Männlich, 20 Jahre, Abitur – und tief verunsichert

[kommentiert]: Franz Walter über Lage der jungen Männer. Leicht haben sie es, so der Autor, jedenfalls nicht.

Der Frauenförderungsplan ist gewissermaßen die Chiffre schlechthin für die Emanzipationsfortschrittlichkeit der 1970er und 1980er Jahre. Mittlerweile aber wären vielleicht Förderungsprojekte für junge Männer angeraten; zumindest fühlen sich die heute 20-Jährigen männlichen Geschlechts mit Abitur denkbar verunsichert. Denn junge Männer – so zeigen es etliche Expertisen – trauen der Zukunft nicht.

Bei ihnen grassiert die Angst davor, sich falsch zu entscheiden; es kursiert die Furcht vor dem Scheitern. Seit der Oberstufenzeit werden sie von Lehrern und Eltern gemahnt, an gute Noten zu denken, ein beruflich aussichtsreiches Studienfach auszuwählen, nicht – wie ganze Studentengenerationen vor ihnen – schweifend nach Erkenntnis und auch ein bisschen trinkseligem Lebensgenuss zu suchen, sondern ohne Verzug zielstrebig den Abschluss anzugehen.

Einiges davon werden auch die jungen studierenden Frauen von ihren Eltern zu hören bekommen. Doch reagieren sie darauf erkennbar gelassener, weniger bedrückt als ihre männlichen Pendants, die sich im Jahr 2010 mental auf eine Weise überfordert fühlen wie selten zuvor in den zurückliegenden Jahrzehnten. In der Tat: Die Erwartungen, die an sie gerichtet werden, sind gewachsen, sind vor allem erheblich widersprüchlicher geworden. Und für die neue Heterogenität nicht ganz leicht kombinierbarer Rollen fehlen noch die orientierenden Maßstäbe. So wächst sich bei den 20-Jährigen männlichen Geschlechts eine spezifische Bangigkeit fast schon zum Trauma aus: Sie halten es für möglich, mit größten Anstrengungen zwar sämtliche an sie gerichteten Erwartungen zu realisieren – am Ende aber doch als Gescheiterte dazustehen.

Die Paranoia des Scheiterns bezieht sich dabei keineswegs allein auf die Berufsperspektive, sondern in erheblichem Maße auf das Verhältnis zu den gleichaltrigen Frauen. Die 20-jährigen Männer tragen nach wie vor am Anspruch, künftig als Haupternährer der Familie zu agieren, Karriere machen, in einer unsentimentalen Leistungsgesellschaft sich mit Härte durchzusetzen zu müssen. Zugleich aber wissen sie, dass ihre (potentiellen) Partnerinnen zudem andere Eigenschaften und Verhaltensweisen von ihnen verlangen. So sollen sie später die Familie nicht dem Beruf unterordnen, sollen natürlich in gleichen Teilen wie die Frau am Haushalt mitwirken, sollen sich gleichverantwortlich um Aufzucht und Erziehung der Kinder kümmern, haben einfühlsame Problemversteher und aufmerksame Zuhörer zu sein.

Den 20-jährigen Männern bereiten die disparaten Rollenanforderungen erkennbar die größten Probleme. Denn schließlich: Ein bisschen haben sie auch weiterhin Machos, vorpreschend und tough zu sein, nach überlieferter Art auf die Jagd um die Beute gehen; doch sollen sie ebenso Zartheit zeigen, Empathie beweisen, dabei aber nicht zu sehr in die Betroffenheitsattitüde des „Müslisofties“ verfallen. Man(n) hat als Ass im unerbittlichen Wettbewerb der Karrieren den Rivalen rüde aus dem Feld zu schlagen; zugleich aber auch als Vorbild am Wickeltisch sowie bei den Kindern als phantasievoller Erzähler von Märchen zu überzeugen. Und selbst wenn sie all diese Rollen virtuos miteinander kombinieren, könnten sie – so die tiefsitzende Grundbesorgnis der 20-jährigen Männer – am Ende dann doch von ihrer (künftigen) Partnerin die Koffer in die Hand gedrückt bekommen.

Junge Männer haben infolgedessen nicht mehr den Eindruck, dass sie die souveränen Autoren ihrer eigenen Biografie sind. Andere, so empfinden sie es bedrückt, schreiben und definieren ihnen ihre Rolle für das Drehbuch des Lebens. Und den jungen Männern zu Beginn des Studiums fehlt die frühere gymnasiale „Clique“, welche Peer Group, Netzwerk, Refugium war, ihnen Halt bot, für Stabilität und Orientierung sorgte. Doch das Netz überdauerte die Zeit nach dem Oberschulabschluss nicht. Der Zusammenhang zerfiel, die Freunde aus der Pubertät agieren nun als Einzelkämpfer, jeder für sich verzweifelt darum bemüht, den eigenen Weg zu finden, sich im wilden Gerangel um Positionen und Geltung zu behaupten.

Etliche junge Männer ziehen sich im Zuge dieser Entwicklung mutlos und ängstlich aus den öffentlichen Prozessen zurück. In Japan wird dieses Phänomen des jung-männlichen Eskapismus als „Hikikomori“ bezeichnet. Dort wird es mittlerweile als besorgniserregende Pathologie entstrukturierter Gesellschaften behandelt, in denen individuelle Fehlentscheidungen nicht mehr durch traditionsgestiftete Vergemeinschaftungen und Loyalitäten aufgefangen und in ihren Folgen abgemildert werden, was gerade jungen Männern, die untergründig noch die klassischen Bilder und verantwortungsschweren Leiterwartungen in sich tragen, schwer zu schaffen macht.

Man mag über solcherlei Leidenssyndrome den Kopf schütteln, auch spotten. Aber in der Befindlichkeit dieser Gruppe deuten sich Schlüsselprobleme des 21. Jahrhunderts an: Die Vermehrung individueller Optionen bedeutet stets auch die Multiplikation von individuell zu ertragenden Irrtümern und Fehlgriffen. Großartige Chancen werden mit verheerend verpassten Gelegenheiten korrelieren. Und: Es produziert bei jungen Männern „vielfach Unbehagen, dass sich in der öffentlichen Debatte meist Frauen zu Wort melden, die Männern sagen, was Männern fehlt, was deren Lasten sind (ein Held sein müssen!), welche Bedürfnisse zu kurz kommen und in welcher Weise sie sich verändern sollten. Das wird als Fremdbestimmung empfunden und hat bei einem erheblichen  Teil der Männer den Effekt, dass sie trotzig und passiv verharren, wartend darauf, was die Frauen sich für sie noch so alles ausdenken. Hier reproduziert sich das traditionelle Verhaltensmuster auf neuem Terrain: Die traditionelle Frau suchte ihrem Mann zum Ankleiden Hose, Hemd und Socken raus – und der Mann entschied letztlich autonom. Heute nehmen viele Männer die von Frauen formulierten Vorlagen wahr, überlassen den Frauen das Terrain der Entwürfe – und entscheiden, was sie davon annehmen und was nicht. Groß ist derzeit die Gefahr, dass Männer angesichts der Ambivalenzen und Risiken in Passivität verharren oder in Larmoyanz versinken.“ (Carsten Wippermann u.a.)

Franz Walter ist Leiter des Göttinger Instituts für Demokratieforschung.