Eine schwere Geburt

[analysiert:] Teresa Nentwig über die Neuformierung der grünen politischen Bewegung in Frankreich

In Frankreich sind momentan Sommerferien. Nicht nur die Schulen haben geschlossen, sondern auch viele Büros und Fabriken. Die Großstädte wirken wie leergefegt, da die Bewohner im Sommerurlaub sind. Alles geht etwas langsamer zu als sonst. Im Kontrast dazu müssten derzeit die Repräsentanten und Anhänger ökologischer Politik in Frankreich stehen: Angesichts ihrer ehrgeizigen Pläne müssten ihnen die Köpfe rauchen, müssten sie extra viel Aktivität an den Tag legen, müssten sie besonders produktiv sein. Denn bis Ende dieses Jahres wollen die écologistes aus zwei Organisationen eine einzige machen – ein Mammutunternehmen, wie es scheint.

Die Entstehung der französischen Grünen (Les Verts) geht auf das Jahr 1984 zurück. Seitdem erlebten sie Hochphasen – bei der Europawahl 1989 kamen Les Verts auf 10,7 Prozent der Stimmen, bei der Regionalwahl 1992 auf 14,7 Prozent; von 1997 bis 2002 besetzten sie das Umweltministerium in der Regierung Jospin –, aber genauso auch Rückschläge, Einbrüche, Niederlagen – nach der Parlamentswahl 2002 beispielsweise zogen nur noch drei statt acht Grüne in die Nationalversammlung ein.

Seit Oktober 2008 sind es nun nicht mehr Les Verts allein, die in Frankreich für eine ökologische Politik stehen: In diesem Monat bildete sich Europe Écologie, eine basisnahe, dezentrale Bewegung, die sich aus Les Verts, dem Bündnis regionalistischer Kleinparteien Fédération Régions et Peuples Solidaires, diversen anderen umweltpolitischen Gruppierungen sowie Einzelpersonen zusammensetzt und den Status einer politischen Partei innehat. Den Anstoß zu dieser Sammlungsbewegung hatte Daniel Cohn-Bendit gegeben, der in Frankreich wegen seiner Rolle bei den 68er-Studentenunruhen noch immer eine große Popularität genießt und seit 1994 abwechselnd für die deutschen und die französischen Grünen im Europäischen Parlament sitzt.

Mit Europe Écologie verfolgte „Dany le Vert“, wie er in unserem Nachbarland genannt wird, das Ziel, bei der Europawahl im Juni 2009 möglichst viele Stimmen für das ökologische Lager zu gewinnen. Das Vorhaben ging auf: Die Öko-Liste kam sogleich auf 16,28 Prozent der Stimmen und konnte 14 Abgeordnete ins Europaparlament entsenden. Auch bei der Regionalwahl im März 2010 wiederholte sich das gute Abschneiden des Wahlbündnisses; die écologistes waren endgültig zur dritten politischen Kraft in Frankreich geworden, nach Konservativen und Sozialisten. Die Frage, die sich nun immer drängender stellte, lautete: Wie geht es mit Les Verts und Europe Écologie weiter? Soll eine neue Organisation gebildet werden, in der die Grünen und Europe Écologie aufgehen? Oder sollen beide Formationen – nach durchgreifenden Reformen – weiterhin nebeneinander existieren?

Gleich nach der Regionalwahl meldete sich Cohn-Bendit zu Wort, und zwar mit dem in der linksliberalen Tageszeitung Libération veröffentlichten „Appell vom 22. März“ – in Anspielung auf seinen „Appell vom 22. März 1968“, der in Frankreich die Studentenrevolte von Mai 1968 auslöste. Der junge Franzose leitete damals die größte Protestbewegung der französischen Nachkriegsgeschichte ein, als er mit etwa 300 Kommilitonen die Universität im Pariser Vorort Nanterre besetzte. 40 Jahre später sprach sich Cohn-Bendit in seinem Appell für eine baldige Verschmelzung von Grünen und Europe Écologie aus. Entstehen solle keine klassische Partei – „das ist die Welt von gestern“ –, sondern eine „politische Kooperative“.

In den folgenden Wochen wechselten sich sachliche Diskussionen über die Form der neuen Organisation und heftige emotionale Wortwechsel ab. Letztere fanden zwischen Cohn-Bendit und der Parteivorsitzenden der Grünen, Cécile Duflot, und den jeweiligen Anhängern statt. Im Gegensatz zu Cohn-Bendit, der für eine einzige Struktur plädiert, möchte Duflot Les Verts weiterentwickeln – eventuell auch unter einem anderen Namen – und neben der neuen Organisation ein informelles, offenes Netzwerk bilden, in dem diejenigen zusammenkommen, die sich nicht durch eine Mitgliedschaft binden wollen – Vorschläge, die Cohn-Bendit umgehend als „rückständig“ bezeichnete. „Ich bin dagegen, dass Europe Écologie eine Außenstelle der Grünen wird!“ – so seine mehr als deutliche Antwort. Den stellvertretenden Vorsitzenden der Grünen, Jean-Vincent Placé, bezeichnete Cohn-Bendit vor rund 500 Aktivisten gar als crétin, also als ‚Dummkopf‘. „In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die Grünen würden ihre Energien in parteiinternen Machtkämpfen vergeuden.“ Das, was der Freiburger Politikwissenschaftler Udo Kempf vor drei Jahren zu Les Verts festhielt, traf in den letzten Monaten erneut auf die Führungsfiguren ökologischer Politik in Frankreich zu.

Nachdem zahlreiche Mitglieder und Sympathisanten bereits befürchteten, die Ökologisten könnten an der Frage ihrer eigenen Zukunft zerbrechen, zogen Cohn-Bendit und Duflot die Notbremse: Sie betonten ihren Willen, bis Ende 2010 eine gemeinsame Organisation zu schaffen. Inzwischen fanden nun regionale Konferenzen sowie ein nationaler Kongress statt, wo die unterschiedlichen Vorstellungen diskutiert wurden – ein greifbares Ergebnis ist dennoch bisher nicht in Sicht. Beharrungskräfte wirken, die konkurrierenden Konzepte sind zu verschieden, um sie unter einen Hut zu bringen. Die 35-jährige Duflot, die seit November 2006 den Vorsitz der Grünen innehat, greift auf eine Metapher zurück, um den derzeitigen Zustand von Les Verts und Europe Écologie zu charakterisieren: „Das, was die écologistes gerade erleben, ähnelt ein bisschen dem, was ein Kind fühlt, wenn es vom Krabbeln aus Laufen lernen muss. Es ist normal, dass so etwas Angst macht.“

Die Basis zeigt unterdessen nur wenig Interesse an den Diskussionen über die Organisationsreform. Diejenigen, die die lokalen Treffen besuchen, sind in erster Linie an der Mitarbeit in quartiersbezogenen Projekten und anderen konkreten, praktischen Aktivitäten interessiert, nicht aber an endlosen Debatten über die zukünftige Struktur der écologistes. Auch unter dem Führungspersonal gibt es bereits Unmut über den eingeschlagenen Weg. Jean-Louis Roumégas beispielsweise, der nationale Sprecher der Grünen, rief die écologistes dazu auf, nicht zu vergessen, über Inhalte zu diskutieren: „Der Zusammenschluss Europe Écologie ist im Zusammenhang mit einer konkreten Wahl entstanden. Heute, besonders mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 2012, sollten wir zuerst unser Projekt erarbeiten und erst dann über die Strukturierung sprechen.“

Eine richtungsweisende Entscheidung über die neue Ausrichtung von Grünen und Europe Écologie soll trotzdem bei einer sogenannten „Konsens-Konferenz“ fallen, die für den Spätsommer/Herbst dieses Jahres vorgesehen ist. Vorher, vom 19. bis 21. August, findet noch die traditionelle „Sommeruniversität“ der écologistes statt, deren Debatten und Workshops, so die Hoffnung, dem Formierungsprozess Impulse verleihen. Für November 2010 ist schließlich ein „Konstituierungskongress der politischen Ökologie“ geplant, auf dem die Gründung der neuen Bewegung vollzogen werden soll.

Der bereits zitierte Politologe Udo Kempf fasste 2007 die bisherige Entwicklung der grünen politischen Bewegungen in Frankreich wie folgt zusammen: „Die relativ junge Geschichte der französischen Umweltparteien ist gekennzeichnet von ständigen Gründungen, Auflösungen, Neugründungen, Abspaltungen, Zusammenschlüssen, Wahlbündnissen, separaten Kandidaturen und Animositäten ihrer bekanntesten Sprecher.“ Dass die französischen écologistes derart chaotisch und zerstritten weitermachen, ist unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Sicher ist nur: Nach der Rückkehr aus der Sommerpause – in Frankreich als la rentrée bekannt – wartet noch viel Arbeit auf das ökologische Lager.

Teresa Nentwig ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Politische Führung im deutschen Föderalismus – Die Ministerpräsidenten Niedersachsens„. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit der politischen Lage in Frankreich.