicklung der politischen Kultur in Spanien unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise ist schon des Öfteren das Thema von Blog- und Zeitschriftenbeiträgen gewesen. Unlängst schrieb etwa die spanische Sozialwissenschaftlerin Laura Fernández de Mosteyrín in der Göttinger Zeitschrift INDES über die spanische Jugend und deren Zukunftsperspektiven. Und in der Tat erscheint Spanien als ein überaus interessantes Beispiel für die Wandlung von Fragen nach Demokratie, Verantwortlichkeit, Zusammenleben und Zukunftsvorstellungen durch die aktuelle Wirtschaftskrise. Dass Gesellschaftsordnungen ins Wanken und unter Druck geraten, wenn die Aufstiegs- und Lebenshoffnungen jüngerer Generationen nicht mehr erfüllt werden können, diese aber viele Jahre darauf hingearbeitet, studiert und auch investiert haben, ist eine Binsenweisheit. Wie genau dies aber passiert, in welche Richtung sich Normen und Ansichten bezüglich der jeweiligen Demokratie entwickeln, ist keineswegs ausgemacht.
Das spanische Soziologie-Institut CIS (Centro de Investigaciones Sociológicas) führt regelmäßig Umfragen durch, in denen die Einstellungen der Spanier hinsichtlich Politik, Parteien, Demokratie, Zusammenleben etc. abgefragt werden. Auf diese Weise lässt sich über die Jahre der Wirtschaftskrise hinweg gut verfolgen, wo und an welcher Stelle sich Verschiebungen ankündigen.
Zunächst einmal zeichnet die iberische Stimmungslage ein trübes, fast depressives Bild: Von über neunzig Prozent der Befragten wird die wirtschaftliche Lage Spaniens als schlecht oder gar sehr schlecht empfunden. Noch mehr haben das Gefühl, dass es innerhalb der letzten zwölf Monate kaum Besserung gegeben hat – und 77 Prozent erwarten auch für das kommende Jahr kein Licht am Horizont der spanischen Ökonomie. Dieser Gemütszustand überträgt sich auf die Wahrnehmung der Politik, die man für die pessimistische Lage in großen Teilen verantwortlich macht: Knapp 93 Prozent der Spanier empfinden die politische Situation als gleich oder schlechter als noch vor einem Jahr und nur knapp zehn Prozent erwarten eine „Besserung“ der politischen Lage für die kommenden Monate.
„Arbeitslosigkeit“, „die wirtschaftlichen Probleme des Landes“, „Korruption und Betrug“ sind die Probleme, die als besonders wichtig wahrgenommen werden, gefolgt von „allen Parteien und Politikern“, der „Miete“ und „Gerechtigkeit“. Auffällig – aber auch einleuchtend – ist, dass die Probleme im Zusammenhang mit der baskischen Terrororganisation ETA sowie alle, die mit dem Bereich Umwelt und Nachhaltigkeit zusammenhängen, seit geraumer Zeit für die Spanier stark an Bedeutung verloren haben. Nach ihren persönlichen Problemen direkt gefragt, verschiebt sich dieses Bild etwas: Immer noch rangiert die „Arbeitslosigkeit“ hier weit vor allen anderen Themen, doch scheinen sich hinter den Schlagworten „Korruption und Betrug“, den „Politikern und Parteien“ sowie die „Gerechtigkeit“ eher allgemein und abstrakt als problematisch empfundene Phänomene zu verstecken, die aber nicht mit dem persönlichen Alltag in Verbindung gebracht werden. Dagegen werden bei den ganz persönlichen Problemen die Mehrwertsteuererhöhung, die „Kürzungen“ sowie ganz allgemein die „persönlichen Sorgen und Nöte“ als wichtige Punkte genannt.
Was die ganz persönliche wirtschaftliche Lage anbelangt, so sehen sich die meisten Spanier nicht akut bedroht: Für immerhin 73 Prozent der Befragten stellt sich die Lage „leidlich“, „gut“ oder „sehr gut“ dar, und nur ein Fünftel erwartet im nächsten Jahr eine Verschlechterung, 15 Prozent eine Verbesserung. Die ganz unzweifelhaft drängende Arbeitslosigkeit – aktuell etwa 27 Prozent –rangiert weiterhin ganz oben auf der Skala der wichtigsten Probleme, und gut zwanzig Prozent der Spanier halten es auch für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass sie in den nächsten zwölf Monaten ihre Arbeit verlieren. Dass dies eine wichtige Wurzel für eine grassierende Unzufriedenheit ist, zeigt sich andersherum auch in der Tatsache, dass lediglich ein Viertel der momentan Arbeitslosen erwartet, „wahrscheinlich“ oder „sehr wahrscheinlich“ demnächst eine neue Arbeit finden zu können.
Dass die nun schon seit einigen Jahren über Spanien hereinbrechenden Krisenwellen auch und gerade dem politischen System, den politischen Parteien des Landes und nicht zuletzt den Politikern selbst angelastet werden, zeigt überdeutlich die Tatsache, dass Korruption sowie Betrug, Gerechtigkeit und Politiker und Parteien im Allgemeinen als gleich drei der sechs wichtigsten Probleme des Landes ausgemacht werden. Und so ist es auch nicht besonders erstaunlich, dass die Parteienkritik, die seit geraumer Zeit in Spanien besonders laut vorgetragen wird, nicht mehr mit konjunkturellen Argumenten als ein temporäres, krisenbegleitendes Phänomen abgetan, sondern mittlerweile und immer lauter als eine grundlegende Diskussion über die Zukunft des politischen Systems geführt wird. „Das, was die Spanier schon seit vielen Monaten fordern, in einer Umfrage nach der anderen, ist schlicht und einfach ein anderer Stil, Politik zu begreifen und durchzusetzen“, schlussfolgern José Juan Toharia und José Pablo Ferrandiz vom Meinungsforschungsinstitut Metroscopia.[1]
Und während die vergangene Wahl zum Nationalparlament im November 2011 eine krachende Abwahl der spanischen Sozialisten des PSOE unter José Luís Zapatero gewesen war,[2] so hat diese Ablehnung nun auch das entsprechende Volkspartei-Pendant des regierenden, konservativen Partido Popular unter Mariano Rajoy mit aller Wucht erreicht. Das zugesprochene Vertrauen in beide großen Parteien befindet sich auf einem historischen Tiefstand, das historische „Zweiparteiensystem“ sich gegenüberstehender großer Blöcke mit möglichst zwei zur Wahl stehenden klaren Alternativen wird längst nicht mehr als funktionsfähig und positiv empfunden: „Die Wählersituation ist ein politischer Tsunami“, sagt Belén Barreiro von der Fundación Alternativas.[3] Mittlerweile würden etwa fünfzig Prozent der Spanier angeben, sich einer Wahl enthalten zu wollen, und die beiden großen Parteien kommen, auf alle Wahlberechtigten gemünzt, gemeinsam nicht mal mehr auf dreißig Prozent. „Se busca un Beppe Grillo español”, lautete folgerichtig eine Schlagzeile der Tageszeitung El País im Mai diesen Jahres – gesucht wird ein spanischer Beppe Grillo.[4]
Demgegenüber ist aber wichtig und auch erstaunlich, dass gleichzeitig die Identifikation mit der eigenen Demokratie und ihre Bevorzugung gegenüber jeder anderen Regierungsform im Laufe der Krise keineswegs Schaden genommen, ja sogar zugenommen hat. Dass Parteien für ein demokratisches System immens wichtig sind, um Interessen zu aggregieren, dass sie für die verschiedenen sozialen Gruppen zentral dafür sind, ihre Anliegen zu formulieren und zu verteidigen – diese Ansichten haben zwar etwas an Überzeugungskraft verloren, dennoch werden sie von der überwiegenden Mehrzahl der Spanier geteilt. Denn es seien nicht Parteien im Allgemeinen, „sondern diese Parteien“, unterstreicht José Juan Toharia.[5] Die Rolle der Parteien im Demokratisierungsprozess und der Überwindung der Franco-Diktatur bleibt den Spaniern dabei ein Vorbild, was Parteien auch leisten können, die Modernisierung und Einbindung in das Rund europäischer Länder inbegriffen.
Und so konzentrieren sich auch die in der politischen Landschaft Spaniens derzeit am stärksten aufgegriffenen und diskutierten Vorschläge auch nicht auf eine Überwindung des Prinzips „Partei“, sondern fordern eine konsequente Anwendung desselben. „Im Gegensatz zu anderen Ländern wie Italien, Griechenland kommen in Spanien keine populistischen Vorschläge wie die von Grillo oder der Neofaschisten auf, sondern es geht lediglich um die Verbesserung der Demokratie“, betont Jordi Sevilla, Minister a.D. des PSOE. Eine ganze Reihe von Vorschlägen wird derzeit in Spanien diskutiert, um die auch von der Bewegung 15-M[6] erhobenen Forderungen in den administrativen Prozess einzuspeisen. Eine ganze Reihe von Staatsrechtlern und ehemaligen Ministern haben sich mit ausgearbeiteten Initiativen für ein neues Parteiengesetz dafür eingesetzt.[7]
Die hohe Wertschätzung, die die Spanier der Organisationsform Partei entgegenbringen, zeigt sich auch in der Tatsache, dass 83 Prozent der unter 35-jährigen – und siebzig Prozent aller Spanier – meinen, die Lösung der politischen Probleme des Landes könne in neu aufkommenden Parteien liegen, welche die alten unter Druck setzten und den Bürgern mehr politische Auswahlmöglichkeiten böten.[8] Dieses erhoffen sich die Spanier selbst von der außerparlamentarischen Bewegung des 15-M: 67 Prozent hoffen, dass diese sich in eine Partei umwandle, um in den kommenden Wahlen anzutreten. Auch knapp neunzig Prozent der PSOE-Wähler und immerhin 55 Prozent derjenigen, die zuletzt den PP gewählt haben, fänden es hilfreich und sehr positiv, wenn es zusätzliche Parteien gäbe, unter denen man auswählen könnte und welche die politische Konkurrenz belebten. Die Diskussion in Spanien ist in den Jahren der Krise also gereift und konzentriert sich auf wichtige Rahmen und Steuerungsformen einer parlamentarischen Parteiendemokratie. Die Beispiele aus der eigenen Geschichte haben den Spaniern auch in einer tiefen politischen Vertrauenskrise weiterhin vor Augen gehalten, wozu Parteien fähig sein können, sobald sie ihre Aufgaben erfüllen. Eine solche Vernunft wäre wohl vielen Gesellschaften zu wünschen.
Felix Butzlaff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
2. Bild v.o.: ¿Daoíz o Velarde?, spanisches Parlamentsgebäude, 9. Nov. 2004: Epaminondas Pantulis / CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/legalcode) / http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6a/Daoiz_o_Velarde.jpg