[kommentiert]: Danny Michelsen über die gestrige Wahl zum britischen Unterhaus.
Was für eine Wahlnacht – beim Guardian spricht man zu Recht von der „größten Überraschung bei einer General Election seit 1945“.[1] Den Umfragen der vergangenen Wochen und Monate zufolge war eine Fragmentierung des Parteiensystems zu erwarten gewesen, die zur Folge gehabt hätte, dass es mit ziemlicher Sicherheit zum ersten Mal nach dem Krisenjahr 1974 zur Bildung einer Minderheitsregierung gekommen wäre. Alle Institute hatten ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Tories und Labour prophezeit. Niemand, wirklich niemand hat eine derart massive Niederlage der Labour Party für möglich gehalten. Im Gegenteil standen die Zeichen eher auf Wechsel, weil es so aussah, als ob Labour unter Duldung der Scottish National Party und der Plaid Cymru am ehesten eine einigermaßen stabile Minderheitsregierung würde bilden können. Es ist ganz anders gekommen: Der Labour-Vorsitzende Ed Miliband musste – angesichts des schlechtesten Wahlergebnisses seiner Partei seit 1987 – von seinem Amt als Parteivorsitzender zurücktreten und die Tories haben die Wahl mit großem Vorsprung gewonnen; sie haben sogar eine – wenn auch knappe – absolute Mehrheit errungen, was eine Sensation ist. Ihr bisheriger Koalitionspartner, die Liberaldemokraten, konnte nicht einmal zehn seiner ursprünglich 57 Sitze halten – weshalb der ehemalige Vizepremier Nick Clegg ebenfalls seinen Parteivorsitz aufgeben musste.
Die Briten hätten bei dieser Wahl die Gelegenheit gehabt, sich eindeutig für Europa zu entscheiden – sie haben das genaue Gegenteil getan. David Cameron wird keine Probleme haben, eine Mehrheit für das von ihm für 2017 versprochene Referendum über einen Verbleib Großbritanniens zu organisieren. Seine Strategie, potentielle Überläufer zur UKIP mit der Botschaft zu ködern, dass die Wähler nur mit starken Tories an der Macht die Gelegenheit haben werden, selbst über die EU-Mitgliedschaft zu entscheiden, ist voll aufgegangen. Die UKIP hat gerade mal einen Sitz errungen – Nigel Farage, der mit seinen Kommentaren über Aids-kranke Einwanderer beim ersten TV-Duell einen neuen moralischen Tiefpunkt erreicht hatte, ist mit seiner eigenen Kandidatur knapp gescheitert und wird ebenfalls von seinem Amt als Parteivorsitzender zurücktreten. Labour’s klares Bekenntnis zu Europa ist der Partei teuer zu stehen gekommen. Ed Miliband ist mit seiner frühen Zurückweisung von Forderungen nach einem EU-Referendum große Risiken eingegangen. Während die Tories ihre Wähler mit der Aussicht auf das Referendum binden konnten, haben sich offenbar vor allem im ländlichen Raum viele traditionelle Labour-Wähler der UKIP zugewandt, was dann insbesondere in solchen Bezirken, in denen Labour und Tories traditionell Kopf an Kopf liegen (marginal seats), verheerende Auswirkungen für Labour hatte. Das hat natürlich nicht nur mit der Divergenz zwischen Labour’s moderatem Internationalismus und der Gefühlswelt vieler Arbeiterfamilien, wo Europa in erster Linie als Bedrohung empfunden wird, zu tun. Auch der gesellschaftspolitische Konservatismus der UKIP dürfte die Wünsche von Labour’s ländlicher Kernwählerschaft angesprochen haben. Letztendlich muss man also feststellen: Entgegen allen Erwartungen hat das Erstarken der UKIP Labour sehr viel mehr geschadet als den Tories.
Enttäuschend dürfte das Resultat für all jene sein, die in den vergangenen viereinhalb Jahren verfolgt haben, wie Ed Miliband die Labour Party von ihrer neoliberalen Profillosigkeit der Blair/Brown-Jahre zu sozialdemokratischen Kernanliegen zurückgeführt und zugleich eine Modernisierung der innerparteilichen Organisation eingeleitet hat. Offenkundig konnte Miliband die Wählerschaft nicht davon überzeugen, dass sich seine Partei von den Fehlern der New Labour-Ära emanzipiert hat. Aber vielleicht liegen die Dinge auch ganz anders: Allein schon die Schmähkampagnen der einflussreichen rechten Boulevardblätter gegen Miliband, die jedes bislang gekannte Maß überschritten haben – die Beschimpfung seines Vaters, des berühmten marxistischen Politologen Ralph Miliband, als Vaterlandsverräter durch die Daily Mail war nur die Spitze des Eisbergs –, konnten einem in den vergangenen Jahren einen Eindruck davon vermitteln, wie schwierig es heute in Großbritannien ist, progressive Politik zu machen. Miliband hat diesen Versuch trotzdem unternommen. Auch wenn zu Recht kritisiert wurde, dass Labour gerade in der Einwanderungspolitik viel zu sehr auf die Angstkampagnen der Tories eingeschwenkt ist, hat er doch eine Reihe richtiger, aber weithin unpopulärer Maßstäbe gesetzt. Das gilt vor allem für ein Umdenken im Bereich der Sozialpolitik. „[A] focus only on equality of opportunity cannot be enough for progressive social democrats in the early twenty-first century“, hatte Miliband bereits während seiner Zeit als einfacher backbencher, im Jahr 2005 in einem von Anthony Giddens mit herausgegebenen Sammelband gegen das von New Labour vernachlässigte Ziel der materiellen Gleichheit (equality of outcome) eingewendet.[2] Entsprechend hat Miliband der Kahlschlagpolitik der konservativ-liberalen Koalition ein erstaunlich offenes Plädoyer für mehr Umverteilung entgegen gestellt. Während in der Zeit von New Labour neue Steuern als ein No-Go galten, hat Labour u.a. die Einführung einer Villensteuer und die Wiederanhebung des Spitzensteuersatzes in Aussicht gestellt. Zudem soll eine Erhöhung des Mindestlohns, eine Senkung der Studiengebühren auf höchstens sechstausend Pfund, eine strengere Regulierung der Banken durchgesetzt und mehr Geld für den National Health Service (NHS) bereitgestellt werden. Für britische Verhältnisse sind solche Forderungen durchaus mutig.
Kaum jemand bei den Sozialdemokraten dürfte noch vor einem Jahr geahnt haben, dass ihr Hauptproblem bei dieser Wahl nicht etwa das seit 2010 ununterbrochen beschworene Imageproblem ihres Vorsitzenden Ed Miliband oder die mangelnde wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit der Partei als Folge der Finanzkrise, für die nach wie vor die Regierung Brown verantwortlich gemacht wird, sondern ein Aufblühen des schottischen Nationalismus sein würde. Gegen solche unvorhersehbaren Eruptionen der politischen Landschaft konnte auch die Verpflichtung des ehemaligen Obama-Wahlkampfleiters David Axelrod und die größte Graswurzel-Kampagne in der Geschichte der Labour Party nichts mehr ausrichten. Das Wahlergebnis – der Erdrutschsieg der SNP, die bislang sechs Unterhaussitze hatte und nun 56 der 59 schottischen Wahlkreise gewinnen konnte – lässt sich natürlich nicht ohne die immer noch nachwirkende Euphorie, die das Unabhängigkeitsreferendum vom vergangenen September in Schottland ausgelöst hat, verstehen. Die SNP hat es in den vergangenen Jahren geschafft, sich als eine sozialdemokratische Alternative zu Labour zu präsentieren. Als Regierungspartei hat sie in Schottland u.a. die Studiengebühren abgeschafft und den Ausbau der erneuerbaren Energien vorangetrieben. Aber aufgrund ihres Eintretens für schottische Interessen verfügt sie natürlich über ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber der Labour Party, welche nun eine ihrer bislang sichersten Hochburgen wohl dauerhaft verloren hat.
Wahrscheinlich wird Labour nach dem Rücktritt Milibands wieder nach rechts rücken, um im gegenwärtigen, veränderungsresistenten Meinungsklima überleben zu können. Eine der Ursachen der Wahlniederlage ist ja, dass das abstruse Narrativ der Tories, wonach eine angebliche Big-Spending-Politik der Blair/Brown-Administration und nicht etwa die Deregulierung der Finanzmärkte die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ausgelöst habe, in der öffentlichen Meinung weithin verfangen hat. Dank der erstaunlich raschen Erholung der britischen Wirtschaft seit dem vergangenen Jahr konnten die Tories ihre eingängige Botschaft streuen, dass eine Stimme für Labour den hart errungenen Konsolidierungskurs gefährden würde. Aber die Schattenseiten dieses mit der Axt verordneten Sparprogramms sind offensichtlich: Die Regierung Cameron hat zu verantworten, dass heute eine Million Briten auf Tafeln angewiesen sind und 700.000 Menschen auf der Basis von Nullstunden-Verträgen arbeiten. Sie hat eine Politik der sozialen Spaltung betrieben – man denke nur an die Teilprivatisierung des NHS, die Erhöhung der Studiengebühren, die Einführung von privat verwalteten „free schools“, die Streichung von mehreren hunderttausend Stellen im öffentlichen Sektor und die Senkung des Spitzensteuersatzes von fünfzig auf 45 Prozent. Die Briten hatten gestern die Chance, einen anderen Kurs zu wählen. Stattdessen haben sie den Tories zum ersten Mal nach 1997 wieder eine absolute Mehrheit verschafft – und die Armen, Ohnmächtigen und Kranken im Land müssen sich auf fünf weitere harte Jahre einstellen.
Danny Michelsen ist Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Demokratieforschung.
[1] Patrick Wintour/Rowena Mason: David Cameron on track to remain PM after electoral triumph, in: theguardian.com, 8.5.2015, URL: http://www.theguardian.com/politics/2015/may/07/exit-poll-conservatives-win-david-cameron-general-election-labour [eingesehen am 8.5.2015].
[2] Ed Miliband: Does inequality matter?, in: Anthony Giddens/Patrick Diamond (Hrsg.): The new egalitarianism. Cambridge 2005, S. 39-51, hier S. 47.