„Atatürks islamische Erben“

[nachgefragt:] Benjamin Wochnik erklärt im Interview das politische System der Türkei. In seinem Buch geht er von der These aus, dass die aktuelle Regierung das Erbe der Kemalisten angetreten hat.

Du bezeichnest in deinem Titel deines Buches die aktuelle Regierung als „Erben Atatürks“. Wie kommst du zu diesem Schluss?
Der Titel Atatürks islamische Erben soll den kausalen Zusammenhang zwischen Atatürks politischem Vermächtnis und der Politik der religiös-konservativen AKP-Regierung verdeutlichen. Atatürk selbst und seine politischen Erben wollten die Republik nach Europa führen und dessen zivilisatorische Errungenschaften übernehmen. Aus Angst vor religiösen oder politischen Reaktionären erlagen die kemalistischen Machthaber jedoch der Versuchung, die Demokratie in ihre, für sie dienliche, Bahnen zu lenken. Erhebliche Demokratiedefizite in Verfassung und  Rechtsstaat waren die Folge. Erst die islamisch verwurzelte AKP durchbrach 2002 den Teufelskreis aus alten elitären Machtstrukturen und gegängelter Demokratie und forcierte die Annäherung an die EU.

Das Jahr 2002 ist also ein Schlüsseljahr für die Türkei?

Ja, denn im November 2002 erschütterte ein politisches Erdbeben die Republik am Bosporus und stellte die bisherigen Machtverhältnisse auf den Kopf. Die konservative Entwicklungs- und Gerechtigkeitspartei, AKP, von Recep Tayyip Erdoğan gewann durch einen erdrutschartigen Sieg die Parlamentswahlen. Erstmals in der Geschichte der laizistischen Republik konnte eine Partei mit islamistischen Wurzeln ohne Koalitionspartner die Regierungsgeschäfte übernehmen. Die kemalistische CHP wurde vom Wähler degradiert und ins Oppositionslager verscheucht. „Anatolien“ besiegte „Istanbul“ – nachhaltig.

Aber wie kommst du dann darauf, dass es sich bei der AKP um Atatürks Erben handelt?
Erdoğan selbst verkündete noch am Wahlabend im November 2002, dass er den EU-Beitrittsprozess beschleunigen wolle. Die scheinbar naturgegebenen Rollen der kemalistischen, proeuropäischen und säkularen Modernisierer auf der einen Seite und der antidemokratischen, reaktionären und religiösen Opposition auf der anderen, verkehrten sich dauerhaft ins Gegenteil. Die AKP schlüpfte in die Rolle der Modernisierer, schlug einen proeuropäischen Kurs ein und bekannte sich, wenn auch nicht ausnahmslos, zum Kemalismus. Kurz zusammengefasst kann man also sagen: Gelähmt von ihrer eigenen destruktiven Politik und ihrem egozentrischen Selbstverständnis, der Hüter des Kemalismus zu sein, katapultierte sich das kemalistische Establishment ins gesellschaftspolitische Abseits. Die islamisch geprägte AKP hingegen übernahm Atatürks Dogma, das Land zu modernisieren und nach Europa zu führen. Sie treten folglich Atatürks Erbe an –  und sind demnach „Atatürks islamische Erben“.

Was zeichnete das türkische politische System in den letzten Jahrzehnten aus?
Das politische System der Türkei ist in ein enges normatives Korsett gezwängt. Dieses Korsett ist der Kemalismus, eine Ideologie, welche Atatürk und seine Anhängern in den Jahren nach der Republikgründung 1923 schufen und dem Land samt seiner, bis dahin pluralistisch strukturierten Bevölkerung aufoktroyierten.
Der Kemalismus fußt auf sechs Säulen, wobei der Schwerpunkt auf den ersten beiden liegt: Laizismus, Nationalismus, Republikanismus, Populismus, Revolutionismus und Etatismus. Die Ausführung des türkischen Laizismus bedeutet nicht, dass Staat und Religion getrennt sind, sondern dass der Staat durch den Laizismus ermächtigt wird, die Religion zu kontrollieren. Der türkische Nationalismus sollte den identitätsstiftenden Islam verdrängen und als vereinender Kitt die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammenhalten und verbinden. Der radikale Bruch mit dem islamisch-osmanischen Kultur-, Rechts- und Gesellschaftssystem sollte die Türkei dem als Muster dienenden säkularen Europa näher bringen.

Wie sah das politische System dabei aus?
Über Jahrzehnte hielt die kemalistische Elite die entscheidenden Steuerungshebel der Republik – die Bürokratie, die Justiz und das Militär – in ihren Händen und manipulierte auf diesem Wege die Geschicke des Landes nach ihrer politischen Fasson. Jede von der kemalistischen Staatsideologie abweichende gesellschaftliche oder politische Aktivität wurde unterdrückt und auch bestraft. Falls der politische Arm der Kemalisten, die Republikanische Volkspartei,  CHP, politisch versagte und ihr die Regierungsgewalt entzogen wurde, sprangen ihr die kemalistischen Verbündeten aus Bürokratie, Justiz und Militär zur Seite. Die „Verbündeten“ blockierten und manipulierten auf allen Ebenen die Politik der neuen Regierungsparteien. Im äußersten Notfall, bei einer islamistischen Reaktion oder einer Bedrohung der kemalistischen Grundfesten, griff das unantastbare Militär durch Putsche und Verfassungsänderungen in die Politik des Landes ein.

Nun aber zur Gegenwart: Die AKP ist eindeutig eine religiös geprägte Partei. Trägt sie das „Islamische“ ähnlich wie das „C“ der Union als eine Art kulturelles Erbe oder handelt es sich dabei um eine antidemokratische, islamistische Partei?

Die AKP besitzt islamistische Wurzeln, sie ist aber keine islamistische Partei. Ihre Führungspersönlichkeiten, wie Ministerpräsident Erdoğan und Staatspräsident Gül, stammen aus dem Dunstkreis der Islamisten um den „Vater“ des türkischen politischen Islam, Erbakan. Sie und weitere Mitglieder der AKP waren auch Mitglieder islamistischer Parteien, die in der Vergangenheit aufgrund ihrer islamistischen politischen Aktivitäten vom türkischen Verfassungsgericht verboten wurden.
Dennoch muss den Politikern um Erdoğan und Gül zugestanden werden, dass sie sich Ende der 90er Jahre bewusst in einem neuen und vor allem demokratischen Gewand präsentieren. Ob aus ideologischer Wandlung, wie sie selbst beteuern oder aus reinem politischem Machtinteresse, wie ihre Kontrahenten behaupten, sei dahingestellt.
Die AKP zeigt, dass Demokratie und Islam kein Widerspruch sein muss. Seit 2002 modifiziert die Partei das Rechtssystem im demokratischen Sinn. Die vorgeschriebenen politischen Richtlinien der Europäischen Union dienen ihr als „roter Faden“. Verlierer dieses Prozesses sind der autoritäre kemalistische Machtapparat und das Militär, Gewinner sind die Widersacher der kemalistischen Elite und die EU-Befürworter.

Die Gründungsmitglieder der AKP wählten ihren Parteinamen mit Bedacht und unterstrichen damit ihre ideologische Ausrichtung. Die Abkürzung AKP steht für, „Adalet ve Kalkınma Partisi“, also Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. Die Buchstaben AK bedeuten im Türkischen „weiß“ – und das steht im politischen Zusammenhang für eine liberale und tolerante Auslegung der Religion. Auch das Parteiemblem, die Glühbirne auf gelbem Grund, steht nicht als Symbol für „religiöse Erleuchtung“, sondern metaphorisch für eine Art Orientierung, welche die Türkei von der dunklen Gegenwart in die bessere Zukunft führt.
Dennoch bedient die AKP auch ihr religiös-konservatives Klientel, indem sie den islamischen Normvorstellungen in einigen Gesetzen und Verordnungen einen Wirkungsraum zuspricht – z. B. bei der partiellen Beschränkung des Alkoholausschanks oder beim Neubau von Moscheen in säkular geprägten Stadtgebieten. Daraus lassen sich aber keine antidemokratischen Tendenzen ableiten.
Rainer Hermann, Islamwissenschaftler und seit 1996 Journalist der FAZ in der Türkei kommt in seinem Buch von 2008 – „Wohin geht die türkische Gesellschaft?“ – zu dem Ergebnis: Die AKP

„…versteht sich als konservative, muslimisch- demokratische Volkspartei, die Modernität mit islamischen Werten verknüpft, Reformen mit der Beibehaltung der eigenen Kultur.“

Benjamin Wochnik ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sein Buch „Atatürks islamische Erben. Wer regiert die Türkei?“ erschien 2010 im Tectum-Verlag.