[kommentiert]: Sebastian Kohlmann kommentiert, warum Sigmar Gabriel auf den Spuren von Guido Westerwelle wandelt.
„Ihre Politik der kleinen Schritte ist zu einer Politik der eingeschlafenen Füße geworden“, ruft der Oppositionsführer in den Plenarsaal. „Sie haben nicht gesagt, wo Deutschland morgen stehen soll“, sagt er dann. Ein Jahr zuvor motiviert er seine Mitglieder mit Worten wie: „Hier steht die Freiheitsstatue der Politik“. Über die Kanzlerin schimpft er: „Eine Miss Germany ist gefragt, keine Miss World“. „Weniger Neid, mehr Anerkennung braucht Deutschland“, heißt es weiter. Nein, es ist nicht Sigmar Gabriel, der da spricht, es ist Guido Westerwelle – in seiner besten Rolle: die des oppositionellen Dampfplauderers der Jahre 2007 und 2008.
Die Aussagen sind beliebig, ja austauschbar.
Oppositionspolitiker haben häufig die Eigenschaft, sich durch eine zugespitzte Rhetorik in die Medien zu katapultieren. FDP-Chef Guido Westerwelle gelang das immer wieder. Heute übernimmt SPD-Chef Sigmar Gabriel diese Rolle. Zum Beispiel im Zusammenhang mit zu Guttenbergs Afghanistan-Reise im Dezember 2010, bei der dieser seine Frau Stephanie mitnahm. Gabriel brachte sich einmal mehr ins Gespräch und kritisierte: „Ich halte das für absolut unangemessen. Ich finde, Frau Katzenberger fehlt noch“. Es sind Sätze mit dem Hang zum Überdrehten, zum Überdehnten und zum Unseriösen.
Wie beim frühen Westerwelle tritt heute auch bei Gabriel dasselbe Problem auf: Zwar können beide mit derlei Worten, die teils ins Populistische gehen, ihre Reihen für kurze Zeit schließen. Doch kommt keine Partei langfristig ohne klare inhaltliche Strukturen aus, möchte sie erfolgreich sein. Es geht um ein langfristiges Konzept, nicht nur um ein rhetorisches Feuerwerk. Das ist bei dem führenden Sozialdemokraten und dem (einst) führenden Liberalen nicht der Fall. Der kurzfristige Erfolg, das Schulterklopfen im Zuge gelungener Pointen scheint über allem zu stehen – oder besser: Sie können nichts anderes. Auch deshalb ist Westerwelle in der Außenpolitik (noch) nicht angekommen und wollte mit seiner „spätrömischen Dekadenz“ schon bald wieder in die Innenpolitik. Bei Gabriel ist das nicht anders.
Doch: In der Politik braucht es mehr als nur Rhetorik. Diese ist ein wichtiges Feld im Dreieck aus Öffentlichkeit, Politikern und Medien, aber sie ist nicht alles. So kommt es auch heute nicht von ungefähr, dass man eher Frank-Walter Steinmeier als Gabriel zuhört, ernst nimmt und abklopft, ob nicht doch eine inhaltliche Note gesetzt wird. Bei der FDP nahm diesen (Konter-)Part einst Wolfgang Gerhardt ein, der in inhaltlichen Fragen auch lange nach seinem Abgang mehr Gehör als Westerwelle mit seiner überdrehten Rhetorik fand. Die Rhetorik wird bei diesem Politikertypus zum Nebenschauplatz, zum I-Punkt auf den inhaltlichen Entwurf.
„Der Fisch stinkt vom Kopf her“, sagte einmal Andrea Nahles, ebenfalls eine „Dampfplaudererin“. Der Satz trifft auf Gabriel wie Westerwelle gleichermaßen zu. Beide produzieren sie Rhetorik für den Moment, aber keine Rhetorik der Antworten, ja der Beständigkeit. Sie verkörpern die besseren Sprüche, doch Inhalte scheinen ihnen fremd. Ihr einziges Ziel: die Regierungsbeteiligung. Sowohl bei Gabriel als auch bei Westerwelle weiß man nicht, worum es ihnen sonst geht. Eben dieser Wille zum Regieren, die Hoffnung, mit dieser Rhetorik in die Regierung zu kommen, hält die Mitglieder meist zusammen – und nicht die Liebe zum Parteivorsitzenden. Dieser wird als notwendiges Übel akzeptiert und das Fehlen an Inhalten ausgeblendet.
Bei Westerwelle wurde nach seinem Wechsel auf die Regierungsbank schnell klar: Da sitzt ein Oppositionspolitiker, der sich im engen Rahmen der Regierungspolitik unwohl fühlt. Bei Gabriel wird dies schon zu Oppositionszeiten deutlich. Zu häufig hat er sich verrannt, zu häufig hatten seine Worte nicht einmal eine Stunde Bestand. So legte er Thilo Sarrazin eines Morgens im September 2010 nahe, seine Äußerungen zu einem Gen, das sich „alle Juden teilen“ ürden, zurückzunehmen, damit er, Gabriel, ein Parteiausschlussverfahren noch aufhalten könne. Nur eine halbe Stunde später beschloss der Oppositionsführer ein eben solches im Präsidium. Bei den Griechenland-Hilfen Mitte desselben Jahres verhedderte er sich gleichfalls in seiner sprunghaften Rhetorik.
Diese Momente sind dann die Stunden der Gerhardts und Steinmeiers. Wenn es der FDP im vergangenen Jahrzehnt schlecht ging, war es häufig Gerhardt, der mit einem seriösen Ratschlag zur Stelle war. Dort, wo Gabriel sich verrannt hat, führt Steinmeier die Debatte wieder auf den geraden Weg zurück. Dies sind die Momente der ernsthaften, manchmal langweilig wirkenden, aber mit Inhalten aufwartenden Politiker. Für die Wähler und beim Parteimitglied stellen sie einen sicheren, beständigen Pol dar. Ihre Aussagen haben häufig auch nach Wochen, Monaten oder Jahren Bestand. Auch deswegen wirken Steinmeiers Reden im Bundestag heute staatstragend, während jene von Gabriel nicht aus den oppositionellen Kinderschuhen herausgekommen sind.
Bei alledem gibt es auch Politiker, die beides miteinander vereinen können und konnten – so etwa Wolfgang Schäuble oder Joschka Fischer. Letzterer verstand es, rhetorisch brillant auf der einen, inhaltlich stark auf der anderen Seite aufzutrumpfen. Er ist heute nach wie vor gefragt und angesehen, sein Name wird hoch gehandelt, etwa wenn es um den zukünftigen EU-Außenminister (2009) oder einen nächsten Bundespräsidenten geht (2010) – anders etwa als sein früherer Chef Gerhard Schröder, der mit seiner Sprunghaftigkeit nicht dauerhaft überzeugte. Oder eben anders als Westerwelle.
Auch deswegen muss die SPD aufpassen, dass ihr mit Gabriel nicht das gleiche Schicksal bevorsteht wie der FDP heute mit Westerwelle: dass sie einen sozialdemokratischen Westerwelle als Kanzler oder Vizekanzler bekommt, der sich mit einem Mal in der Regierungspolitik wieder-, jedoch nicht zurechtfindet – und der Inhalte nicht zu verkörpern gelernt hat.
Sebastian Kohlmann ist wissenschaftliche Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.