Liberales „Lebensgefühl“

Beitrag verfasst von: Michael Freckmann

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[analysiert]: Michael Freckmann über die Wähleransprache der FDP

Auf Länderebene klappt es wieder, so scheint es. In Kiel hat die FDP ein starkes Ergebnis geholt und für die Wahl in Nordrhein-Westfalen am kommenden Sonntag lässt sich Ähnliches erwarten. Im Bund sieht die Situation jedoch anders aus: Sicher, während noch 2014 nur jeder Vierte die FDP im Bundesparlament vermisste,[1] sind es derzeit beinahe fünfzig Prozent, die einen Wiedereinzug der Freidemokraten in den Bundestag grundsätzlich begrüßen würden.[2] Allein, eine verlässliche Wahlabsicht bedeutet dies noch längst nicht. In Umfragen steht die Partei jedenfalls gegenwärtig bei sechs bis sieben Prozent, und die Bundestagswahl ist erst in vier Monaten.[3] Manches aber hat sich in der Partei verändert seit der letzten Bundestagswahl – auch über den magentafarbenen Anstrich hinaus. Die FDP, so scheint es, ist auf der Suche nach einer neuen Sprache. Wie sieht ihre aktuelle Wähleransprache aus?

Ein Blick zurück: Bis zur vergangenen Bundestagswahl war die FDP typischerweise die Partei der Zahnärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Architekten gewesen. Während der Postmaterialismus bei den Grünen verortet wurde, galten die Gelben eher als Vertreter der Materialisten. Laut Parteichef Christian Lindner sei für eine Wahlentscheidung zugunsten der FDP mittlerweile aber nicht mehr „Einkommen oder Beruf oder Geschlecht“ entscheidend, sondern es gehe um ein „Lebensgefühl“, um das „Gefühl der Unabhängigkeit“ „und die Vorfreude auf das, was jetzt noch alles kommen kann“.[4]

Dies basiere auf einem Menschenbild, das nicht davon ausgehe, dass der Mensch „schwach und anleitungsbedürftig ist, so wie das die politische Linke glaubt und deshalb die Menschen mit Stützrädern ausstatten will. Wir glauben andererseits auch nicht wie die Konservativen, dass der Mensch böse und verführbar ist, weswegen es fortwährend nur um Law and Order gehen kann“[5], trägt Lindner in seinem teils polemischen, nach vorn drängenden Tonfall vor. Zentral sei die Frage: „Will ich mein Leben als Erwachsener führen oder brauche ich einen erhobenen Zeigefinger, der mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe?“[6] FDP-Generalsekretärin Nicola Beer geht noch weiter und hat auf dem Bundesparteitag vergangener Woche gar von einer „Vision für die Zukunft der Gesellschaft“, welche die FDP entwerfen wolle, gesprochen. Wichtig sei, die „Welt von morgen und übermorgen neu zu denken“.

Allein: Sozialstrukturell hat sich bei den vergangenen, und für die Partei erfolgreichen, Wahlen wenig verändert. Mit Blick auf die Berufe votieren nach wie vor Selbstständige überproportional für die FDP. Da diese Gruppe in der Gesamtgesellschaft aber mit ca. zehn Prozent einen sehr geringen Anteil ausmacht, reicht selbst eine Steigerung des Wähleranteils in diesem Segment bei Weitem nicht aus, um im Bund auf fünf Prozent zu kommen. Zudem werden die Freien Demokraten besonders seit 2015 sehr stark von den über 60-Jährigen gewählt – also in der Generation von Wolfgang Kubicki und Wolfgang Gerhardt. Zwar gibt es auch in der Altersgruppe von Christian Lindner oder der Spitzenkandidatinnen ihrer jeweiligen Landtagswahlen im Jahr 2015 – Katja Suding (Hamburg) und Lencke Steiner (Bremen) – Zuwächse; die generelle Wahlneigung, aber auch die Wahlabsicht für die FDP sind in den jungen Generationen jedoch noch merklich unterrepräsentiert. Der FDP wird es also darum gehen müssen, weitere Wählergruppen anzusprechen. Genau darauf zielt der aktuelle Auftritt – der Appell an Eigenständigkeit für den Einzelnen und an das große Ganze, die Vision einer Gesellschaft nach liberalen Grundsätzen – ab.

An dieser Form der Ansprache zeigt sich ein strukturelles Dilemma liberaler Parteipolitik. So bemerkte schon Ralf Dahrendorf, einer der letzten großen Intellektuellen aus den Reihen der Liberalen, im Jahr 1983: „Liberale sollten sich keinen falschen Hoffnungen hingeben. Große gesellschaftliche Gruppen, die in ihrer Mehrheit eine liberale Politik nicht nur sonntags befürworten, sondern mit ihrer Stimme unterstützen, gibt es nicht.“ Vielmehr gelte es, das für liberale Inhalte Empfängliche, das bei vielen Menschen vorhanden sei, anzusprechen. „Das Allerschlimmste, was Liberale daher tun können, ist, Interessentenpolitik zu betreiben“. Solche Wähler seien immer wieder neu zu gewinnen und daher leicht zu verlieren.[8] Das hat die Partei in ihrer Geschichte oft gespürt, zuletzt seit 2011.[9]

Die breite Wähleransprache gestaltet sich für die Partei jedenfalls als langwieriger Balanceakt und fragiler Prozess. Und so richtet sich die Lindner-FDP nun in der Nachfolge von Westerwelles „vergessener Mitte“[10] an die „ungeduldige Mitte“. Wenn Lindner davon spricht, dass man den einzelnen Menschen zum „Architekten seines Lebens machen“[11] wolle, wird daran deutlich, dass für die Partei nach wie vor der „bürgerliche Kern des modernen Versprechens der Inklusion aller, die guten Willens sind“ (Heinz Bude), durch die Bereitschaft zum „Selbstbestimmungswillen“ zentral ist, der allerdings zuletzt in der sogenannten bürgerlichen Mitte auch durch zunehmende Abstiegsängste teils infrage gestellt worden ist[12].

Die Partei begibt sich somit in den Wettbewerb um die „hart arbeitende Mitte“ von Martin Schulz und „die Mitte“ der CDU. Der Bezug zur „Mitte“ meint jedoch jeweils für die einzelnen Parteien immer andere Gruppen. Für die FDP heißt die Hinwendung zu einer breiten Mitte v.a.: weg von dem Anschein der Klientelpolitik. Für Lindners FDP dürfte dies neben der Start-Up-Szene auch alte Bekannte umfassen, etwa den gewerblichen Mittelstand, die mit der SPD stark umkämpften leitenden Angestellten und Facharbeiter sowie die Beamtenschaft. Auch das arrivierte Bürgertum soll umworben werden, wenn Lindner bspw. vor dem Publikum der „ZEIT-Matinee“ seinen Liberalismusbegriff mit Bezug auf Hegel erklärt.[13]

So könnte die FDP mit der zunächst einmal mindestens rhetorischen Richstungsänderung weg von der rein materiellen Ansprache neue und alte Wählerstimmen gewinnen. Daneben versucht sie, sich thematisch breiter aufzustellen und inhaltlich zu mobilisieren, etwa mit einer Kritik an der Merkel-CDU oder an der Großen Koalition aus wirtschaftlicher oder flüchtlingspolitischer Perspektive, darüber hinaus mit der Abwehr von Autoritärem, verkörpert in der AfD. Hierbei bewegt sich die FDP im Spannungsfeld zwischen einerseits allzu konkreten Inhalten und möglicherweise zu harscher Rhetorik, die Teile der angepeilten Wählergruppen wieder abschrecken, und andererseits v.a. der Frage, ob ein diffuses „Lebensgefühl“ verschiedene Lebenswelten vereinen und tatsächlich für eine Wahl mobilisieren kann. Ob der FDP gelingt, eine solche Koalition aus verschiedenen Wählergruppen in ausreichender Stärke zusammenzubekommen, wird sich nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen am 14. Mai 2017 mit Blick auf den Bund zeigen müssen.

Michael Freckmann arbeitet als studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.

[1] O.V.: Umfrage: Bürger vermissen FDP im Bundestag, URL: http://www.rp-online.de/politik/umfrage-buerger-vermissen-fdp-im-bundestag-aid-1.4032169 [eingesehen am 05.05.2017].

[2] ZDF Politbarometer 28.04.2017, URL: https://www.zdf.de/politik/politbarometer/spd-verliert-merkel-deutlich-vor-schulz-100.html [05.05.2017].

[3] Nachzulesen auf: http://www.wahlrecht.de [05.05.2017].

[4] Lindner, Christian: Rede bei der Dreikönigskundgebung, 06.01.2015.

[5] Lindner, Christian: Rede auf dem Bundesparteitag 2017, 30.04.2017.

[6] FDP NRW: Lindner, Christian: Liberales Lebensgefühl, URL: https://www.youtube.com/watch?v=1IRD6uiEs9o [eingesehen am 05.05.2017].

[7] Beer, Nicola: Rede auf dem Bundesparteitag 2017, 31.04.2017, URL: https://www.youtube.com/watch?v=dendNgFw5dw [eingesehen am 05.05.2017].

[8] Dahrendorf, Ralf: Die Chancen der Krise: Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 209 ff.

[9] Walter, Franz: Gelb oder Grün. Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 60 ff.

[10] Reimann, Anna: FDP-Dreikönigstreffen: Westerwelle sucht die vergessene Mitte, Spiegel Online, 06.01.2007, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fdp-dreikoenigstreffen-westerwelle-sucht-die-vergessene-mitte-a-458093.html [eingesehen am 11.05.2017].

[11] Lindner, Christian: Rede auf dem Bundesparteitag 2017, 30.04.2017.

[12] Bude, Heinz: Das Unbehagen in der bürgerlichen Mitte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 49/2014, S. 44–48.

[13] O.V.: „Aus der Willkommenskanzlerin ist eine Abschiebekanzlerin geworden“, ZEIT-Matinee, in: Zeit Online, 27.02.2017, URL: http://www.zeit.de/video/2017-02/5339131115001/hamburg-aus-der-willkommenskanzlerin-ist-eine-abschiebekanzlerin-geworden [eingesehen am 11.05.2017].