[analysiert]: Christopher Schmitz über das Ausbleiben von Anti-Überwachungs-Protesten
Etwas ist faul im Staate Neuland. Der von der britischen Zeitung The Guardian Anfang Juni aufgedeckte Skandal um die Überwachungswut US-amerikanischer Geheimdienste weitet sich beständig aus. Mithilfe des abtrünnigen Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden wurden zunächst exklusive Informationen über das amerikanische Spähprogramm PRISM, später über das noch umfänglichere britische Programm Tempora veröffentlicht. Doch trotz der Aufdeckung des vermutlich umfänglichsten staatlichen Überwachungssystems der neueren Geschichte findet kaum eine politische Mobilisierung statt. Bürgerrechtsbewegungen und der netzaffinen Szene gelingt es nicht, für sich selbst und ihre Anliegen eine ausreichend kritische Öffentlichkeit herzustellen, geschweige denn, Menschen zu animieren, auf der Straße zu protestieren. Angesichts des schieren Ausmaßes der planmäßigen Überwachung ist es völlig gerechtfertigt, mit Phillip Grassman zu fragen: „Wo bleibt die Entrüstung?“[1]
Die Furcht vor Big Brother, der allumfänglich seine Bürger ausspioniere, sei der Realität gewichen. Snowdens Enthüllungen seien deshalb so wichtig, weil sie an den Grundwerten der westlichen Demokratien rüttelten: Wo der Schutz der Privatsphäre als Rückzugsraum ausgehöhlt wird, verliert die freie Meinungsäußerung ihren integralen Charakter als Herzschrittmacher für die Demokratie. „Da ist etwas in Bewegung geraten, von dem man noch nicht weiß, wohin es führen wird. Offenbar hat das Internet nicht nur unsere Art zu kommunizieren verändert. Auch unser Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit scheint sich zu ändern.“[2] Die Sorglosigkeit schließlich, mit der NutzerInnen Daten produzieren, die dann abgefangen werden können, ist schlechterdings beeindruckend.[3]
Doch warum gelingt es den relevanten AkteurInnen bis dato nicht, politisches Kapital aus diesem Skandal zu schlagen und Proteste zu mobilisieren? Genügen Hinweise auf einen generationellen Spalt in der Netzszene, der aktuell noch dadurch verschärft wird, dass sich relevante AkteurInnen nicht solidarisieren und zu gemeinsamen Protesten aufrufen wollen, weil Wahlkampf ist? Vermutlich reichen die Ursachen und Gründe noch tiefer. Vermeintlich erklärende Momente wie der angesprochene Wertewandel und Generationskonflikt sind letztlich nur Symptome eines Prozesses, der auf einer grundlegenderen Ebene stattfindet und tradierte gesellschaftliche Funktionsweisen verändert. Mit dem Begriff der simulativen Demokratie hat Ingolfur Blühdorn versucht, diesen Wandel in Hinblick auf dessen Auswirkungen auf die Demokratie zu erfassen: Grundlage für Blühdorns Ansatz ist die Realisierung einer so genannten Emanzipation zweiter Ordnung, die „den Auszug aus der selbst erstrittenen Mündigkeit“[4] beschreibt und damit den Übergang in die von ihm so genannte dritte Moderne bedeutet. In dieser würden bürgerliche Vorstellungen von Subjektivität und Identität zum Verschwinden gebracht, wodurch sich schließlich normative Bezugsgrößen des demokratischen Projekts veflüssigten.[5]
Mit anderen Worten: Im Rahmen von Modernisierung und Aufklärung hat sich das kritisch-kantische Subjekt nicht nur aus der Unmündigkeit befreit, sondern sich schließlich auch wieder selbst entmündigt – und somit selbst aus dem Fokus emanzipatorischer Prozesse gedrängt. Anstelle des Individuums treten nun Strukturen und Prozesse – das alternativlose System – in den Mittelpunkt. Entscheidungen der politischen Eliten gelten dann als besonders legitim, wenn sie nach objektiven Kriterien als systemrelevant und alternativlos notwendig dargestellt, argumentiert und schließlich ausgeführt werden.[6]
Somit bedeutet der Begriff der simulativen Demokratie „die Produktion und Reproduktion von Diskursen, Narrativen und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, in denen […] Normen, Wertorientierungen und Zukunftsperspektiven inszeniert und kultiviert werden, die für das demokratische Projekt […] konstitutiv waren, denen […] aber nicht minder gewichtige inkompatible Wertorientierungen gegenüberstehen.“[7] Dieses Prinzip ähnelt dabei frappierend einem bekannten Witz: „Solange mein Chef so tut, als würde er mich vernünftig bezahlen, tue ich so, als würde ich vernünftig für ihn arbeiten!“ Natürlich funktioniert dieser Witz nur unter der Annahme, dass eben dieses vernünftige Maß von Bezahlung sowie Arbeitsleistung nicht gegeben ist, während zugleich beide Parteien trotz des Wissens um diesen Umstand die Inszenierung aufrechterhalten und das Gegenteil simulieren. Nichts anderes ist und meint simulative Demokratie.
Aus dieser Perspektive eröffnet sich nunmehr eine neue Interpretation der Thematik. Das systemische Interesse an der Herstellung kollektiver Sicherheit mittels massiver Datenspeicherung auf Kosten individueller Freiheiten wäre aus dieser Sichtweise bereits ausgemachte Sache. Folglich bemühten sich alle Akteure bei den jüngst bekannt gewordenen Abhörskandalen also nur noch um eine selbstgefällige demokratische Inszenierung: Staaten, ihre Regierungen und Behörden erwecken den Eindruck, als würden sie in einem streng geregelten und demokratisch legitimierten Rahmen tätig, während Bürgerrechtsorganisationen Empörung, Bestürzung und Betroffenheit artikulieren.
Gerade dort, wo sich das Konzept Privatsphäre als Produkt eines – inzwischen abgelösten – subjektiv-bürgerlichen Gesellschaftsideals gegen übermächtige systemische Imperative behaupten und wieder in den Mittelpunkt rücken müsste, treten die Grenzen der Simulation zu Tage: Für Blühdorn rechtfertigt sich der simulative Prozess durch die Aufrechterhaltung des Status Quo: Die nunmehr simulierten demokratischen Prozesse sollen eine frisch renovierte Fassade intakter demokratischer Kultur präsentieren, wo die dahinterliegenden gesellschaftlichen Fundamente längst im Verfallen begriffen sind. So gesehen muss die Verteidigung der Privatsphäre also dem Manöver Münchhausens gleichen, der sich am eigenen Haarschopf aus dem Treibsand zog: Es handelt sich um eine logische Unmöglichkeit, die nicht geleistet werden kann, weil sie auf Prinzipien Bezug nimmt, die jenseits der Simulation liegen und als überholt und hinderlich gelten.[8]
Was von Demokratie und Protest bleibt, ist ein reines nostalgisches Ritual. In gewisser Weise erinnert die Situation an eine Theateraufführung. Akteure handeln und sprechen gemäß der an ihre jeweiligen Rollen gestellten Erwartungen, während Großteile der betroffenen Bevölkerungen von ihren Logenplätzen aus der Darbietung beiwohnen. Für einen Skandal scheint das Stück nicht zu taugen. Die große Empörung bleibt also aus. Und Schweigen ist der Rest.
Christopher Schmitz ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zusammen mit Alexander Hensel und Stephan Klecha hat er in der BP-Gesellschaftsstudie die Proteste gegen ACTA analysiert.
[1] Grassmann, Philip: Wo bleibt die Entrüstung? Die Geheimdienste spionieren mithilfe des Internets massiv die Bürger aus. Aber kaum jemanden scheint das wirklich zu stören, in: der Freitag, 27. Juni 2013, S. 6, hier 6. (http://www.freitag.de/autoren/philip-grassmann/wo-bleibt-die-entruestung, 27. Juni 2013).
[2] Ebd.
[3] Vgl. Borchers, Detlef: United Stasi of America, in: der Freitag, 13. Juni 2013, S. 1. (http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/united-stasi-of-america, 27. Juni 2013).
[4] Blühdorn, Ingolfur: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende, Berlin 2013,S. 144.
[5] Vgl. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 52.
[6] Vgl. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 222f.
[7] Vgl. Blühdorn: Simulative Demokratie, S. 178.
[8] Vgl. Blühdorn, Ingolfur: billig will ich. Post-demokratische Wende und simulative Demokratie, in: Forschungsjournal NSB, Jg. 19 (2006), H. 4, S. 72-83, hier S. 78.