Echt: Ich bin kein 68er!

[kommentiert]:  Franz Walters höchst subjektive Anmerkungen zu Fragen von Habitus und Politik

Aus irgendwelchen Gründen – ja doch, ich weiß es: wegen der zotteligen Haare und dauerpubertären T-Shirts; und klar: niemand zwingt mich dazu – gelte ich als „68er“. Immer wieder erhalte ich auf publizistische Meinungsäußerungen wütende Briefe und ganz regelmäßig werde ich eben darin als der ewige „68er“ geschmäht. Da ich selber – wie sagt man? – mitunter kräftig auszuteilen neige, bin ich auch gerne bereit – wie es so schön demütig heißt! – einzustecken. Doch der 68er-Vorwurf trifft mich irgendwie ziemlich hart. Erstens war ich in jenem berüchtigten Jahr gerade einmal 12 Jahre alt, interessierte mich seinerzeit ausschließlich für Fußball, jedenfalls überhaupt nicht für Politik, erst recht nicht für studentische Rote Garden. Doch auch in den Jahren danach wohnte ich, zweitens, nie in einer Kommune, rauchte nie einen Joint, schwärmte nie für „Grateful Dead“.

Schon auf Grund solcher Spießigkeiten und einer zutiefst proletarischen Herkunft habe ich die „68er“-Zeit meines postadoleszenten Lebens nicht sonderlich gemocht, ja mehr noch: regelrecht verachtet. Als umso bitterer empfinde ich es daher, ausgerechnet dieser Truppe gehätschelter Bourgeois-Zöglinge zugerechnet zu werden. Dabei konnte ich deren merkwürdige Mischung aus selbstgerechtem Moralismus und bräsigem Zynismus niemals ausstehen. Ich wundere mich auch heute noch über ihre intellektuelle Hochnäsigkeit, obwohl sie nicht einen einzigen klugen Theoretiker von Rang hervorgebracht haben; ihre wichtigsten Stichwortgeber gehörten allesamt der Generation zuvor an. Ich fand es über die Jahre grotesk, wie sie sich alle fünf, zumindest jedenfalls alle zehn Jahre selbst feierten und dabei am eigenen, wenngleich reichlich verwelkten Mythos berauschten.

Gleichwohl, sie haben es geschafft: Mit Ausnahme einiger verbiesterter Konservativer glaubt inzwischen eigentlich jeder halbwegs liberale Mensch dieser Republik, dass erst nach 1968 das aufgeklärte und tolerante Zeitalter der Bonner Demokratie nach dem schlimmen autoritären Muff und Mief einer kleinbürgerlichen Adenauer-Ära begonnen habe. Und so agieren die 68er mittlerweile auch in kultusministeriell abgesegneten Sozialkundebüchern für die Sekundarstufe II als Vorkämpfer eines offenherzigen liberalen Wertewandels und als Pioniere postfaschistischer Modernität. Und auch das muss man verblüfft konstatieren: Christdemokraten meckern zwar weiterhin gern öffentlich gegen den „Werteverfall durch ’68“, aber ihre Protagonisten leben den dadurch induzierten Wertewandel privat derzeit hochvergnügt aus – während ihre politischen Kontrahenten der Nonchalancen der Rebellionsjahre schon seit einiger Zeit sichtbar müde geworden sind.

Im Übrigen: Die so genannte APO war mehr Ausstoß als Anstoß der Modernisierung. In mancher Hinsicht haben die rebellierenden 68er den Modernisierungsprozess der sechziger Jahre gar eher gebremst, haben den laufenden Liberalisierungs- und Reformprozess der Gesellschaft unterbrochen, zumindest verwirrt. Moderner, urbaner und liberaler wurde die Republik jedenfalls längst vor 1968. Und entscheidend für den Wandel des Landes waren nicht die Happenings der Kommune II, auch nicht die epigonalen Traktate der ideologischen Wortführer, konstitutiv waren vielmehr die großen gesellschaftlichen Pflugbewegungen in den Jahren zuvor. Das begann schon in den vermeintlich restaurativen Fünfzigern. In diesem Jahrzehnt sank das agrarische Deutschland in einer historisch beispiellosen Dynamik dahin. Plötzlich sah man selbst bei uns im westfälischen Ort die (früheren) Bauern – verschämt zunächst, dann immer selbstverständlicher – ihre Speisekartoffeln im Supermarkt kaufen.

Die Entagrarisierung aber zerstörte die Reservate deutschnational-konservativer Mentalitäten in ungleich höherem Maße als alle teach-ins oder Rektoratsbesetzungen zweiundzwanzigjähriger Studenten der Soziologie. Die Entprovinzialisierung sorgte für die Enttraditionalisierung der Gesellschaft, bewirkte vor allem die Entklerikalisierung der Republik. In den frühen sechziger Jahren begann die lange Krise des Katholizismus. Das katholische Volk folgte jetzt nicht mehr in allem und jedem seinen bischöflichen Hirten. Die Cousine nahm die Pille, die Tante ließ sich scheiden, der Onkel aß freitags so plötzlich wie trotzig Wurst und Fleisch. Selbst feierte man als Kind nun Geburtstag statt des früher ganz selbstverständlich weit höherwertigen Namenstages. Das alles passierte so um 1965/66, ohne dass irgendwer von uns etwas von Rudi Dutschke oder Gaston Salvatore wusste und wissen wollte.

Doch ging in den frühen sechziger Jahren nicht nur das vormodern-ländlich-klerikale Deutschland unter. Auch die industriegesellschaftlichen Strukturen gerieten ab 1965 gegenüber den neuen und stetig wachsenden dienstleistenden Sektoren peu à peu in die Defensive. Der Treibstoff dieser Entwicklung war die Bildungsexpansion, die aber nicht erst nach 1968 einsetzte, sondern schon in den frühen sechziger Jahren kräftig begonnen hatte. Alle Pläne für die späteren Reformuniversitäten wurden in diesen Jahren ausgetüftelt und verabschiedet. Schon zwischen 1960 und 1965 verdoppelte sich das wissenschaftliche Personal an den deutschen Hochschulen. Und ab Mitte der sechziger Jahre fiel das zäh überlieferte Bildungsprivileg des protestantischen Bürgertums, da jetzt auch sozialdemokratische Facharbeiterkinder sowie katholische Bauernsöhne und -töchter in erheblicher Zahl zum Gymnasium drängten. Eben das hat mich – Sohn eines Hilfsarbeiters aus einer katholischen Kleinstadt im ländlichen Ostwestfalen – zutiefst geprägt. Bei meinen älteren Geschwistern stand der Besuch des Gymnasiums trotz bester Noten zuvor nicht einmal auch nur zu Debatte. Jahr für Jahr ging in unserem Städtchen jeweils allein ein Sohn oder eine Tochter der reichen Bauern in die 20 km entlegene größere Stadt auf die Oberschule. Der Wandel vollzog sich 1966. Fortan wurden die Kosten für Lehrmittel und für die Bahnfahrt zum Schulort erstattet. Und so trauten sich auch bei uns erstmals mehrere Eltern aus der Arbeiterschaft, wenngleich nach wie vor ängstlich und verzagt, ihre 10-jährigen Kinder zur Oberschule zu schicken.

Mit irgendeiner Kulturrevolution von ’68 hatte das alles nichts zu tun, sondern mit ganz klassischen, nüchtern reformistischen, etatistischen Bildungsreformen. Und bis heute stößt die Sozialstaatskritik von links bis rechts bei mir auf heftige Gegenwehr. Ich habe den Sozialstaat in meiner Lebensgeschichte weder als bequeme Hängematte noch als bourgeoises Manipulationsinstrument erlebt, sondern als handfestes – für mich und meinesgleichen unverzichtbares – Unterstützungsmedium der sozialen Emanzipation und Freiheitsmehrung. Dagegen habe ich die dann auch an unserem Gymnasium folgende Kultur mit dem esoterischen Jargon der „Kritischen Theorie“ zunächst als mir ganz und gar fremde, zutiefst bildungsbürgerliche, ja verängstigende Sprachmauer wahrgenommen.

Gleichwohl: Der kulturelle Wechsel hatte vor 1968 seinen Anfang genommen, hatte die Lebensweisen der Republik schon neu geprägt. Das „Yeah,Yeah, Yeah“ der Pilzköpfe aus Liverpool tönte bereits ein halbes Jahrzehnt vor 1968 aus den Radiogeräten der jungen Deutschen, die im selben Jahr ebenfalls für den jungen amerikanischen Reformpräsidenten Kennedy schwärmten. Die Literaten fochten schon 1961 für einen politischen Machtwechsel; die jungen Filmemacher formulierten ein Jahr später ihr „Oberhausener Manifest“. Auch die ersten Miniröcke waren auf den Straßen früher als die Demonstrationszüge der bärtigen SDS-Agitatoren zu sehen.

In diesen gesellschaftlichen Auflockerungsprozess brachen dann die 68er ein. Die 68er attackierten, was eh nicht mehr zu halten war; sie provozierten gegen Konventionen, die auch so bereits erodierten. Sie stürmten mit großer Geste Tore, die längst sperrangelweit offen standen. Doch begann damit nicht die Fundamentalliberalisierung der Republik, wie es in den Legenden der 68er seit den achtziger Jahren gern und oft erzählt wird. Die 68er-Revolte war keine liberale Rebellion. Niemanden prangerten die APO-Aktivisten lustvoller an als die „liberalen Scheißer“; es dauerte lange, bis sie den Wert der Gewaltenteilung erkannten. Die 68er zeigten auf ihren Kundgebungen nicht die Porträts von Friedrich Naumann, Max Weber oder gar Isaiah Berlin; sie schmückten sich stattdessen mit den Konterfeis von Lenin oder Mao-Tse-Tung. Einen liberalen Raum haben die 68er auch nicht in ihrem eigenen Umfeld geschaffen.

Politisch sorgten die martialische, klammheimlich an Carl Schmitt geschulte Feind- und Kampfrhetorik, die kalte Sprache, die aggressive Militanz schließlich für ungeheure Verwirrung. Die Sozialdemokraten und Freien Demokraten wurden in ihrer Entwicklung zurückgeworfen, die Union durch die 68er gewissermaßen gestärkt. Denn deren Parteibildung vollzog sich erst nach 1968 und in Reaktion darauf. Die Furcht vor Konfliktpädagogen und Sozialisierungstheoretikern aus der 68er-Kohorte trieb die bis dahin assoziationsunwilligen bürgerlichen Honoratiorenschichten während der siebziger Jahre in Scharen in die CDU des obersten Organisationsoffiziers Kurt Biedenkopf. Erst in diesem Jahrzehnt wurde die Union zur Sammelpartei des Bürgertums rechts von der Mitte; in diesem Jahrzehnt wuchsen politisch die Kampf- und Kadertruppen der Jungen Union heran, die zu Beginn des letzten Jahrzehnts flächendeckend in die Staatskanzleien der Bundesländer zogen, die sie allerdings nun wieder kollektiv verlassen, weil es – ’68 ist mit einiger Verspätung, dafür nun mit Aplomb auch hier angekommen – „im Leben noch anderes als nur Politik gibt“. In den Regionen holte die Union während der 1970er Jahre fulminante Mehrheiten wie niemals zuvor und danach. Es wurden die triumphalen Jahre für die rüden Rechtsausleger Filbinger, Dregger und Strauß, die ohne ’68 ihre polarisierende Kontrastparole „Freiheit oder Sozialismus“ nicht unter das verängstigte bürgerliche Volk hätten bringen können.

Einigermaßen verheerend aber wirkte sich der lange Marsch der 68er durch die Parteiinstitutionen der FDP aus. Dass es heute dort keinen ernsthaften Sozialliberalismus mehr gibt, hat mindestens indirekt mit der fatalen Wirkung des linksbourgeoisen Scheinradikalismus auf die seinerzeit noch liberale Partei zu tun. Dabei hatten die Freien Demokraten in den frühen sechziger Jahren die weitaus kreativste Jugendorganisation. Die damaligen Jungdemokraten dachten als erste die neue Ostpolitik vor und modellierten früh an einem zeitgemäßen, linksliberalen Freisinn der neuen bürgerlichen Schichten. Dann aber kam 1968, und die Jungdemokraten degenerierten binnen weniger Jahre zu einem absurden linkssozialistischen Konventikel. Ihr größter Feind war bezeichnenderweise der kluge und besonnene linksliberale Vordenker Karl Hermann Flach. Der Sozialismustrip der Jungdemokraten im Gefolge von 1968 schwächte den radikaldemokratischen-linksliberalen Flügel in der FDP enorm. So gingen die Freien Demokraten am Ende wieder nach rechts, in das Lager der Union zurück. Ohne ’68 wäre auch Kohl als Kanzler wahrscheinlich nur schwer möglich gewesen.

Weithin übersehen wurde überdies, wie sehr sie gerade damit den Boden für den nachfolgenden „Neoliberalismus“ bereiteten. Guido Westerwelle ist erheblich mehr Kind von ’68, als ihm das selbst bewusst und lieb sein dürfte. Denn das politische Instrument dieser Generation war die Provokation und die Regelverletzung, von den Puddingbomben und Orgasmusdefizitbekenntnissen der Kommunarden bis zu den punktuellen Tabubrüchen der sozialdemokratischen Enkel, mit denen sie ihren Aufstieg in der SPD gegen die konventionalistische „Generation Vogel“ bewirkten. Westerwelle, auch Jürgen Möllemann waren hier lediglich Nachahmungstäter der pionierhaften Troublemaker von ’68 ff. Selbst die viel gerühmte Werte- und Lebensstiltoleranz der 68er, besonders ihrer rot-grünen Epigonen war oft nur normative Indifferenz, an deren Maßstab gemessen eben alles gleich gültig war. Dergleichen Nonchalance führte dann ebenfalls in die Wurschtigkeit des freidemokratischen Vorsitzenden und seine zwischenzeitlichen Spaßkampagnen. So weit war der Weg nicht von Rainer Langhans zu Guido Westerwelle und seinen jungliberalen Harlekinen.

Die Politik des beliebigen, spielerischen Affronts hat viel beschädigt. Vor allem aber hat sie vereitelt, dass ein stabiler und verlässlich orientierender Wertekern erhalten blieb oder sich neu herausbildete. So wurde bezeichnenderweise das Werte- und Deutungsvakuum in der Regentenzeit von Rot-Grün zum entscheidenden Problem, das bis in die unmittelbare Gegenwart hineinreicht. Man weiß aus der Sozialpsychologie, dass Menschen nur dann aktiv, zielorientiert und selbstbewusst handeln können, wenn sie über ein konsistentes Normensystem verfügen. Fehlt ihnen ein solches Interpretationsset oder ist es in Unordnung geraten, dann machen sich Ängste breit, Hilflosigkeiten, Pessimismus. Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, reagieren konformistisch, suchen Sündenböcke. Eben so präsentiert sich die deutsche Gesellschaft im derzeitigen Übergang der 68er in den Pensionärsstand.

Natürlich: eine politische Generation waren die 68er nie. Im Grunde charakterisieren sich wohl die bekannten, markanten, geschichtsträchtigen „Generationen“ in erster Linie kulturell. Das war schon bei den Akteuren der Wandervogelbewegung um 1900 so, dann auch bei den Aktivisten der Bündischen Jugend dreißig Jahre später. All die großen, oft genug literarisch verklärten Generationen hatten einige auffällige Defekte: Es gab in ihren Reihen und Organisationen stets unzählige Spaltungen und erbitterte Gruppenkämpfe. Immer wieder rutschten sie in exaltierte Dogmatismen und Sektierereien ab. Ihre Anführer waren häufig genug bizarre, weltfremde und verstiegene Sonderlinge. Bedeutende Politiker brachten sie kaum einmal hervor. Eben das ist mein Problem mit den 68ern: Ihr Defizit an Politik; ihr Mangel an einem ernsthaften, klugen, lebensnahen, realistischen, zäh und konstant betriebenen, dabei volkstümlichen, listigen, strategischen und zielorientierten Radikalreformismus. Am Ende war ’68 lediglich ein spätbürgerliches Distinktionsgebaren.

Am nachhaltigsten wirken sich die Alternativigkeiten von Kulturgenerationen noch im Habitus, bei Sprachformeln, in der Kleidung und in Umgangsformen schlechthin aus. So gesehen haben meine Kritiker vielleicht doch ein wenig recht: Aus dieser Perspektive bin ich wohl tatsächlich ein bisschen ’68. Komisch, eigentlich. Doch welcher 68er sieht heute noch so aus, wie man sich klischeehaft einen 68er vorstellt. Irgendwie ist das zumindest ein Trost.

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.

Dieser Artikel erschien auch auf Freitag Online.