[debattiert]: Marius Becker mit einem Vorschlag für eine bessere institutionelle Integration in das politische System der Bundesrepublik?
„Der Islam“ in Deutschland, sofern man überhaupt von einem Islam sprechen kann, steht seit 2015 im Mittelpunkt intensiver Debatten. Nicht erst durch die „Flüchtlingskrise“ geriet der Islam abermals in den Fokus der medialen Öffentlichkeit, wurde über eine „richtige“ Integration der meist muslimischen Einwanderer gesprochen und kontrovers diskutiert. Allein, so umstritten die Formen, der Umfang und die Ziele einer gelungenen Integration waren und weiterhin sind, so offen, unterschiedlich und umkämpft sind die Vorstellungen davon, wie es um die aufnehmende Gesellschaft eigentlich beschaffen sein sollte. So hat auch die Debatte um den Begriff der „Leitkultur“ in den letzten Jahren merklich an Konjunktur und Schärfe gewonnen. Überdies hat diese Debatte mit der Alternative für Deutschland (AfD), die mit einem islamskeptischen und auch -feindlichen Programm zur Bundestagswahl antritt und sich den Satz: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“, in den Programmentwurf zur Bundestagswahl geschrieben hat,[1] direkten Eingang in den aufkommenden Bundestagswahlkampf gefunden. Der Islam braucht daher gerade jetzt eine neben dem Christen- und Judentum gleichberechtigt starke Stellung als religiöser Interessenverband in der deutschen Politik. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Entscheidend dabei ist, dass die Muslime auf politischer Ebene in diesen Debatten über keine zentrale Vertretung ihrer Interessen verfügen – diese werden stattdessen von vielen Einzelverbänden artikuliert, was für den Islam in Deutschland ein diskursives Problem darstellt. Die jüngsten Konfrontationen zwischen Europa und der Türkei illustrieren dies: So wurde der größte deutsche Moscheeverband DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) nicht zuletzt vor dem Hintergrund der erfolgreichen Verfassungsreform durch Präsident Recep Tayyip Erdoğan von hochrangigen Bundespolitikern wie Thomas de Maizière[2] aufgrund seiner Abhängigkeit vom türkischen Staat unter Erdoğan kritisiert. Hierzulande gibt es keinen unabhängigen und zentralen Dachverband des muslimischen Glaubens, der in den Islamdebatten einheitlich Position beziehen könnte und sich etwa von ausländischer Einflussnahme wie bei DITIB schützen könnte.
Derzeit sind es vor allem die Gegner eines liberal-säkularen Islam, von denen die Debatten um eine Religion, der in Deutschland immerhin fast 4,5 Millionen Menschen angehören,[3] bestimmt werden – islamistische Terroranschläge in den USA und Europa vom 11. September 2001 bis zum 19. Dezember 2016 am Berliner Breitscheidplatz und die unmittelbare Gegenwart beschädigen den Ruf des Islam als Religion insgesamt, was in Deutschland von der AfD oder der Protestbewegung „PEGIDA“ im Rahmen ihrer Kritik an politischen Phänomenen wie der „Flüchtlingskrise“ als angeblicher Islamisierung Deutschlands aufgegriffen wird.
Darüber hinaus wäre für die Integration der überwiegend muslimischen Flüchtlinge seit 2015 eine Intensivierung des Dialogs zwischen staatlichen Stellen und Islam-Vertretern wichtig und hilfreich. Zwar gibt es hierzulande bereits Austauschformate wie die Deutsche Islamkonferenz[4] sowie Flüchtlings- und Integrationsgipfel; eine von der Politik dauerhaft ansprechbare Vertretung der Mehrheit der Muslime könnte jedoch zu deren verbesserter Integration beitragen – neben wichtigen Bausteinen wie Sprachkursen und Eingliederungen in den Arbeitsmarkt.
Die bestehende Interessenvertretung von Muslimen ist dagegen fragmentiert und spricht nicht mit einer Stimme, verschiedene Verbände wie der Zentralrat der Muslime (ZdM) oder die DITIB ringen erfolglos um staatliche Anerkennung und einen Alleinvertretungsanspruch der Interessenartikulation von Muslimen. Dabei wird nur ein Bruchteil der Muslime in Deutschland von den zahlreichen bestehenden Organisationen vertreten. Die lange Zeit in Deutschland politisch intensiv einbezogene DITIB kämpft angesichts ihrer zunehmend problematisierten Abhängigkeit vom türkischen Staat in den politischen Spannungen zwischen Deutschland, der EU und der Türkei aufgrund der dortigen innenpolitischen Entwicklungen momentan gegen einen Legitimationsverlust.
Denn nach dem Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 und im Zuge des Verfassungsreferendums der vergangenen Wochen scheint die Organisation zunehmend in unmittelbarer Abhängigkeit vom türkischen Staat (siehe dazu den erläuternden Blogbeitrag von Thorsten Hasche: https://www.demokratie-goettingen.de/blog/tuerkei-autoritaerismus). Die Unterstützung von Erdoğans Wahlkampfauftritten in Deutschlanderschien vor diesem Hintergrund zunehmend problematischer – so ist die Zusammenarbeit zwischen DITIB und einigen Bundesländern beim muslimischen Religionsunterricht zuletzt größtenteils eingestellt worden[5].
Dabei steht womöglich die Zukunft von DITIB im angespannten deutsch-türkischen Verhältnis insgesamt infrage; denn die Debatte um einen angemessenen Kurs gegenüber der Türkei setzt sich auch nach dem von Erdoğan knapp gewonnenen Verfassungsreferendum[6] fort, was sich an der öffentlichen Diskussion um das Wahlverhalten der Deutschtürken im Rahmen der doppelten Staatsbürgerschaft vor der Bundestagswahl im Herbst zeigt[7]. Muslime in Deutschland sehen sich mit einer Vielzahl von Herausforderungen konfrontiert, zu deren Bewältigung eine verstärkte politische Repräsentation „des Islam“ beitragen könnte. Gewiss ist hierin noch kein Allheilmittel gegen die vielfältigen und über den Islam hinausreichenden Problemlagen gefunden; indes könnte ein Repräsentationsorgan durchaus einen wichtigen Schritt hin zu einer öffentlich wirksamen, medialen wie politischen Verständigung bedeuten.
Allzu offenkundig wird die Suche der Bundespolitik nach muslimischen Ansprechpartnern am Beispiel der Gründung der Islamkonferenz ab 2006, in deren Rahmen möglichst viele Vertreter des Islam an einen Tisch gebracht worden sind – unabhängig von der partiellen Radikalität ihrer Positionen. Die Islamkonferenz als selten tagender Kollektivakteur kann jedoch nicht mit der engen Bindung des Christen- oder Judentums an den Staat verglichen werden. Repräsentanten letzterer Religionen sind im säkularen Staat in öffentlichen, ethischen Debatten und parlamentarischen Anhörungen als religiöse Interessenvertreter eingebunden, z.B. durch Organisationen wie die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die Deutsche Bischofskonferenz oder den Zentralrat der Juden (ZdJ). Trotz aller Unterschiede und Differenzen zwischen den muslimischen Einzelverbänden, von tiefen theologisch-ideologischen Gräben ganz abgesehen, bräuchte es insbesondere eine gemeinsame Interessenvertretung des sunnitischen Islam, dem in Deutschland die Mehrheit der Gläubigen angehören.
Eine solche, umfassende Vertretung deutscher Muslime könnte wie ein Spitzenverband organisiert sein, in dem ihm untergeordnete Dachverbände, bspw. die heutigen Islamverbände, in einer föderalen Struktur fortexistieren könnten. Von den Islamverbänden in Deutschland ging 2007 bereits die Gründung des „Koordinationsrats der deutschen Muslime“ aus[8] – eines Gremiums, wie es zumindest strukturell an dieser Stelle ebenfalls angedacht ist. Der Rat wurde jedoch von den Islamverbänden selbst nur unzureichend ausgestattet: ohne Finanzbudget, mit minimalem Organisationsgrad und geringer Unabhängigkeit von den Einzelverbänden wie DITIB und ZdM, weshalb er von den politischen Akteuren nicht als gemeinsame Vertretung des Islam anerkannt, sondern als informeller Zusammenschluss der Islamverbände bewertet wurde.[9]
Durch gefestigte Strukturen, klar umrissene Aufgaben und Zuständigkeiten sowie ein festes Budget könnte demgegenüber eine neue, einheitliche Anlaufstelle für die Politik entstehen, sowohl auf Länder- wie auch auf Bundesebene – vergleichbar mit den von politischen Akteuren gut adressierbaren Christen und Juden. Die genaue theologische Ausgestaltung eines Islam, der von einer solchen Organisation vertreten werden soll, ist bei dieser Überlegung noch völlig unbestimmt. Diese Interessenvertretung müsste einen von anderen Staaten wie der Türkei unabhängigen Islam vertreten, sich programmatisch anders ausrichten als die DITIB, sich gegen Islamismus positionieren und für einen breiten interreligiösen Dialog der Weltreligionen in Deutschland eintreten.
Ein solcher, nach demokratischen Regeln arbeitender Verband wäre in der Lage, die Integration der Muslime in Deutschland zu verbessern. Liberale Strömungen im Islam wären außerdem wichtig für den interreligiösen Dialog mit Vertretern von Christen- und Judentum. Selbstverständlich kann eine solche Neugründung nicht von oben herab erfolgen, etwa durch die Politik; vielmehr müsste die Initiative von den Muslimen selbst ausgehen, wenn sie die überwiegenden Vorteile einer gemeinsamen Interessenvertretung gerade in der heutigen Zeit in Deutschland wahrnehmen wollen.
Dieser Beitrag soll daher als Appell verstanden werden, gerade in der für den Islam und die Muslime schwierigen Gegenwart die Chance, eine breite öffentliche Aufmerksamkeit zu nutzen, für eine weitere Integration der Religion – auch auf politisch-struktureller Ebene – zu streiten und die heutigen wie zukünftigen Probleme unter Mitwirkung muslimischer Vertreter zu lösen.
Marius Becker ist studentische Hilfskraft am Göttinger Institut für Demokratieforschung.
[1] AfD-Bundesvorstand: Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland (Entwurf), S. 49, URL: https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/111/2017/01/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf [eingesehen am 20.03.2017].
[2] O.V.: Islamkonferenz in Berlin. De Maizière fordert von DITIB mehr Unabhängigkeit von Türkei, in: Der Tagesspiegel, 14.03.2017, URL: http://www.tagesspiegel.de/politik/islamkonferenz-in-berlin-de-maiziere-fordert-von-ditib-mehr-unabhaengigkeit-von-tuerkei/19514272.html [eingesehen am 20.04.2017].
[3] Bundesministerium des Innern: Islam in Deutschland. Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie ,,Muslimisches Leben in Deutschland‘‘, letzter Stand vom 29.05.2013, S. 96 f., URL: http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Gesellschaft-Verfassung/Staat-Religion/Islam/islam_node.html [eingesehen am 17.01.2017].
[4] Deutsche Islamkonferenz: Über die DIK, Website der DIK, URL: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/DIK/1UeberDIK/ueberdik-node.html [eingesehen am 26.03.2017].
[5] Schaefer, Isabel/Schwietzerm, Kristin: Kein Religionsunterricht mit DITIB. Bundesländer distanzieren sich, in: Tagesschau.de, 15.08.2016, URL: https://www.tagesschau.de/inland/ditib-islam-verband-103.html [eingesehen am 20.03.2017].
[6] O.V.: Knapper Sieg für Regierungspartei. Erdogans Referendum – alle Fakten im Überblick, in: Spiegel Online, 18.04.2017, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-referendum-was-sie-zum-sieg-von-recep-tayyip-erdogan-wissen-muessen-a-1143637.html [eingesehen am 20.04.2017].
[7] Schulze, Tobias: Wahlkampf mit Doppelpass, in: die tageszeitung, 19.04.2017.
[8] Hermani, Gabriele: Die deutsche Islam-Konferenz 2006 bis 2009: Der Dialogprozess mit den Muslimen in Deutschland im öffentlichen Diskurs, Berlin 2010, S. 58 f.
[9] Ebd.