[analysiert]: Adrian Haack über die Rolle der Europa-Parteien.
Mit Kroatien kann das 28. Mitglied der Europäischen Union willkommen geheißen werden. Es ist EU-Tradition, dass mit jedem Beitritt auch die europäischen Institutionen anwachsen. Und so wird die Europäische Kommission wohl bald den Bedarf eines weiteren Kommissars in seinem Kollegium feststellen. Auch im Europäischen Parlament (EP) werden Abgeordnete aus Kroatien zu integrieren sein, die von Parteien entsendet werden, die derzeit noch keiner der EP-Fraktionen angehören. Wenn politische Parteien – wenn überhaupt – in der medialen Berichterstattung vorkommen, dann werden sie oft mit den Fraktionen im Europäischen Parlament gleichgesetzt. Formal ist dies nicht ganz richtig, aber das EP ist letztlich die Arena, in der europäische Parteien wirken. EU-Parteien sind Zusammenschlüsse nationaler Parteien mit dem Ziel, im politischen System der EU zu kooperieren. Doch welche Rolle spielen Parteien tatsächlich in diesem System?
Die Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), also der Vorläufer des EP, war zunächst nicht auf die Existenz parteipolitischer Fraktionen ausgelegt. Der Konzeption nach sollte es bspw. einen Präsidenten und fünf Vizepräsidenten geben, was der damaligen Anzahl der Mitgliedstaaten entsprach. Doch schon bei der ersten Sitzung schafften die Abgeordneten, die damals noch von nationalen Parlamenten delegiert wurden, andere Fakten. Sie organisierten sich nicht in Landesgruppen, sondern kooperierten mit ihren Parteifreunden aus den anderen Ländern. Auch als sich 1979 das erste von der Bevölkerung gewählte EP konstituierte, wurde diese Art der Fraktionsbildung beibehalten – und hat bis heute Bestand. Seit Bestehen des EP wurde dessen Rolle im politischen System der EU stetig aufgewertet und es bekam nach und nach mehr Kompetenzen zugesprochen. Es liegt im Wesen politischer Parteien, um solche Kompetenzen in einen Wettbewerb zu treten.
Ging also mit der Entwicklung des EP eine Aufwertung der EU-Parteien einher? Formal existieren sie erst seit dem Vertrag von Maastricht und erst seit 2005 werden sie aus dem EU-Haushalt mit Finanzmitteln bedacht. Ob sie, was Relevanz und Einfluss angeht, mit nationalen Parteien gleichzusetzen sind, wird im Weiteren zu analysieren sein.
Auf nationaler Ebene sind politische Parteien Gegenstand ausgiebiger Forschung, da sie aus keinem System eines EU-Staates wegzudenken sind. Sie erfüllen so maßgebliche Funktionen in den EU-Demokratien, so dass man z. B. in Deutschland nicht ohne Grund von einer „Parteiendemokratie“ spricht. Primäres Ziel von Parteien ist die Teilnahme an Wahlen, wobei sie in aller Regel versuchen, Mehrheiten zu erlangen und die Regierung zu stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, bieten sie den Wählern politische Programme an und stellen Kandidaten zur Wahl.
Auch die Europa-Wahlen sind nach wie vor Sache der nationalen Parteien; obwohl auf den ersten Blick zuständig, haben die EU-Parteien nur wenig Einfluss auf den Wahlkampf zum EP. Beispielhaft dafür ist der Europawahlkampf 2004. Die CDU bildete Angela Merkel, die gar nicht zur Wahl stand, auf ihren Plakaten ab. Parallel dazu nutzte die SPD die Europawahlen als nachgelagerten Volksentscheid über die Irak-Frage. Einzig die Grünen traten bei der letzten Europawahl europaweit einheitlich mit einem Spitzenkandidaten und einem Programm an. Sie waren damit die erste Partei, die den Anspruch umgesetzt hat, einen EU-Wahlkampf zu führen. Als erste „richtige“ EU-Partei kann man sie dennoch nicht bezeichnen. Sie stellen gerade einmal 58 Mandatsträger, die aus nur 15 der 27 Mitgliedsstaaten kommen. Aus den neuen Mitgliedstaaten hat ihre Fraktion lediglich zwei Abgeordnete in ihren Reihen und über die Hälfte der grünen MdEPs sind Deutsche oder Franzosen. Obwohl es sich also eher um eine deutsch-französische Partei handelt, liefern die Grünen einen Ausblick darauf, wie ein europäischer Wahlkampf in der Zukunft aussehen könnte. Bisher nehmen EU-Parteien also nur bedingt an Europawahlen teil und sind dabei eher die Summe ihrer Mitgliederorganisationen.
Die Programme, mit denen die Parteien bei Europawahlen antreten, sind entsprechend dem Wahlmodus, der nationale Listen vorgibt, auf nationale Wählermärkte zugeschnitten. Ein einheitliches europäisches Wahlprogramm wäre für die nationalen Parteien auch gar nicht immer optimal, im Gegenteil. Im Grunde handelt es sich um 27 nationale Wahlen. Dies lässt sich bspw. an der Haltung zur Agrarpolitik oder dem EU-Budget veranschaulichen. Polnische und britische Konservative würden kaum einen gemeinsamen Nenner bei der Höhe der Agrarsubventionen finden, weil ihre nationalen Wählermärkte völlig gegensätzliche Interessen haben. Auch die unterschiedliche Haltung niederländischer und portugiesischer Sozialdemokraten zu Eurobonds lässt sich national begründen. Bei den Europawahlen gibt es nicht zwangsweise sozialdemokratische, liberale oder konservative Positionen, sondern in erster Linie nationale Interessen.
Die Bipolarität, die man aus nationalen Parlamenten kennt, hat sich daher auf europäischer Ebene nie richtig ausgeprägt. Zum einen, weil die Interessen innerhalb einer EP-Fraktion national divergent sein können. Zum anderen sind die Streitfragen beider Lager hauptsächlich auf nationaler Ebene angesiedelt und die beiden großen Fraktionen, die Konservativen und die Sozialisten/Sozialdemokraten sind oft einer Meinung. Die Zusammenarbeit fällt umso leichter, da es keine Regierungsmehrheit im Europäischen Parlament gibt und Kommission und Rat häufig als gemeinsame Gegner wahrgenommen werden. Dies zeigte sich etwa bei der Ablehnung des Haushalts. Da der aktuellen Europäischen Kommission Mitglieder der drei größten Fraktionen (zusammen über 70 Prozent im EP) angehören, hat sich die informelle Praxis herausgebildet, die Kandidaten fraktionsübergreifend zu unterstützen. Die Auswahl der Kommissare findet primär im Europäischen Rat statt. Der amtierende Kommissionspräsident Jose Barroso ist ein Kandidat der Staats- und Regierungschefs. 2004 konnte die konservative Europäische Volkspartei (EVP) ihren Kandidaten Chris Patten nicht gegen Barroso, der von den nationalen Mitgliederparteien der EVP getragen wurde, durchsetzen. Umgekehrt waren die europäischen Sozialdemokraten nicht in der Lage, einen eigenen Kandidaten ins Spiel zu bringen und rund ein Viertel der Fraktion wählte sogar Barroso. Es wird deutlich, dass die klassische Aufteilung in Regierungsmehrheit und Opposition im EP nicht existiert, was umso mehr verwundert, da dies in den meisten Parlamenten der Mitgliedsstaaten zu beobachten ist.
Bei der Rekrutierung der Kandidaten spielen EU-Parteien ebenso wenig eine Rolle. Stellenweise entsteht dabei der Eindruck, dass die Kandidatenauswahl ganz eigenen Gesetzen folgt. Nationale Politiker entdecken ihr Interesse für Europapolitik oftmals nach Wahlniederlagen; sie bekommen EU-Mandate von ihrer nationalen Parteiführung nahe gelegt und kaum ein anderes Parlament hat so viele ehemalige hohe Parteifunktionäre in seinen Reihen. Bei der Listenaufstellung für das EP oder der Benennung der Kommissare werden die EU-Parteien entsprechend kaum beteiligt. Eine Initiative des EP, einige Mandate bei den Europawahlen über europäische Listen zu vergeben, wurde vom Europäischen Rat blockiert. Denn die Staats- und Regierungschefs sind meistens auch Parteivorsitzende, die nicht bereit sind, Mandatsplätze an eine europäische Liste abzutreten. Die Ausübung eines europäischen Mandates wird dadurch folglich nicht vereinfacht, entscheidet doch die nationale Partei bzw. Parteiführung über die nächste Listenaufstellung.
Die Analyse ist ernüchternd. Es ist sogar fraglich, ob der Parteienbegriff für die EU-Parteien treffend ist. Vergleicht man die Defizite der EU-Parteien mit den Aspekten, die bei Diskussionen um das Demokratiedefizit der EU angeführt werden, dann fällt auf, wie ähnlich diese sind. Zudem zeigt die starke Stellung der nationalen Parteien in allen Mitgliedstaaten, wie elementar die Rolle politischer Parteien für demokratische Systeme ist. Die Bestandsaufnahme der Rolle der EU-Parteien hat gezeigt, dass das politische System der EU bisher ohne starke EU-Parteien ausgekommen ist. Die demokratische Legitimität der EU wird bisher durch den völkerrechtlichen Vertretungsanspruch der Regierungen der Mitgliedstaaten begründet. Bei immer weiter zunehmender Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene stellt sich aber die Frage, ob das ein längerfristiges Zukunftsmodell sein kann.
Adrian Haack promoviert am Göttinger Institut für Demokratieforschung zum Thema „Politische Karrieren in Europa“. Er hat Politikwissenschaft in Hannover und Warschau studiert.