Linke Volkspartei: Wunschtraum oder Vorbild für Europa?

[analysiert]: Andreas Wagner über die wiederkehrende Idee einer progressiven Volkspartei in den Niederlanden

Die niederländische Linke war eigentlich mit großen Ambitionen in den letzten Kammerwahlkampf 2010 gestartet: Bei der Frage nach dem Afghanistanabzug hatte man die Koalition platzen gelassen und so gegenüber dem unbeliebt gewordenen christdemokratischen Koalitionspartner Kompromisslosigkeit bewiesen. Der Traum von einer erstarkten Linken in den Niederlanden schien beinahe erfüllt.In den Wochen vor der Wahl konnte man mit insgesamt vier linksgerichteten Parteien Wahlkampf gegen Geert Wilders, einen der umstrittensten Politiker Westeuropas, betreiben, und exzellent politische Alternativen zu dessen rechtspopulistischem und islamkritischen Programm aufzeigen. Allerdings, Nutzen aus dieser Anfangseuphorie konnte die niederländische Linke nicht ziehen: Keine Partei ist in der jetzigen Regierungskoalition vertreten, stattdessen verlor die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) in Umfragen alleine fast zehn Prozent, insgesamt kommen die vier Parteien derzeit auf nurmehr vierzig Prozent. Infolgedessen entwickelten sich zwangsläufig Krisendiskussionen, in denen insbesondere bei den Sozialdemokraten die alte Vorstellung der Bildung einer progressiven Volkspartei auf der linken Seite des Parteiensystems wieder aufgegriffen wurde.

Diese Idee ist keineswegs neu. Bereits gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gewann die  Vorstellung eines linken Zusammenschlusses in den Niederlanden an Attraktivität, als Planungen für einen doorbrak, einen parteipolitischen Durchbruch, Gestalt annahmen, der die problematische Unübersichtlichkeit einer nach Konfessionen zersplitterten Parteienlandschaft überwinden sollte. So sollte eine auf einem sozialdemokratischen Programm basierende Partei entstehen, in der Wähler aller Konfessionen eine politische Heimat finden konnten. Doch das anfänglich integrative Bemühen der Sozialdemokratie wurde dadurch konterkariert, dass sich die konfessionell noch weitgehend stabilen Niederlanden erneut je nach konfessioneller Prägung der katholischen, den protestantischen oder den liberal-säkularen Parteien anschlossen.

In den 1970er Jahren, als die Wählerdynamik die Kräfteverhältnisse in der niederländischen Parteienlandschaft grundlegend zu verändern drohte, gewann der Gedanke einer linken Volkspartei neu an Dynamik. Unter Dominanz des Erneuerungsflügels Nieuw Links, Neu-Links, schloss sich die sozialdemokratische PvdA mit den sozial-liberalen Democraten ’66 und der christlichen Partij Politieke Radikalen in einer Allianz mit eigenem Wahlprogramm zusammen, die Progressiver Akkord (PAK) genannt wurde. Dieses Bündnis war in den ersten Wahlen der 1970er Jahre zunächst nur fähig, ein Drittel der abgegebenen Stimmen zu holen und damit außerstande, das bereits vorgestellte Schattenkabinett Wirklichkeit werden zu lassen.

1972 aber gelang mit einer erneuten Listenverbindung und dem Wahlprogramm Keerpunt ’72, das sich für eine umfangreiche Umverteilungspolitik einsetzte und zu einer Neuausrichtung in der Außen- und Sicherheitspolitik aufrief, doch noch der Erfolg. Zusammen mit geschwächten Katholiken und Liberalen formte man nun eine Koalition, konnte den neu gewonnenen linken Einfluss aber insbesondere aufgrund von Stimmenverlusten der kleineren Parteien 1977 nicht fortsetzen.

Als in der jüngeren Vergangenheit die sozialdemokratische Integrationskraft nachließ und die ursprünglichen Kleinstparteien den Sozialdemokraten auf Mitglieder- und Wählerebene immer näherrückten, keimte die Debatte um die Bildung einer progressiven Volkspartei erneut auf. Der jetzige sozialdemokratische Spitzenkandidat Job Cohen, damals noch Amsterdamer Bürgermeister, sprach sich für eine solche Verbindung aus, die ihm zufolge in einer polarisierten und mediatisierten Welt der Politik durchaus ihre Vorzüge hätte. Zweifellos besäße eine solche Fusion vor allem für die PvdA den großen Vorteil, sich die zuweilen lästigen und selbstbewusst auftretenden Sozialisten anzueignen und gleichzeitig durch die Annexion von GroenLinks die grünen, urbanen Mittelschichten zu erreichen.

Auch wenn der profilierte Politologe und frühere sozialdemokratische Parteivorsitzende Ruud Koole bemerkte, man könne „mit drei Fischernetzen mehr fangen als nur mit einem“, die Idee scheint mittlerweile schlichtweg zu verlockend: Trotz Öffnung der Partei für Außenstehende, erweiterten Partizipationsrechten für bestehende Mitglieder und der Zusammenarbeit mit intermediären Organisationen scheitert die Partei mit ihren Versuchen, sich von ihrem Regentennimbus zu lösen und die Bindungen zur Gesellschaft wieder zu stärken. Es vermag ihr nicht gelingen, entscheidende Zugewinne etwa bei Jungwählern, Geringverdienern oder Niedriggebildeten zu verzeichnen, den traditionellen sozialdemokratischen Zielgruppen also, bei denen die PvdA allenfalls durchschnittlich abschneidet.

Sollten die Sozialdemokraten weiter im Stimmungstief von gegenwärtig knapp über zehn Prozent verharren und dadurch die Fusionsidee besonders in der Parteiführung an Attraktivität gewinnen, dann müssten allein die Forderungen und Widerstände aus den übrigen Parteien ausgeräumt werden. Dass diese jedoch nicht allzu hoch ausfallen dürften, zeigen die kämpferischen Aussagen der neuen Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Jolande Sap. Diese hatte beteuert, bei einer solchen Fusion nicht wählerisch zu sein, sogar, wenn dies einen langwierigen Prozess bedeute. Sie stellte auch ein gemeinsames Wahlprogramm oder gar ein Schattenkabinett der künftigen Fusionsparteien in Aussicht – womöglich bereits zur nächsten Parlamentswahl.

Bis in die Gegenwart haftete diesem Wagnis jedoch noch keine wirkliche Anziehungskraft an – trotz zahlreicher sozialdemokratischer Listenverbindungen mit anderen linken Parteien wie etwa GroenLinks, SP, D66 oder auch der kommunistischen Partei auf lokaler oder gar europäischer Ebene. Bei all der der umfangreichen Zusammenarbeit steht jedoch eines fest: Die niederländische Linke besaß zu keiner Zeit in den letzten 150 Jahren der niederländischen Parteiengeschichte eine parlamentarische Mehrheit.

Die derzeit in Frage kommenden Parteien verfügen allesamt über unterschiedliche Ursprünge, verschiedene Zielgruppen und auch erheblich voneinander abweichende Parteiprofile. Und doch haben Parteifusionen wie etwa von Kommunisten und Christen zu GroenLinks oder Katholiken und Protestanten zum Christen Democratisch Appèl bereits gezeigt, dass solche Verbindungen durchaus erfolgreich verlaufen können. In der Unterschiedlichkeit der jetzigen Gesprächspartner mag insofern der Schlüssel für erfolgreiches Zustandekommen und Bestand einer derartigen Liaison liegen.

Der ehemalige sozialdemokratische Spitzenkandidat Wouter Bos prophezeit trotz aller Vorbehalte gegenüber diesem Unterfangen bereits 2003, dass seine Partei innerhalb eines Zeitraumes von acht Jahren in einer „breiten progressiven Volkspartei“ aufgegangen sein werde. Sollte Bos recht behalten, so bleibt den niederländischen Linken nicht mehr viel Zeit.

Andreas Wagner ist wissenschaftliche Hilfskraft im Projekt „Diesseits von Versäulung, Lagern und sozialmoralischen Milieus“.