[analysiert]: Johanna Klatt über die soziale Ungleichheit politischer Partizipation
Politische Partizipation war und ist sozial ungleich verteilt. Menschen mit hohem Bildungsgrad und großem Einkommen verfügen stets über stärkere individuelle Ressourcen zum Politikmachen als Einkommens- und Bildungsschwache. An Politik oder Demokratie teilzunehmen, ist voraussetzungsreich. Man muss politische Kanäle zur Beteiligung kennen oder wissen, wen anzusprechen oder zu kritisieren sich lohnt, um sich für oder gegen ein bestimmtes Ziel einzusetzen. Außerdem muss man sich dies selbst zutrauen; ein Zutrauen zu sich selbst, über das die Einen stärker verfügen als die Anderen.
Auch darum nehmen die Einen stets stärker teil als die Anderen. Und ein gewisser Grad gesellschaftlicher Ungleichheit in der politischen Partizipation lässt sich in der Praxis vielleicht auch kaum vermeiden. Doch strukturelle Veränderungen darin, wie man sich heutzutage politisch beteiligt, werfen die Frage auf, ob bestehende soziale Unterschiede in der politischen Partizipation derzeit nicht sogar zunehmen. Denn während die Teilnahme an „konventionellen“ Wegen der Politik nachlässt, das heißt die Mitgliederzahlen der meisten Parteien sowie das Ansehen von Politikern und Parteiendemokratie sinken, werden „unkonventionelle“ Politikwege – zum Beispiel Bürgerinitiativen, Unterschriftenaktionen oder politische Aktionen über das Internet – immer wichtiger. Wie hoch aber ist der Grad gesellschaftlicher Ungleichheit bei diesen „neuen“ Beteiligungsformen?
Das Beispiel der Hamburger Bürgerinitiative „Wir wollen lernen“ gegen die geplanten Reformen des Hamburger Senats für längeres gemeinsames Lernen hat kürzlich nicht nur die Erfolgsaussichten dieser Partizipationsform, sondern auch deren soziale Ungleichheiten offenbart. Wie die Politikwissenschaftler Andrea Römmele und Henrik Schober nach den Wahlen belegt haben, stimmten gerade die Bewohner sozial höher gestellter Stadtviertel ab, während Angehörige strukturschwacher Areale den Urnen am Abstimmungstag fern blieben. Kritisch betrachtet, könnte die Hamburger Initiative damit als typische „NIMBY-“ – das heißt „not-in-my-backyard-“ – Bewegung angesehen werden, als eine Bewegung also, die hauptsächlich von Menschen mit mittleren bis höheren individuellen Ressourcen initiiert, organisiert und unterstützt wurde. Handelt es sich damit auch stellvertretend um ein Beispiel dafür, dass die Menschen generell an modernen, unkonventionellen Formen in sozial ungleicher Verteilung partizipieren?
Zumindest weisen die Zahlen des Politikwissenschaftlers Armin Schäfer darauf hin. Seine Forschung zeigt, dass unkonventionelle Beteiligungsformen wie Unterschriftensammlungen, Bürgerinitiativen, kritischer Konsum oder Online-Protest in der Regel noch ungleicher verteilt sind als etwa die – konventionelle – Teilnahme an Wahlen. Regelmäßige parlamentarische Wahlen bleiben die am wenigsten sozial ungleiche Beteiligungsformen.
Aktuelle Befragungen unseres Instituts von Bewohnern sozial benachteiligter Stadtviertel unterstützen Schäfers Thesen. Zwar zeigten sich nur wenige unserer Gesprächspartner sonderlich aktiv – weder in Parteien, Gewerkschaften noch in anderen politischen Organisationen. Und nur sehr vereinzelt berichtete jemand, dass er oder sie an einer Unterschriftenaktion teilgenommen, sich im Internet politisch engagiert, etwas boykottiert oder eine Bürgerinitiative unterstützt hatte. Jedoch hieß es trotz aller vorhandenen Abneigungen gegen Politik und Parteien an einem Punkt unserer Gespräche meistens: „Aber ich gehe wählen“. Das individuelle Wahlrecht war für die meisten Befragten nicht nur wichtig im Allgemeinen, sondern auch die persönlich nächstliegende und oftmals einzige Form einer politischen Beteiligung. Wählen zu gehen bleibt damit – auch in Zeiten der Internetpartizipation und der wachsenden Varianten von Bürgerbeteiligung – die demokratische Beteiligungsform, deren Zugangsschwelle am niedrigsten liegt.
Gleichwohl scheint es bei der medialen Bewertung verschiedener politischer Beteiligungswege aktuell eine Schieflage zu geben – und zwar zu Gunsten „neuer“ und unkonventioneller Formen. Viele Journalisten alliieren sich zum Beispiel schnell mit Bürgerinitiativlern. Insgesamt wird vielem, das den vagen Begriff zivilgesellschaftlich in sich trägt, mit automatischer Euphorie und wohlwollender Kommentierung begegnet. Es handelt sich sozusagen um eine offene-Arme-Mentalität, die sich auch aus den Mängeln des bestehenden „konventionellen“ parteipolitischen Systems heraus erklärt. Diesem fehlen insbesondere die schlauesten Köpfe der Republik, weil sich diese in ihren individuellen Lebensläufen eben häufig nicht für die parteipolitische „Ochsentour“ – den mühseligen Aufstieg durch die Hierarchieebenen einer Partei also – sondern für den Weg in eine Redaktion oder für die Unterstützung einer NGO, Bürgerbewegung oder politischen Organisation entschieden haben. Einer Allianz aus zivilgesellschaftlichen Akteuren und Medienredakteuren stehen damit viele weniger gebildete, wenigstens aber gewählte Vertreter der Parlamente gegenüber. Deren Defizite werden oftmals zu Recht, häufig jedoch auch übermäßig intensiv beleuchtet.
Keinesfalls sollen an dieser Stelle bestehende Defizite von Politik und Parteien geleugnet oder die elementare Kontrollfunktion der Medien als vierter Pfeiler unserer Demokratie vergessen werden. Eine kritische Berichterstattung bleibt unentbehrlich, sie sollte sich jedoch sowohl auf die konventionellen wie auch unkonventionellen Politikformen beziehen.
Vielmehr geht es darum, dass die die Medien – und nicht zuletzt auch Politik und Wissenschaft selbst – an die Brandtsche Aufforderung: „Mehr Demokratie wagen“, stets auch die Fragen „Für wen?“ und „Von wem?“ anschließen. Denn nur so können wir die Konsequenzen von Veränderungen in der politischen Partizipationslandschaft unserer Demokratie für deren gesellschaftliche Repräsentativität abschätzen.
Johanna Klatt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und war am Projekt „Wo ist die „Unterschicht“ in der modernen Bürgergesellschaft?“ beteiligt. Darüber hinaus forscht Sie u.a. zu den Themen Zivilgesellschaft und politische Partizipationsformen.